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22.02.23
11:08 Uhr
SPD

Niclas Dürbrook zur Aktuellen Stunde: Es gibt keine einfachen Antworten

Heimo Zwischenberger Pressesprecher der SPD-Landtagsfraktion
Adresse Düsternbrooker Weg 70, 24105 Kiel Telefon 0431 988 1305 Telefax 0431 988 1308 E-Mail h.zwischenberger@spd.ltsh.de Webseite www.spd-fraktion-sh.de Es gilt das gesprochene Wort!

Hinweis: Diese Rede kann hier als Video abgerufen werden: http://www.landtag.ltsh.de/aktuelles/mediathek

LANDTAGSREDE – 22. Februar 2023
Niclas Dürbrook: Es gibt keine einfachen Antworten Top 1: Aktuelle Stunde zu "Lehren aus dem Fall Brokstedt: Behördenkommunikation verbessern und ein konsequentes Rückführungsmanagement etablieren" (Drs. 20/739)
„Viele tausend Pendlerinnen und Pendler sind jeden Tag mit dem Zug zwischen Kiel und Hamburg unterwegs. Vermutlich jeder von uns kennt jemanden, der die Verbindung oft nutzt, vielleicht sind einige von uns sogar selbst regelmäßig dort unterwegs. Die Betroffenheit im ganzen Land in den vergangenen vier Wochen ist Ausdruck davon.
Zwei getötete junge Menschen. Fünf Verletzte. Viele, die mit der Erinnerung leben müssen. Das ist die Bilanz der schrecklichen Tat von Brokstedt. Uns alle eint, dass wir mit den betroffenen Familien trauern, den Verletzten schnelle Genesung wünschen. Und denen, die diese Tat miterlebt haben die bestmögliche Unterstützung und Betreuung garantieren wollen. Unser besonderer Dank gilt den Einsatzkräften für den professionellen und sicherlich extrem belastenden Einsatz.
Es ist nicht nur ein politischer Reflex, sondern zutiefst menschlich, dass bereits ganz kurz nach der Tat zwei Fragen im Raum standen: Wer ist schuld? Und: Hätte man diese Tat verhindern können? Die erste Frage ist vergleichsweise leicht zu beantworten: Schuld ist der Täter. Niemand hat dem Täter ein Messer in die Hand gedrückt, niemand ihn zur Tat gezwungen, niemand mutwillig das was passiert ist in Kauf genommen. Wir sprechen hier nicht über einen Unfall in Folge von menschlichem Versagen, sondern über ein Verbrechen mit ganz klarer Verantwortlichkeit, vollkommen unabhängig davon, was zuvor passiert ist. Diese Unterscheidung ist mir nach den letzten vier Wochen heute noch einmal wichtig.
Die zweite Frage ist sehr viel komplexer: Hätte die Tat sich verhindern lassen? Ich will mein Fazit vorwegnehmen: Keiner der Punkte, über den wir in den letzten Wochen in einer ganzen Reihe von Ausschüssen gesprochen haben, der Teil der breiten Medienberichterstattung war,


