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23.03.22
11:51 Uhr
B 90/Grüne

von Kalben zum Krieg gegen die Ukraine

Presseinformation

Landtagsfraktion Schleswig-Holstein Es gilt das gesprochene Wort! Pressesprecherin Claudia Jacob TOP 1+40 – Regierungserklärung zu „Auswirkungen des Landeshaus Krieges in der Ukraine auf Schleswig-Holstein; Düsternbrooker Weg 70 Der Bundeswehr den Rücken stärken 24105 Kiel
Zentrale: 0431 / 988 – 1500 Dazu sagt die Vorsitzende der Durchwahl: 0431 / 988 - 1503 Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Mobil: 0172 / 541 83 53
presse@gruene.ltsh.de Eka von Kalben: www.sh-gruene-fraktion.de
Nr. 072.22 / 23.03.2022


Frieden ist die einzige Möglichkeit
Sehr geehrte Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren,
vor einem Monat haben wir unsere Landtagssitzung wegen des Ausbruches des Krie- ges unterbrochen. Trotz der Drohkulisse, die Putin über Wochen aufbaute, konnten und wollten wir uns nicht vorstellen, was heute Realität ist: Menschen werden von russischen Bomben und Raketen getötet. In Krankenwagen von Heckenschützen beschossen. Menschen machen sich auf die Flucht vor dem Krieg. Menschen können in den einge- schlossenen Orten nicht versorgt werden. Nicht mit Nahrung. Nicht mit Medizin. Nicht mit Wasser.
Und wir fühlen uns hilflos. Wir wollen, dass irgendjemand Putin stoppt. Wir können und wollen nicht akzeptieren, dass der Aggressor der Sieger ist. Dies ist Putins Krieg. Er ist der Kriegsverbrecher und es gibt keine Begründung für das Leid, dass er der Ukraine und seiner Bevölkerung antut. Es darf keine Relativierung für dieses Unrecht geben. Putin darf nicht Recht bekommen.
Das erste Mal seit vielen Jahren fühlen auch wir uns bedroht und sind in großer Sorge, wo all dies hinführen soll. Eine Beteiligung der NATO wird nicht mehr von allen ausge- schlossen. Aber: Ein solch eskalierter Krieg muss unter allen Umständen verhindert werden. Ein solcher Krieg hätte keine Gewinner. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit vor 40 Jahren. Das war die Zeit, als in Deutschland Atomwaffen stationiert wurden. In der Hoffnung, dass die atomare Abschreckung Frieden garantieren würde. Das hat vie- len Menschen Angst gemacht, mir auch.
Weil das nur funktioniert, wenn diejenigen, die Zugriff zu den Waffen haben, rational handeln. Dass sie einen Einsatz nicht wagen, weil das Risiko zu hoch ist. Aber immer wieder erleben wir, dass nicht alle Präsidenten kalkulierbar handeln und Putin ist da der Seite 1 von 4 traurige Höhepunkt. Die Diskussion, die wir heute über die Erfolge oder Misserfolge der Abschreckungspolitik führen, ähnelt doch sehr den Debatten der damaligen Zeit.
Aber ich frage mich, ob die Jahre seit 1945 wirklich ein Beleg für eine erfolgreiche Frie- denspolitik waren, weil es keinen heißen Krieg zwischen der NATO und Russland gab, oder ob nicht die jetzige Situation in der Ukraine genauso zeigt, dass die Abschreckung nicht ausreichend wirkt? Putin nicht abgeschreckt hat? Was wäre denn heute für die Menschen in der Ukraine anders, wenn unsere Bundeswehr wehrhafter wäre und un- sere Raketen strategischer? Wäre die Ukraine dann nicht überfallen worden?
Verstehen sie mich nicht falsch. Ich unterstütze die Entscheidung, die Bundeswehr an- gemessen auszustatten. Eine Bundeswehr, die sich nicht wehren kann, brauchen wir nicht. Eine Bundeswehr, die ihre Soldat*innen nicht so ausrüstet, dass sie bestmöglich geschützt sind, ist inakzeptabel.
Aber, meine Damen und Herren, für eine sichere Welt, für ein sicheres Deutschland, braucht es eben mehr als Kampfhubschrauber oder Drohnen. Dafür braucht es auch Entwicklungsarbeit, um in der Welt demokratische Kräfte zu stärken. Auch und gerade in Russland. Dafür braucht es auch Klimaschutz, damit die Anlässe für Kriege nicht wei- ter zunehmen, weil die Ressourcen für das Überleben zum Kriegsgegenstand werden. Dafür braucht es auch mehr Cybersicherheit. Das Internet ist eine Kriegsplattform, die ganz ohne Panzer und Gewehre lebensbedrohlich sein kann.
Aber was können wir tun? Ja, ich weiß, dass viele sich noch schärfere Sanktionen gegen Russland wünschen. Ich kann diese Stimmen verstehen. Ich kann verstehen, dass bei den Bildern die wir in den Nachrichten sehen Frust und Wut entstehen, dass die Emoti- onen hochkochen. Das geht mir ganz genauso. Das einzige wirkliche Druckmittel, das wir haben, sind Sanktionen gegen Russland. Also sollten wir diese möglichst hart ma- chen. Aber so einfach ist es leider nicht. Vielleicht in der Theorie, aber nicht in der Praxis.
