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20.01.21
11:45 Uhr
B 90/Grüne

Eka von Kalben zu den Corona-Maßnahmen

Presseinformation

Landtagsfraktion Es gilt das gesprochene Wort! Schleswig-Holstein TOP 1 – Regierungserklärung „Aktuelle Herausforderungen Pressesprecherin meistern – Perspektiven für den Frühling schaffen" Claudia Jacob Landeshaus Dazu sagt die Vorsitzende der Landtagsfraktion Düsternbrooker Weg 70 von Bündnis 90/Die Grünen, 24105 Kiel
Zentrale: 0431 / 988 – 1500 Eka von Kalben: Durchwahl: 0431 / 988 - 1503 Mobil: 0172 / 541 83 53
presse@gruene.ltsh.de www.sh-gruene-fraktion.de
Nr. 025.21 / 20.01.2021


Menschenleben schützen und möglichst bald mehr Normalität ermöglichen
Sehr geehrte Damen und Herren,
nun tagen wir hier doch wieder eine Woche früher als gedacht. Weil auch die Minister- präsident*innenkonferenz früher getagt hat als ursprünglich gedacht. Die Lage ist noch immer sehr ernst und bei uns im Norden erreichen uns insbesondere aus Nordfriesland wirklich schlimme Nachrichten.
Für viele Menschen beginnt der typische Morgen in der Corona-Pandemie mit dem Blick auf die Inzidenzen. Aber ich habe immer mehr Menschen in meinem Bekanntenkreis, die gar keine Lust mehr haben, Nachrichten zu lesen, zu hören oder zu sehen. Das heißt nicht, dass diese Menschen die Pandemie ignorieren und sich nicht an Maßnahmen hal- ten wollen. Aber sie haben es einfach satt, ständig etwas über Corona, ständig schlechte Nachrichten zu hören.
Über einen so langen Zeitraum dauerhaft mit der Pandemie konfrontiert zu werden, die Infektionszahlen zu hören, die Todeszahlen zu hören – das raubt Kraft. Das macht un- glücklich. Da helfen die immer neuen Begriffe und Steigerungen von Lockdown, über Megalockdown zu ZeroCovidShutdown auch nicht unbedingt weiter. Sie verursachen ins- besondere bei den Menschen Sorge und Angst, die sich im engsten Sinne an die bishe- rigen Kontaktbeschränkungen halten. Die sich also nicht zum Beispiel regelmäßig mit unterschiedlichen Einzelpersonen treffen, sondern immer mit derselben.
Ehrlich gesagt: ich kann diese Menschen sehr gut verstehen. Auch ich würde manchmal einfach gerne den Informationsfluss stoppen. Und ich bin mir sehr sicher, dass ich damit in diesem Saal nicht alleine bin. Aber in unserer Position geht das natürlich nicht. Wir Seite 1 von 5 tragen Verantwortung. Wir müssen informiert sein, um Entscheidungen treffen zu kön- nen. Meine Entscheidungen werden von unterschiedlichen Informationen beeinflusst. Zum einen sind da die Nachrichten, die Zahlen und Einschätzungen des RKI und die Ratschläge und Plädoyers vieler anderer Expert*innen. Zum anderen fließen auch die vielen Anfragen aus der Bevölkerung in meine Entscheidungsfindung mit ein.
In letzter Zeit erreichen mich insbesondere immer mehr Zuschriften verzweifelter Eltern. Das ist nicht neu. Neu ist aber, dass die Intention der Schreibenden inzwischen kaum noch ist, die Maßnahmen zu kritisieren. Im Gegenteil: die meisten Eltern die mir schreiben können zumindest den Großteil der Maßnahmen nachvollziehen und finden diese richtig. Inzwischen erreichen mich einfach viele Nachrichten von Eltern, die mir schlichtweg von ihrer Verzweiflung und ihrer Hilflosigkeit berichten wollen.
Da ist zum Beispiel die Mutter, die sich mit Ende 30 doch noch für ein Studium entschie- den hat, welches sie aus finanziellen Gründen in Regelstudienzeit abschließen muss. Und die nun daran verzweifelt, dass sie weder ihrer Rolle als Mutter, noch der als Erst- semesterstudentin gerecht werden kann. Da kann sie nämlich noch so gut planen, dass sie erst ihrer Tochter hilft, um dann noch etwas Zeit für das Lesen der Pflichtlektüre zu haben, bevor die Vorlesung mit Anwesenheitspflicht beginnt. Der Plan ist für die Katz, wenn die Tochter fürs Verstehen des Kleinen Einmaleins eben doch länger braucht als gedacht. Dann war es das mit der Univorbereitung. Kinder haben keine Zeitschaltuhr.