1 oder der im 10-Punkte-Papier der Koalitionsfraktionen stand, scheint mir die Stellschraube zu sein, mit der die Tat verlässlich verhindert worden wäre.
Und trotzdem gibt es nach heutigem Stand eine ganze Reihe von Pannen, die man genau anschauen muss, weil man sie natürlich nicht einfach hinnehmen darf. 1. In NRW hat man 2016 versäumt mindestens eine Straftat an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu melden, die man hätte melden müssen. Wäre das passiert hätte Ibrahim A. vermutlich nie den subsidiären Schutzstatus erhalten. 2. Als nach dem Umzug nach Schleswig-Holstein 2021 in Kiel die Meldung unverzüglich nachgeholt wurde, dauerte es vier Monate bis das BamF das erste mal versuchte Ibrahim A. für eine Anhörung zu erreichen – zu spät, kurz danach bekam er Hausverbot in der Kieler Gemeinschaftsunterkunft und war nicht mehr zu erreichen. 3. Der große Komplex der Informationspflicht von Hamburg rund um die U-Haft im Jahr 2022, nachdem der Beschuldigte vor einer Essensausgabe einen Messerangriff verübte. Fest steht, dass Hamburg die Kieler Ausländerbehörde zumindest nicht so informiert hat, wie es vorgeschrieben und erst recht wünschenswert gewesen wäre. 4. Die Frage der Entlassung aus der U-Haft von einem Beschuldigten, der die gesamte Haftdauer über auffällig war, der in Behandlung war, dessen Drogensucht man kannte und der dennoch direkt nach der Haft wieder vom Radar verschwand. 5. Die Frage der nicht gelesenen oder zur Kenntnis genommenen Mails in Kiel. Auch hier hätte ich mir einen anderen Umgang mit der sensiblen Thematik gewünscht.
Der größte Teil dieser Versäumnisse sind Kommunikationspannen. Man muss ohne Zweifel die bisherigen Meldewege auf den Prüfstand stellen, einen ersten Vorschlag für die Pflicht- Mitteilungen hat die Bundesregierung gemacht. Das Kernproblem bei dieser Kommunikation sind aber nicht die Meldewege. Sondern eine Kultur der Nicht-Zuständigkeit. Und diese Kultur ist am Ende nach meiner festen Überzeugung die Folge von Überlastung und fehlenden Ressourcen in den einzelnen Behörden. Das ist die eigentliche politische Aufgabe mit Blick auf die Kommunikationspannen. Das ist das, worum wir uns als Politik kümmern müssen. Der Staat muss mit all seinen Behörden, egal ob auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene so aufgestellt sein, dass er seinen Aufgaben zu 100 Prozent nachkommen kann.
Jedem von uns ist in den letzten Wochen die Frage begegnet: Warum ist so jemand noch hier? Und das ist natürlich eine berechtigte Frage aber die Antwort ist komplex. Und eins alleine löst das Problem nicht: nämlich ein rhetorischer Überbietungswettbewerb. Wir hatten 16 Jahre lang Innenminister der Union im Bund, die genau das gemacht haben. Ich könnte eine ganze Rede



2 mit Zitaten von Horst Seehofer bestreiten. Aber einer Lösung sind wir dabei kaum einen Schritt näher gekommen. Uns begegnet als Abgeordneten doch immer wieder dasselbe Problem: Wir schieben ganz oft offensichtlich die falschen ab. Nämlich diejenigen, die man gut zu fassen bekommt, weil sie integriert sind. Für viele dieser Menschen bringt das neue Chancenaufenthaltsrecht endlich einen Weg zum dauerhaften und sicheren Aufenthalt. Ein echter Erfolg der Ampel-Koalition! Aber wir versagen auf der anderen Seite regelmäßig bei denen, die man lieber heute als morgen zurückschicken würde, weil sie straffällig geworden sind. Und besonders kompliziert wird es bei staatenlosen Menschen. Man kann etwas tun bei denjenigen, die nicht wirklich staatenlos sind. Indem man in Kooperation mit dem Herkunftsland die Identität feststellt und die Menschen dann abschiebt. Genau dafür bereitet die Ampel-Koalition den Weg. Aber viel schwieriger ist es bei Menschen, die tatsächlich staatenlos sind. Kein anderer Staat ist verpflichtet, diese Menschen aufzunehmen. Und auch wenn es unangenehm ist: Bei Menschen die seit einem knappen Jahrzehnt in Deutschland sind, häufig ein großer Teil ihres Lebens, versteht man doch auch, dass sich kein anderer Staat zuständig fühlt. Diese Menschen sind hier straffällig geworden und nicht irgendwo anders. Soviel Differenzierung muss die Debatte vertragen.
Ein Punkt kam in den letzten Wochen kaum vor, dabei ist er aus meiner Sicht mit Blick auf die Tat viel entscheidender als die Behördenkommunikation oder die Frage von hypothetisch möglichen Abschiebungen. Ibrahim A. war als Provokateur bekannt. Er schlug über die Stränge. Beging Straftaten. Holte im Zweifel das Messer raus. Flog aus der Gemeinschaftsunterkunft in der Arkonastraße. Ganz ähnlich der Eindruck in der Hamburger U-Haft. Ein „furchtbar anstrengender Gefangener“ sei Ibrahim A. gewesen, wurde uns im Innenausschuss vom Justiz-Staatsrat berichtet. Und der Blick in die aktuelle Zeitschrift der GdP-Regionalgruppe Justizvollzug zeigt: Beschimpfungen und Bedrohungen durch Ibrahim A. sind auch in der JVA Neumünster an der Tagesordnung. Zitat: „Ibrahim A. erscheint aktuell nicht einschätzbar und stellt gleichzeitig durch sein Verhalten eine erhebliche Bedrohung für die vor Ort eingesetzten Kolleginnen und Kollegen dar.“
Wer sich mit Menschen unterhält, die in einer Gemeinschaftsunterkunft arbeiten erfährt: Ibrahim A. ist ein krasser Fall, aber er ist eben kein absoluter Einzelfall. Psychisch auffällig und potentiell gewaltbereite Menschen gibt es in den Einrichtungen immer wieder – bei einigen von ihnen eskaliert die Lage bis zum Hausverbot. Das ist in der Situation verständlich und aus Sicht der Einrichtung alternativlos – nicht zuletzt zum Schutz der anderen Bewohner.