Zum Beispiel, wenn gefordert wird, dass die Bundesregierung sämtliche Energieliefe- rungen aus Russland sofort stoppt. Klingt theoretisch erstmal gut, praktisch ist es aber nicht ganz so einfach. Weil Deutschland leider noch nicht unabhängig ist von russischer Energie. Ein sofortiges Embargo wäre ein Schnellschuss – ein Embargo, das wir nicht lange durchhalten könnten. Zum einen wollen wir Putin und weiteren russischen Oligar- chen möglichst stark schaden, um ein Druckmittel zu haben. Zum anderen haben all diese Sanktionen gleichzeitig auch gravierende Auswirkungen auf Deutschland. Gravie- rend, weil wir eben noch nicht unabhängig von fossilen Energien sind.
Deshalb muss nun ausgerechnet Robert Habeck entgegen seinen persönlichen Über- zeugungen von seinem Ministerium die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwer- ken prüfen lassen und mit Katar über Gaslieferungen verhandeln. Für die Energiesi- cherheit sorgen, den Klimawandel bekämpfen und die Energiedollar für Putins Krieg stoppen. Eine unglaublich schwierige Aufgabe, um die ich ihn nicht beneide und höchs- ten Respekt habe. Hätten alle Parteien in Deutschland das Thema Klimaschutz früher ernst genommen und nicht als Öko-Spinnerei abgetan, wären wir bereits unabhängig von russischem Gas. Und auch von Öl aus Staaten wie Katar, die wir aufgrund der dort stattfinden Menschenrechtsverletzungen eigentlich ebenfalls sanktionieren müssten.
Und, liebe Jamaika-Kolleg*innen, die Vorstellung, wir könnten jetzt auf die Veränderung in der Landwirtschaft verzichten und damit die nächste Krise – die der Artensterbens und des Klimawandels – verschärfen, ist total kurzsichtig. Dann sitzen wir oder andere Generationen in 20 Jahren hier und bedauern, dass nichts passiert ist. So wie wir es 2 jetzt bedauern, dass wir nicht unabhängig von fossilen Energien sind. Das ist doch nicht weitsichtig.
Und im Übrigen ist der Anteil, den wir in Schleswig-Holstein durch extensivere Landwirt- schaft für die Welternährung schaffen würden, deutlich kleiner als wenn wir uns mal Gedanken darüber machen würden, wie wir die Verschwendung von Lebensmitteln be- kämpfen. Das Ziel der Landwirtschaft muss die Ernährung der Menschen und weniger die der Tiere sein.
Meine Damen und Herren, ja, Deutschland wird Wirtschaftseinbußen haben. Die Sank- tionen werden sich auch auf unser Leben auswirken. Deutschland ist ein wohlhabendes Land. Für viele Menschen hier ist es durchaus machbar, den Gürtel enger zu schnallen. Es gibt aber auch sehr viele Menschen in Deutschland, die steigende Energie- und Le- bensmittelpreise extrem hart treffen, weil sie sowieso schon jeden Cent zweimal umdre- hen müssen.
Im Zuge der Corona-Pandemie und der entsprechenden Maßnahmen hat sich dieser Anteil an der Bevölkerung noch vergrößert. Wichtig ist deshalb, dass es Entlastungen gibt. Aber nicht nach dem Gießkannenprinzip, sondern so zielgerichtet und sozial wie möglich. Unsere Solidarität mit der Ukraine wird sich dann beweisen, wenn wir die Sank- tionen durchziehen, auch wenn es uns weh tut.
Meine Damen und Herren, wir werden heute noch auf viele konkrete Aspekte eingehen, was dieser Krieg für uns in Schleswig-Holstein bedeutet: Die Situation der Geflüchteten, die besondere Betroffenheit für Kinder, die wirtschaftlichen Folgen, die energiepoliti- schen Folgen, die Folgen für die Landwirtschaft, und nicht zuletzt für unsere Finanzen, unseren Haushalt. Alle diese Punkte eint eines: Die Herausforderungen sind so groß, dass sie drohen, uns zu ersticken. Das wäre aber dann der maximale Gewinn für Putin. Und das will ich nicht hinnehmen.
Deshalb möchte ich trotz aller Herausforderungen, die auch mir manchmal die Stimme rauben oder gefühlt den Boden unter den Füßen wegreißen, auch das erwähnen, was Mut macht:
Da ist eine Nation, die kämpft mit aller Kraft für Demokratie und Freiheit. Sie mobilisiert alle Kräfte. Wie David gegen Goliath kommt es uns vor. Und wir wissen, wer bei dem Kampf gewonnen hat. Wer es nicht weiß: Es war der kleine, kluge David mit der Stein- schleuder, der gegen den Riesen Goliath den Kampf gewann. Dieser Kampf ist mit viel Nationalismus verbunden, das sehen wir. Und es ist auch verständlich, wenn es darum geht, die eigene Souveränität zu verteidigen. Aber gerade Präsident Selenskyj betont auch immer wieder, dass es ein Kampf für europäische Werte ist. Und das ist großartig.