Da sind die Eltern, die beide in systemrelevanten Berufen arbeiten und deren jugendliche Tochter mit speziellen Bedürfnissen so sehr unter der Einsamkeit zu Hause und der feh- lenden Struktur litt, dass sie nun im Krankenhaus liegt.
Da ist der junge Vater, dessen dreijähriger Sohn inzwischen Angst vor Kindern hat, die nicht in seiner Kohorte sind. Der Angst hat, krank zu werden oder selbst andere Men- schen krank zu machen. Ein Dreijähriger.
Viele schreiben mir, dass sie das Gefühl haben, in ihrer schwierigen Situation ganz alleine zu sein. Deshalb war es mir wichtig, hier heute ein paar Beispiele nennen. Weil es näm- lich keine Einzelschicksale sind. Und weil es vielleicht anderen Eltern da draußen hilft, zu wissen, dass sie nicht alleine sind. Dass sie nicht die einzigen sind, die unter der Situation leiden, die verzweifelt sind, die keine Kraft mehr haben, die sich um das Wohl ihrer Kinder sorgen und die von Selbstzweifeln geplagt sind. Ganz besonders schwer haben es auch die vielen Alleinerziehenden im Land. Ich war selbst viele Jahre lang alleinerziehend und berufstätig mit drei Kindern. Ich weiß, was das schon unter normalen Umständen für eine Kraftanstrengung ist. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir die Notbetreuung auch für Kinder von Alleinerziehenden geöffnet haben.
Zum Thema Familie möchte ich noch darauf hinweisen, dass wir dringend im Blick be- halten müssen, ob die Kinderkrankentage etwas nutzen. Von einer Mitarbeiterin, die sel- ber Mutter zweier Kita-Kinder ist, habe ich die Rückmeldung bekommen, dass sie bisher von niemandem weiß, der diese in Anspruch nehmen möchte. Von niemandem. Und zwar, weil sich niemand traut, sie gegenüber dem jeweiligen Arbeitgeber einzufordern.
Liebe Eltern im Land: Sie leisten gerade Unvorstellbares. Ich möchte Sie nochmal aus- drücklich dazu ermutigen, die Kinderkrankentage einzufordern. Das ist Ihr gutes Recht. Und liebe Chef*innen, Sie möchte ich wirklich sehr freundlich und mit Nachdruck darum bitten, Verständnis zu haben. Verständnis dafür, dass Mütter und Väter in dieser Zeit im Beruf nicht immer das leisten können, was sie unter normalen Umständen leisten. Selbi- ges gilt natürlich auch für Menschen, die ihre Eltern oder andere Familienmitglieder
2 pflegen.
Nachdem ich nun nochmal hervorgehoben habe, wie katastrophal die Situation vieler El- tern und Kinder im Land ist und auch aufgrund der Tatsache, wie viele andere Menschen unter den bisherigen Maßnahmen leiden, stellt sich natürlich die berechtigte Frage, wes- halb wir hier heute über noch schärfere Maßnahmen sprechen.
Nun, das kann ich Ihnen sagen. Das tun wir nämlich nicht trotz der negativen Auswirkun- gen der Maßnahmen, sondern gerade deshalb. Das oberste Ziel muss doch sein, dass wir natürlich Menschenleben schützen, aber auch, dass möglichst bald wieder mehr Nor- malität möglich ist.
Ja, die neuesten Entwicklungen der Zahlen sind leicht positiv, doch das ist noch kein Grund zu jubeln. Sie müssen noch viel schneller runter. Nicht nur wegen der neuartigen Mutationen, sondern vor allem damit der Teil-Lockdown sich nicht weiter hinzieht, ohne Aussicht auf ein Ende. Deshalb ist die Debatte über schärfere Maßnahmen trotz sinken- der Zahlen richtig.
