Jette Waldinger-Thiering: Das Signal für eine lückenlose Aufklärung muss vom Landtag ausgehen
Presseinformation Kiel, den 11. Mai 2023Es gilt das gesprochene WortJette Waldinger-Thiering TOP 17 Rolle der Finanzbehörden bei der Entrechtung Drs. 20/811(neu)„Das ist eine bittere Erkenntnis: wie schnell sich staatliche Organe vor denKarren nationalsozialistischer Politik spannen ließen. Das bürokratische Systementfaltete in der NS-Herrschaft ein enormes Verfolgungspotenzial unter demDeckmantel einer unbestechlichen und ideologisch unverdächtigenVerwaltung.“Ob Zoll, Finanzdirektionen oder Finanzämter, die gesamte Finanzverwaltung reihte sich nur allzu willig in den nationalsozialistischen Unterdrückungsapparat ein. Viele so genannte Staatsdiener inden Finanzbehörden warteten nicht einmal auf die entsprechende gesetzliche Grundlage, sondern drangsalierten Jüdinnen und Juden, Sintize und Sinti sowie Romnja und Roma mit steuerlicher Diskriminierung, willkürlichen Betriebs-Prüfungen, Devisenbesteuerung, überhöhten Gebührenund nicht zuletzt durch staatliche Enteignungen. Über den Weg der Enteignung sollten die Vermögenswerte möglichst vollständig umgeleitet werden. Die Forschung spricht von einer umfassenden staatlichen Ausplünderung, um fiskalische und ökonomische Interessen des NS-Staates zu bedienen. Es ging schließlich um erhebliche Vermögenswerte deutscher Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, über deren Verteilung unverhohlen zwischen Parteiorganisationen und Staat gerungen wurde. Jeder beanspruchte dabei ein Stück vom Kuchen ( ( 2für sich, um sich privat zu bereichern oder um Staat und Partei mehr finanzielle Mittel in die Hand zu geben. Ziel war nichts weniger als der sogenannte Finanztod im Namen der NS-Rassenpolitik, also dieWegnahme aller Werte. Das war eindeutig die Vorstufe vor der physischen Vernichtung dieser Menschen ein paar Jahre später. Das ist eine bittere Erkenntnis: wie schnell sich staatliche Organe vor den Karrennationalsozialistischer Politik spannen ließen. Das bürokratische System entfaltete in der NS- Herrschaft ein enormes Verfolgungspotenzial unter dem Deckmantel einer unbestechlichen und ideologisch unverdächtigen Verwaltung. Sondergesetze führten beispielsweise 1938 eineSteuerklasse nur für Jüdinnen und Juden ein, um deren höherer Besteuerung auf eine vermeintlich objektive, gesetzliche Grundlage zu stellen. Diese institutionelle Diskriminierung hörte nicht mit Kriegsende auf, sondern wurde speziell in den Polizeibehörden gegenüber den Sinti und Roma fastbruchlos fortgesetzt. Letzteres ist unter anderem am Beispiel Flensburgs sehr gut erforscht und dokumentiert. Doch, was fehlt, ist die schleswig-holsteinischer Forschung in Sachen Finanzbehörden und deren Kontinuität.Erst seit den 1990 Jahren werden nach und nach die Forschungslücken in diesem Feld geschlossen. Seit 2009 wurde in einem internationalen Forschungsverbund das Reichsfinanzministerium untersucht; einzelne Länder folgten. Baden-Württemberg und Bremen haben bereits Ergebnissevorgelegt. Schleswig-Holstein tut gut daran, sich dort einzureichen. Der Landtag hat wegweisende Forschung zur eigenen Verflechtung in den nationalsozialistischenUnrechtsstaat ermöglicht. Darum sollten wir mutig den zweiten Schritt gehen. Das Signal für eine lückenlose Aufklärung muss vom Landtag ausgehen, denn eine Erforschung ist auch ein klares minderheitenpolitisches Statement. Wenn wir Verfolgung und Kontinuität aufdecken, ist das eine Anerkennung des Leids der Opfer.Hinweis: Diese Rede kann hier ab dem folgenden Tag als Video abgerufen werden: http://www.landtag.ltsh.de/aktuelles/mediathek/