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27.01.21
15:40 Uhr
SSW

Christian Dirschauer: Die Geduld der Menschen ist keine unendliche Ressource

Presseinformation
Kiel, den 27.1.2021



Es gilt das gesprochene Wort



Christian Dirschauer
TOP 25, 29, 41, 42 Bericht zur Umsetzung der Impfstrategie
Drs. 19/2707


„Es ist von sehr großer Bedeutung, dass Entscheidungsprozesse transparent
bleiben. Nur so können wir die anhaltend hohe Impfbereitschaft aufrecht
erhalten. Alle Anordnungen müssen nachvollziehbar und offen für die Expertise
von Verwaltung und Wissenschaft bleiben.“

In Flensburg gibt es eine Gruppe sehr engagierter eSports-Aktivistinnen und Aktivisten, die in den
ersten Tagen des Jahres auf einmal ein ganz neues Feld ihrer ehrenamtlichen Arbeit entdeckten:
sie haben für Ältere die Online-Buchung für die Impftermine übernommen. Vielerorts sind
Nachbarn, Familienangehörige und Freunde eingesprungen, um Menschen ohne Smartphone oder
Internetzugang einen Impftermin zu buchen.
Diesem Menschen gilt mein Dank. Sie machen das, was wir im Norden kennen: ohne viele Worte
helfen, wo Not an Mann ist.
Dass aber überhaupt solche Dienste nötig waren, wirft ein eher ungünstiges Licht auf das Gesamt-
Verfahren. Die Menschen in Schleswig-Holstein wollen die Pandemie aktiv bekämpfen. Sie 2

schränken sich seit Monaten ein und fiebern regelrecht der Impfung entgegen. Und dann der
Dämpfer. Einfach anrufen und Termin machen, ging nämlich nicht. Was im kommerziellen Bereich,
zum Beispiel beim Wacken-OpenAir, durchaus gewollt ist, nämlich der Verkauf von Tickets im
Handumdrehen, ist in gesundheitlichen Fragen, das Schlimmste, was passieren kann. So werden
nämlich Gesundheitsstrategien gestoppt und Impfwillige frustriert. Ich sehe das so: Der Staat
erwies sich Anfang des Jahres als nur bedingt handlungsfähig. Und das nicht zum ersten Mal in der
Pandemie. So zwingt der Lockdown die Menschen ins Homeoffice. Dort fehlen aber entsprechende
Geräte und Internetkapazitäten. Die Schulen werden geschlossen, aber die Internetportale holpern
vor sich hin. Und jetzt das: Das Tragen von bestimmten Masken wird vorgeschrieben, ohne dass
die entsprechenden Masken auch allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung gestellt werden.
Das frustriert; übrigens auch diejenigen, die an vorderster Front stehen. Die bekommen nämlich
den ganzen Stress ab. Ich möchte mir nicht ausmalen, was sich die Kolleginnen und Kollegen in
den Callcentern und in den Hotlines alles anhören mussten.
Darüber hinaus haben die Pharmaunternehmen in den letzten Tagen auch noch Lieferengpässe
angekündigt. Diese Nachricht kommt völlig unerwartet, nachdem die Unternehmen zunächst
vollmundig große Lieferungen angekündigt hatten. Auf diese Grundlage hatten sich die
Impfzentren verlassen. Ich konnte mich in Flensburg selbst davon überzeugen, dass mehrere
Impflinien problemlos organisiert werden können. Derzeit läuft aber nur eine Linie durch das Haus,
weil die gelieferten Impfdosen einen erheblichen Flaschenhals darstellen.
Also, wie wird es weitergehen?
Erstens: Zunächst einmal muss deutlich kommuniziert werden, dass die zweite Impfung für die
Impflinge der ersten Stunde garantiert ist. Ich würde mir wünschen, wenn das auch in den Medien
aufgegriffen werden würde.
Zweitens. Wir werden über Prioritäten entscheiden müssen. Welche Gruppen werden wir nach
dem Medizinischem Personal und den Älteren impfen können? Wie werden Angehörige in der
ambulanten Pflege versorgt; insbesondere in der Palliativpflege? Wie werden wir die Verfahren
regeln? Und es stellt sich auch die Frage, wie Personen erfasst werden, die nur schwer erreichbar 3

sind, wie zum Beispiel die Pflegekräfte aus Polen und Tschechien, die in ihrem Heimatland
gemeldet sind, aber hier arbeiten?
Jede dieser Fragen wirft wieder neue Fragen auf. Es ist also von sehr großer Bedeutung, dass
Entscheidungsprozesse transparent bleiben. Nur so können wir die anhaltend hohe
Impfbereitschaft aufrecht erhalten. Alle Anordnungen müssen nachvollziehbar und offen für die
Expertise von Verwaltung und Wissenschaft bleiben. Die Geduld der Menschen ist keine
unendliche Ressource. Aus diesem Grund begrüße ich es ausdrücklich, dass sich der Landtag Zeit
nimmt, diese Verfahren zu besprechen; auch und gerade in den Sondersitzungen. Die Expertise
und die unterschiedlichen regionalen Erfahrungen können die Abgeordneten auf diese Weise
direkt in den Prozess einspeisen. Vielen Dank auch für die kollegiale Arbeit im Ausschuss.
Umgekehrt fühle ich mich jederzeit gut informiert, so dass ich die Anfragen von Bürgerinnen und
Bürgern gut beantworten oder gegebenenfalls weiterleiten kann. Meiner Erfahrung nach ist eine
gute Kommunikation in Pandemiezeiten das A und O.
Drittens: Dass Menschen ihre Arbeit gut machen, ist für mich fast selbstverständlich. Dass sie gut
bezahlt werden, allerdings auch. Das Ehrenamt, zum Beispiel die freiwillige Feuerwehr und das
THW beim Aufbau der Impfzentren, ist inzwischen eine stabile Säule der Pandemie-Bekämpfung
geworden; gerade in der aktuellen Impfkampagne. Diese Leistungen sollten wir nach dem Ende
der Pandemie angemessen würdigen.
Viertens: Disziplin in der Debatte. Die Gespensterdiskussion darum, ob und wie die Geimpften von
Kontakt-Beschränkungen befreit werden, muss aufhören. Die Öffentlichkeit wird extrem
verunsichert von dem Chor derjenigen, die den dritten oder vierten Schritt vor dem ersten
diskutieren wollen. So vermittelt man den Eindruck, dass man nicht weiß, was eigentlich vor sich
geht.
Zunächst muss es jetzt darum gehen, dass die Inzidenzwerte sinken. Die Ansteckungsrate muss
runter. Die Prozentzahl der Geimpften muss schleunigst zweistellig werden und schnell wachsen.
Dann, aber auch erst dann, haben wir eine Grundlage, uns über Lockerungen zu verständigen. Alles
andere ist billige PR. 4

Hinweis: Diese Rede kann hier ab dem folgenden Tag als Video abgerufen werden:
http://www.landtag.ltsh.de/aktuelles/mediathek/