Die Einschränkungen, die bisher in Kraft sind, konzentrieren sich bereits sehr stark auf den privaten Bereich. Hier sind die Einschränkungen denkbar ausgereizt: Wir haben emp- findliche Kontaktbeschränkungen und praktisch das gesamte Freizeitleben der Men- schen in diesem Land muss ruhen. Sinnvolle weitere Verschärfungen sind hier kaum noch denkbar und nicht zielführend. Ob Sport, Kultur, Tanzen, Singen, Musizieren, Fa- milienfeiern – all das ist grad schon nicht mehr möglich. Die Menschen in diesem Land nehmen schon große Entbehrungen in Kauf. Und die überwiegende Mehrheit tut das ganz selbstverständlich und ohne sich zu beschweren. Weil sie wissen, wie wichtig diese Einschränkungen jetzt sind, damit wird die Pandemie bestmöglich überstehen. Ihnen al- len möchte ich hier gerne nochmal aufrichtig danke sagen.
Private Kontakte weiter reduzieren zu wollen, wäre bei einer bereits bestehenden 1-Per- sonenregel vollkommen absurd. Insbesondere für die vielen Alleinstehenden im Land würde das praktisch die totale Isolation bedeuten. Und, klingt hart, ist aber so: Isolation ist Folter. Das können wir unmöglich wollen.
Wenn wir verhindern wollen, dass die Pandemie noch ewig auf halber Flamme vor sich hin köchelt, müssen wir stärker als bisher an den anderen Teil des öffentlichen Lebens ran: Die Wirtschaft, die Büros, die Fabriken. Zu krass ist inzwischen der Kontrast für die Menschen, wieviel sie am Arbeitsplatz dürfen und sollen und wie wenig nach Feierabend. Das ist eine Schieflage, die für viele Menschen im Land nicht nachvollziehbar ist.
Ich weiß, dass die Wirtschafts- und Industrieverbände das nicht hören wollen, aber das Prinzip der weitgehenden Freiheit in diesem Bereich führt zu einer Verlängerung der Pan- demie auf Kosten aller, einschließlich der Wirtschaft selbst. Insbesondere auf Kosten der Branchen, die von den derzeitigen Einschränkungen voll getroffen werden, wie zum Bei- spiel die Gastronomie. Das Virus macht an den Stechuhren der Büros und Fabriken nicht halt.
Insbesondere muss endlich das Potential zum Homeoffice ausgereizt werden – dort wo es möglich ist. Ich höre ständig Beispiele von Menschen, denen es nicht erlaubt ist, zu Hause zu arbeiten. Und zwar obwohl sie in Berufen arbeiten, in denen sie ihre Tätigkeiten überall ausführen können, wo es Strom für Computer und Telefon gibt. Es kann nicht sein, dass wir nach den letzten Zahlen von November nur eine Homeoffice-Quote von 14 Prozent haben, während sie im ersten Lockdown noch doppelt so hoch war. Hier müssen
3 Arbeitgeber*innen endlich klar in die Pflicht genommen werden.
Wir müssen Corona entschlossen bekämpfen. Unsere Maßnahmen müssen konsequent und gerecht sein und die Menschen müssen sie verstehen können. Wir brauchen einen bundesweiten Stufenplan, der klar vorgibt, bei welchen Inzidenzwerten, bei welcher Aus- lastung der Kliniken und Intensivstationen, welche Maßnahmen ergriffen werden. Das bedeutet einheitliches Handeln in derselben Situation. Das bedeutet aber nicht zwingend eine bundesweite Gleichzeitigkeit. In Landkreisen und kreisfreien Städten mit deutlich abweichenden Parametern kann und sollte nach der entsprechenden Maßnahmenstufe gehandelt und nicht bloß Durchschnittswerte übergestülpt werden. So können wir größt- mögliche Akzeptanz erreichen. Und Akzeptanz ist hier ein entscheidendes Stichwort: Wir brauchen Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Kommunikation, um die Menschen im Land mitzunehmen. Nur wenn die breite Bevölkerung die Maßnahmen akzeptiert, können diese auch erfolgreich sein.
Ganz entscheidend für die Akzeptanz ist, dass wir soziale Härten und Folgen immer mit abwägen müssen. Niemandem ist geholfen, wenn nach einer monatelangen Totalschlie- ßung von Schulen, Kitas und Freizeitangeboten, Familien am Ende sind und Eltern sich trennen. Wenn Schüler*innen die Klasse widerholen müssen, Kinder nicht mehr sozial interagieren können und Jugendliche Therapie benötigen.
