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20.05.21
15:33 Uhr
SPD

Dr. Ralf Stegner zu TOP 62: Die Aufarbeitung der Kontinuitäten bleibt unsere Verantwortung

Heimo Zwischenberger Pressesprecher der SPD-Landtagsfraktion
Adresse Düsternbrooker Weg 70, 24105 Kiel Telefon 0431 988 1305 Telefax 0431 988 1308 E-Mail h.zwischenberger@spd.ltsh.de Webseite www.spd-fraktion-sh.de Es gilt das gesprochene Wort!

Hinweis: Diese Rede kann hier als Video abgerufen werden: http://www.landtag.ltsh.de/aktuelles/mediathek

LANDTAGSREDE – 20. Mai 2021
Dr. Ralf Stegner: Die Aufarbeitung der Kontinuitäten bleibt unsere Verantwortung TOP 62: Folgestudie: Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität nach 1945 in der schleswig-holsteinischen Legislative und Exekutive (Drs. 19/684, 19/2953) „Bis 1933 war die deutsche Gesellschaft politisch, sozial und kulturell sehr pluralistisch. Sie war in viele soziale Milieus aufgespalten, die zum Teil miteinander kommunizierten und die sich zum Teil heftig bekämpften. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde diese Gesellschaft mit ungeheurer Geschwindigkeit neu formatiert zu dem antipluralistischen Modell, das im „Wörterbuch des Unmenschen“ als „Volksgemeinschaft“ Niederschlag fand. Jeder einzelne Deutsche musste dazu seine eigene Haltung finden. Und die Frage, ob man den Mut zum Nonkonformismus oder gar zum Widerstand hatte, schloss für die meisten auch die Frage ein, welchen Risiken man seine Familie aussetzen wollte und durfte. Die ganz große Mehrzahl der Deutschen ist nicht den Weg in den Widerstand oder ins Exil gegangen – den allermeisten Deutschen hätte es auch an Geld gefehlt, sich im Ausland eine neue Existenz aufzubauen. Der Druck, sich den neuen Verhältnissen anzupassen, war so effektiv, dass die Nazi-Partei ab dem 1. Mai 1933 eine Aufnahmesperre verhängte. Sie war allerdings so durchlässig, dass sich die Mitgliedszahlen trotz dieser Maßnahme allein von Januar 1933 bis Januar 1935 auf 2,5 Millionen fast verdreifachten. Dieses plötzliche Interesse an einer Parteimitgliedschaft zeigten Menschen aus allen politischen Lagern, und es bezog auch die zahlreichen Nebenorganisationen der NSDAP ein.
Nach Kriegsende wurde die deutsche Gesellschaft wieder neu formatiert, diesmal mit zwei verschiedenen Blaupausen. Beide Modelle standen vor der Frage, wie mit den Mitgliedern einer Partei, die zuletzt fast acht Millionen Menschen organisiert hatte, und den Mitgliedern ihrer Nebenorganisationen, die in unterschiedlichem Maße in die Regimeverbrechen verstrickt waren und die nicht alle eine Zwangsmitgliedschaft kannten, umgegangen werden solle. Es gehörte zu den Lebenslügen der DDR, die Verantwortung für diese Frage ausschließlich dem westdeutschen Staat zuzuweisen, obwohl sie selbst Recycling der ehemaligen Nationalsozialisten betrieb – und auch betreiben musste. Eine kollektive Bestrafung sämtlicher Parteimitglieder war unmöglich. Das Nürnberger Urteil von 1946 richtete sich gegen das Korps