3 Aber es ist eben auch ein großes Problem. Denn in dem Moment verliert man diese Menschen komplett aus dem Blick. Kein System kann mehr greifen. Angefangen von Briefen vom BamF bis hin zu psychosozialer Unterstützung. Die Leute verschwinden vom Radar. Und um nicht falsch verstanden zu werden: Es geht nicht um die Methode Samthandschuhe. Wer mit dem Messer rumfuchtelt oder gewalttätig wird, der muss die Konsequenzen spüren. Aber der Weg in die Obdachlosigkeit ist grade bei solchen Menschen schon aus Sicherheitsgründen denkbar falsch.
Und das ist kein Kieler Problem, sondern eins für das ganze Land. Ich glaube, dass wir eine landesweite Strategie für den Umgang mit Menschen brauchen, die das System derart sprengen. Zum Beispiel in dem die Alternative zum Hausverbot der Umzug in eine kleinere Einrichtung mit ganz anderem Betreuungsschlüssel ist, in der man den Menschen auf die Finger schauen kann. Oder indem grade in diesen Fällen die psycho-soziale Unterstützung priorisiert wird. Oder auch indem die Pädagog*innen vor Ort eine Handreichung und Unterstützung für den Umgang bekommen – unbedingt in enger Abstimmung mit der Polizei. Und natürlich darf eine solche Strategie auch nicht an der Landesgrenze enden. Es wird auch in Schleswig-Holstein viel Energie in die Abschiebung von Familien investiert. Mein Eindruck ist: Hier würde diese Energie sehr viel dringender gebraucht.
Wenn wir heute über Lehren aus diesem Fall sprechen muss doch unser oberstes Ziel sein, dass wir das Risiko für eine solche Tat so weit wie möglich senken. Das scheint mir ein echter Ansatzpunkt dafür zu sein.
Ich glaube, dass wir mit Blick auf die letzten vier Wochen auch ein wenig selbstkritisch sein müssen. Einige waren schnell dabei ein Fazit zu ziehen und politische Verantwortlichkeiten zu benennen – nach Möglichkeit allein im Nachbarbundesland. Das war nicht angemessen. Und es war auch in der Sache falsch, wenn man sich die Vielzahl an Pannen anschaut. Aber vielleicht ist es für uns alle eine Erinnerung, wie entscheidend Differenzierung und beide Seiten einer Medaille grade bei einem so schwierigen Thema sind.“



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