Ängste, Depressionen und Süchte nehmen zu. Das sind gesamtgesellschaftliche Folgen, die bei einer Abwägung von Schutzmaßnahmen auch berücksichtigt werden müssen. Deshalb ist es gut, dass wir im Gegensatz zum Frühjahr die Kitas und Schulen möglichst lange geöffnet gelassen haben. Ich möchte auch nochmal dafür appellieren, die Situation von Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen. Sie fallen oft durch alle Raster. Sie haben auf dem Papier die gleichen Rechte, können sich aber – im Gegensatz zu vielen anderen Gruppen – nicht immer das nötige Gehör verschaffen.
Was ist, wenn Werkstätten und tagesstrukturierende Angebote pandemiebedingt ge- schlossen sind? Was ist, wenn Wohneinrichtungen keine Besucher*innen zulassen? Und was ist mit der Impfung?
Die Priorisierung der Impfberechtigten verhält sich nur zu Menschen mit geistiger Behin- derung und Down Syndrom. Sie gehören zur Gruppe 2. Aber was ist mit allen anderen, insbesondere denjenigen, die in eigener Häuslichkeit leben, aber auf Assistenz rund um die Uhr angewiesen sind? Dafür brauchen wir dringend Lösungen.
Impfungen sind in dieser Pandemie unsere große Hoffnung. Deshalb ist es eine große Erleichterung, dass es inzwischen zugelassene Impfstoffe gibt, und dass wir in Schles- wig-Holstein rechtzeitig die erforderliche Infrastruktur geschaffen haben. Wir hoffen sehr, dass es bald mehr Impfstoff gibt, so dass sich all diejenigen, die sich impfen lassen möch- ten, auch impfen lassen können. Momentan sind die Termine immer sehr schnell weg, was verständlicherweise zu Frust führt. Hier müssen wir uns aber leider alle in Geduld üben.
Privilegien für Geimpfte stehen wir Grüne kritisch gegenüber und sind sehr froh, dass unser Gesundheitsminister das genauso sieht. Solange nicht wissenschaftlich erwiesen ist, dass Geimpfte andere Menschen nicht anstecken können, ist über eine Ausnahme von Schutzmaßnahmen für Geimpfte nicht nachzudenken. Und solange es nicht genug Impfstoff für alle Menschen gibt, die geimpft werden wollen, wäre eine solche Ausnahme auch sozial sehr ungerecht.

4 Vor sozialer Ungerechtigkeit müssen wir uns auch beim Thema Masken in Acht nehmen. Ja, medizinische Masken – insbesondere FFP2 Masken – schützen besser als einfache Stoffmasken. Deshalb unterstützen wir den Beschluss, das Tragen von medizinischen Masken in Geschäften und im ÖPNV verpflichtend zu machen. Aus ökologischen Grün- den war das für uns keine leichte Entscheidung, aber in diesem Fall kann unsere oberste Priorität leider nicht die Müllvermeidung sein.
Eine entsprechende Maskenpflicht macht aber nur dann Sinn, wenn auch alle Menschen Zugang zu den entsprechenden Masken haben. Bei einem Stückpreis von vier Euro und mehr ist das für Menschen die ein Transfereinkommen erhalten nicht bezahlbar. Hier brauchen wir Lösungen. Schnell und unbürokratisch. Ich bin mir sicher, dass die Landes- regierung hier einen Weg finden wird. Am einfachsten wäre es jedoch, wenn der Bund der Grünen Forderung folgen würde und den schon lange geforderten Corona-bedingten 100-Euro-Aufschlag für ALG II beschließen würde. Die SPD hier im Land scheint ja schon an Bord zu sein.
Und was ich an dieser Stelle noch gerne Richtung Bund sagen möchte: Wenn man den Menschen Wirtschaftshilfen verspricht und diese dann nicht kommen, zerstört das Ver- trauen. Das geht gar nicht.
Fassen wir zusammen: Unser Alltag in den kommenden zwei Wochen wird sich kaum ändern. Das ist frustrierend. Die Regierungen haben sich auf die Erarbeitung eines Stu- fenplanes verpflichtet. Das macht Hoffnung. Wir brauchen einen langen Atem, der länger hält, als der des Virus. Ich bin mir sicher, dass wir das schaffen werden.
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