Wir erleben ein Europa, das zusammenrückt, das Entscheidungen fällt. Nicht immer Entscheidungen, die allen gefallen, aber auch das ist Demokratie. Es ist gut, dass die europäischen Staaten in dieser schweren Zeit zusammenrücken, dass das Wir-Gefühl wieder stärker wird, dass wir solidarisch sind, dass der Europäische Gedanke wieder stärker wird. 2012 hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis bekommen: für die Verbreitung von Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte. Diese ge- meinsamen Werte gilt es ganz besonders in dieser Zeit zu verteidigen und zu stärken.
Und wir erleben ein Europa, das Flüchtlingen hilft – auch und gerade im östlichen Eu- ropa. Natürlich, ich bin nicht blind: Hier wird extrem selektiert, wem man Hilfe geben will und wem nicht. Aber zuallererst ist es auch eine gute Nachricht, wie solidarisch die 3 Menschen sind. Gerade in Schleswig-Holstein. Menschen, die Geflüchtete bei sich zu- hause aufnehmen, Menschen, die versuchen, Hilfsgüter in die Ukraine zu bringen und sich dabei teilweise selbst in Gefahr bringen.
Und schließlich: Es gibt Menschen, die sich gegen den Krieg wehren, in Russland und in Belarus. Eine mutige Reporterin, die in einer Nachrichtensendung ein Schild hochhält, Bahnarbeiter*innen in Belarus, die die Schienen lahmlegen, um den Transport von rus- sischem Nachschub abzuschneiden und viele tausend Menschen, die in Sankt Peters- burg und weiteren Orten, trotz des Verbots und damit verbundener hohen Strafen, ge- gen den Krieg demonstrieren. Das alles sind die Dinge, die mir Hoffnung geben, auf die ich setze.
Die 26-jährige Dascha, die mit ihrem dreijährigen Sohn nach Deutschland geflohen ist, die ihre Eltern, ihre Großmutter und ihren Mann in Charkiw zurückgelassen hat, die je- den Morgen voller Sorge anruft, ob die nächtlichen Bomben ihre Lieben getroffen haben, sagte mir, sie habe Spaghetti im Kopf. Was bringt die Zukunft? Soll sie Deutsch lernen, um hier zu arbeiten? Will sie nicht lieber, dass der Krieg sehr schnell zu Ende ist? Und was wird dann sein? Soll sie ihre Mutter herholen, obwohl die Wagen beschossen wer- den? Ich kann ihr keine befriedigende Antwort geben, wie auch. Ich kann ihr nur Mut zusprechen und jeden Tag erneut dazu auffordern, nicht die Hoffnung zu verlieren. Denn das dürfen wir nicht.
Obama hat 2009 in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Friedensnobelpreises gesagt: „Die Abwesenheit von Hoffnung kann eine Gesellschaft von innen verwesen lassen.“ Goethe hat denselben Gedanken weniger grausam ausgedrückt: „Die Hoffnung hilft uns leben.“ In schwierigen, in furchtbaren, in herausfordernden Zeiten und Situatio- nen brauchen wir Hoffnung, um nicht aufzugeben, um weiterzumachen, um zumindest das in unserer Macht Stehende zu tun, um unser eigenes Leben und die Welt in eine positive Richtung zu lenken, um nicht zu resignieren, sondern zu agieren.
Die heutige Debatte bringt den Ukrainer*innen keine konkrete Hilfe, keine Nahrungsmit- tel, keine Sicherheit, keinen Frieden. Aber wir können den Menschen, die um ihre Lie- ben bangen, ein Zeichen der Solidarität geben, vielleicht auch ein Zeichen der Hoffnung.
Und wir können dafür sorgen, dass wir die Menschen in der Ukraine nicht wieder ver- gessen, wie wir es nach dem Einmarsch in die Krim getan haben. Wir können dafür sorgen, dass der Gesprächsfaden zwischen der Ukraine und Russland nicht abreißt. Auch bei den Menschen, die bei uns mit unterschiedlichen Wurzeln leben.
Und wir können den Geflüchteten, die aus der der Ukraine nach Schleswig-Holstein kommen, ein herzliches Willkommen geben. Und wir werden dabei keinen Unterschied machen, welcher Herkunft die Geflüchteten sind, welche Hautfarbe sie haben oder wel- cher Religion sie angehören.
Ich möchte mit einigen Worten enden, die die Stiftung Drachensee – eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung – in einfacher Sprache formuliert hat: Frieden ist wichtig. Frieden ist die einzige Möglichkeit. Die Ukraine braucht Frieden. Und unsere Freund- schaft. Und unsere Solidarität. Solidarität bedeutet: Wir stehen der Ukraine bei. Wir sind auf ihrer Seite. Wir sagen nein zu dem Krieg.
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