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27.11.20
11:06 Uhr
SPD

Ralf Stegner zu TOP 1,4,5+6: Solidarität bleibt das Gebot der Stunde!

Heimo Zwischenberger Pressesprecher der SPD-Landtagsfraktion
Adresse Düsternbrooker Weg 70, 24105 Kiel Telefon 0431 988 1305 Telefax 0431 988 1308 E-Mail h.zwischenberger@spd.ltsh.de Webseite www.spd-fraktion-sh.de Es gilt das gesprochene Wort!

Hinweis: Diese Rede kann hier als Video abgerufen werden: http://www.landtag.ltsh.de/aktuelles/mediathek

LANDTAGSREDE – 20. November 2020
Dr. Ralf Stegner: Solidarität bleibt das Gebot der Stunde! TOP 1,4,5+6: Regierungserklärung zu „Wir sind der Schlüssel — Herausforderungen gemeinsam meistern“ und Anträge zu Corona-Maßnahmen (Drs. 19/2607, 19/2583)
„Als wir im letzten Monat hier zusammengekommen sind, war die Lage überaus ernst. Es musste darum gehen, das exponentielle Wachstum der Corona-Infektionen und damit die drohende Überlastung unseres Gesundheitswesens schnellstmöglich zu stoppen. Das ist immerhin gelungen. Mehr nicht. Und deshalb ist es nicht die Zeit für Leichtsinn oder Unvernunft. Die Infektionszahlen stagnieren, aber sie sind nach wie vor viel zu hoch. Corona wird uns so oder so noch über Monate begleiten. Und der kommende Monat mit Weihnachten und dem Jahreswechsel wird eine ganz besondere Bewährungsprobe sein. Denn wir freuen uns doch alle, nach den langen Monaten der Einschränkungen auf die Zeit mit Familie und Freunden und dürfen gleichzeitig nicht riskieren, die Erfolge der vergangenen Wochen zu verspielen. Die unerwartet positiven Nachrichten über bald einsatzfähige Impfstoffe machen Hoffnung. Aber sie dürfen eben nicht dazu verleiten unvorsichtig zu werden, bevor hoffentlich Stück für Stück wieder mehr Normalität zurückkehrt. Wir haben als Gesellschaft in den kommenden Wochen eine gemeinsame Verantwortung: Ich wiederhole es: Umsicht, Einsicht, Vorsicht und Rücksicht – darum geht es nach wie vor. Solidarität bleibt das Gebot der Stunde. Lassen Sie mich bewusst einen Christdemokraten zitieren, den früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der gesagt hat: „Solidarität ist die Erkenntnis, dass den eigenen Interessen am besten gedient ist, wenn auch die anderen zu ihrem Recht kommen.“ Genau darum geht es bei dieser Herausforderung für unsere Gesellschaft, die wir nur gemeinsam bewältigen können. Das war und ist die Leitlinie für die SPD-Landtagsfraktion. Als konstruktive Opposition übernehmen wir Verantwortung dafür, dass unser Schleswig-Holstein gut durch diese Krise kommt. Für meine Fraktion hat sich an den Prioritäten seit dem Frühjahr nichts geändert. Der Gesundheitsschutz der Bevölkerung hat vor allem anderen Vorrang. Das bleibt auch so. Auch wenn viele die Infektion kaum bemerken, so leiden viele andere unter den monatelangen Nachwirkungen von Beatmung und andere ringen mit dem Tod. 410 Todesfälle in Deutschland an einem Tag – das war vorgestern der bisherige Negativ-rekord, der uns erschreckt hat. Insgesamt sind bundesweit über 15.000 Menschen bisher an und mit Corona gestorben, die von ihren Familien betrauert werden. Das ist eine Mahnung an uns, den Gesundheitsschutz nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Wer im Vergleich die 260.000 Todesfälle in den USA sieht, weiß aber auch, wie leistungsfähig unser Gesundheitswesen ist und was unsere Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte täglich leisten. Dafür schulden wir ihnen Dank! Darüber hinaus braucht es besondere Priorität für diejenigen, die es besonders schwer haben, dazu zählen zum Beispiel Familien mit Kindern (Kitas und Schulen offen zu halten ist nicht nur wegen der Bildungsgerechtigkeit wichtig) oder Menschen in Heimen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die für uns alle schuften, brauchen nicht nur Applaus, sondern handfeste Unterstützung. Zudem wollen wir soviel norddeutsche Gemeinsamkeit wie möglich, insbesondere in der Metropolregion. Und zur Sicherung von Arbeitsplätzen braucht es möglichst unbürokratische und wirksame Unterstützung für Betriebe, die von den Schließungen direkt oder indirekt betroffen sind. Diese Prioritäten