1 der Politischen Leiter der NSDAP, das heißt alle Funktionsträger vom Kreisleiter aufwärts, aber nicht gegen die Mitglieder insgesamt. Diese mussten mit dem Makel leben, einem verbrecherischen Regime gedient zu haben, hatten aber darüber hinaus in völlig unterschiedlichem Maße persönliche Schuld auf sich geladen. Auch für die unbelehrbaren alten Nazis selbst stellte sich die Frage, wie man sich auf die neuen Bedingungen einstellen sollte. Das unmittelbare Interesse war natürlich, einer eventuellen Strafverfolgung durch deutsche Behörden oder gar einer Auslieferung an Länder, in denen sie ihre Verbrechen begangen hatten, zu vermeiden. Wir haben uns hier im Plenum und bei Veranstaltungen des Landtags mit dem besonders skandalösen Fall des SS-Generals Reinefarth auseinandergesetzt. Die wieder zugelassenen demokratischen Parteien dienten auch als vermeintlich sicheres Versteck. Wilhelm Schepmann, letzter Stabschef der SA, der unter falschen Namen 1945 in die SPD eintrat ist ein Beispiel dafür. Neben solchen nationalsozialistischen B-Promis gab es die taktisch weitaus geschickteren Networker, die als „Naumann-Kreis“ um den Goebbels- Staatssekretär Werner Naumann zeitweilig so erfolgreich dabei waren, Einfluss auf die FDP zu nehmen, dass erst das Einschreiten der britischen Behörden diesen Unterwanderungsversuch beendete. Die deutschen Behörden sahen sich dazu nicht aufgerufen.
Neben der strafrechtlichen Aufarbeitung stand die neue demokratische Gesellschaft vor der Herausforderung, beim Aufbau des neuen demokratischen Staates auf Menschen angewiesen zu sein, die im Herzen oftmals Demokratiefeinde waren. Denn ein vollständiger Verzicht auf das Expertenwissen von Menschen, die bis 1945 im öffentlichen Dienst gearbeitet hatten, wäre in einigen Bereichen faktisch unmöglich gewesen. Hätte man jede Lehrerin und jeden Lehrer, die die inhumane Pädagogik eines Ernst Krieck oder Alfred Baeumler verinnerlicht hatten, aus dem Schuldienst entfernt, wären wohl nahezu alle deutschen Schulen bis 1950 geschlossen worden. Auch die Universitäten und historischen Seminare waren vielerorts tief durchdrungen vom braunen Zeitgeist und personelle Kontinuitäten eher die Regel als die Ausnahme. Da verwundert es wenig, dass es lange dauerte, bis die kritische zeitgeschichtliche Aufarbeitung einsetzte. In Schleswig-Holstein war dafür 1992 die Gründung des damaligen Instituts für Zeit- und Regionalgeschichte ein Meilenstein. Die alleinige Zahl der ehemaligen NSDAP-Mitglieder macht deutlich, dass bei der Betrachtung von (Eliten-)Kontinuitäten Differenzierung entscheidend ist. Die jetzt vorgelegte Studie der heutigen Forschungs-stelle für regionale Zeitgeschichte und Public History beleuchtet schwerpunktmäßig Justiz und Verwaltung. Und sie zeigt fatale Kontinuitäten auf, die weit über den Herrschaftszeitraum des Nationalsozialismus hinausreichen. So hatten nur rund fünf Prozent der Juristen vor 1933 eine demokratische Orientierung, während 35 % ultrarechte Demokratiefeinde waren. Von den Übrigen weiß man es nicht genau. Die Studie zeigt, dass die Kontinuität in der Polizeiführung besonders niederschmetternd ist, wo über die Hälfte der Polizeioffiziere „exponiert nationalsozialistisch“ agiert hat. Es entbehrt nicht einer Tragik, dass dezidierte Nazigegner wie


2 der christdemokratische Justizminister Gottfried Kuhn und sein sozialdemokratischer Nachfolger Rudolf Katz im Sinne eines Neuanfanges Tür und Tor für die Rückkehr von Nazi- Juristen in die Justizverwaltung öffneten. Die wiederum kamen mit dreisten Lügen über ihr Wirken zwischen 1933 und 1945 ungeschoren davon oder konnten sich sogar als Nazigegner profilieren, obwohl reichlich Todesopfer ihren Weg säumten.
Es ist schade, dass wir in der heutigen Debatte nicht auf jeden Aspekt der Studie eingehen können. Besonders spannend sind auf jeden Fall die nachgewiesenen Kontinuitäten nicht nur im Verwaltungspersonal, sondern auch in den inhaltlichen Fragestellungen, die sich besonders im Bereich der Ur- und Frühgeschichte zeigten. Dieser Wissenschaftszweig war für die Nazis besonders zentral, weil man archäologische Befunde so interpretierte, dass sie zu den Befunden der sogenannten „Rassenkunde“ passten. Unter dem Schutz der Wissenschaftsinstitution der SS, dem „Ahnenerbe“, beteiligten sich Leute, die nach 1945 ihre wissenschaftliche Karriere fortsetzen konnten, am Raub von Kulturgütern und mittelbar oder unmittelbar an der Ermordung ihrer Besitzer.
Schleswig-Holstein gehörte früh zu den Hochburgen des Nationalsozialismus und war zum Ende und nach dem Krieg Rückzugsort für führende Nazis. Das sind zwei Gründe dafür, dass wir als Landtag eine besondere Verantwortung für die Aufarbeitung haben. Mit der heutigen Aussprache und der öffentlichen Präsentation der Studie zur Elitenkontinuität sollte dieser Prozess keinen Abschluss finden, sondern in eine neue Phase eintreten. Meine Fraktion möchte schon jetzt anregen, dass wir als Landtag auch in der kommenden Legislaturperiode ein weiteres Feld ausleuchten – das stünde uns gut zu Gesicht. Ein möglicher Ansatzpunkt dafür wäre das Gesundheitswesen mit so mancher unseligen Tradition vor allem im Bereich der Psychiatrie. Ich bedanke mich bei Prof. Danker und seinem Team für die vorgelegte Arbeit. Es ist jetzt Aufgabe von Politik und Verwaltung, sich mit den Befunden auseinanderzusetzen und sie in die gesellschaftliche Debatte einfließen zu lassen.“



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