1 bleiben für uns Maßstab und Kompass für unsere Arbeit beim Corona-Management von Bund, Ländern und Kommunen. Daran messen wir auch die Ergebnisse der Bund-Länder-Runde in dieser Woche. Und wir können sie im Ergebnis – bei kritischer Würdigung der ein oder anderen offenen Frage – mittragen, auch wenn manches komplizierter geworden und nicht alles widerspruchsfrei ist. Das kommt auch in der gemeinsamen Resolution der demokratischen Fraktionen hier im Hause zum Ausdruck. Es ist eine gute Botschaft, dass die zentrale Rolle von Schulen und Kitas in aller Deutlichkeit festgehalten wurde. Es ist richtig, dass die Novemberhilfen für geschlossene Betriebe im Dezember verlängert werden und als Vergleichsmaßstab die Umsätze vom Dezember 2019 gelten. Es geht bei der Frage um Existenzen, die Menschen sich über lange Jahre aufgebaut haben und die binnen weniger Monate ohne eigene Schuld in große Gefahr geraten. Auch die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes bis Ende 2021, worauf die Sozialdemokratie sehr gedrängt hatte, ist eine sehr gute Nachricht für Betriebe und Arbeitnehmerfamilien. Auch als Landespolitiker kann und muss man das besondere Engagement des Bundes in diesen Punkten ohne Einschränkungen anerkennen. Wichtig ist auch, dass wir endlich zu bundesweit einheitlichen Maßstäben für die notwendigen Einschränkungen kommen. Gleicher bundes-weiter Maßstab bedeutet keineswegs überall die gleichen Maßnahmen. Es wäre doch geradezu absurd, wenn in Bayern mit einer 7-Tage-Inzidenz von 173 Fällen auf 100.000 Einwohner dieselbe Maßnahme greift, wie in Schleswig-Holstein mit einer Inzidenz von 47,9. Das Prinzip, dass bei vergleichbarer Inzidenz überall die gleichen Maßnahmen ergriffen werden, ist vernünftig und zeigt, dass der föderale Staat funktionieren kann. Die niedrige Rate in Schleswig-Holstein bedeutet nicht, dass wir auf einer Insel der Glückseligen leben oder uns in falscher Sicherheit wiegen sollten. Und es ist auch kein Aufruf zu falscher Überheblichkeit der weniger betroffenen Bundesländer. Auch hier kann es Verbesserungen geben – dass die Gesundheitsämter im Jahre 2020 ihre Daten noch per Fax austauschen ist eine groteske Ressourcenverschwendung. Aber die inzidenzbasierte Vorgehensweise trägt auch dazu bei, die Akzeptanz für die Maßnahmen zu sichern. Und es führt uns auch weg von einer Debatte, die – wenn ich an einige markige Äußerungen aus dem Süden denke - sehr viel mehr mit Schein als mit Sein zu tun hatte. Aber ich will nicht über Herrn Söder reden. Gefordert sind wir in den kommenden Wochen auch beim sensiblen Umgang mit den Unterschieden im eigenen Land. Den erfreulich niedrigen Inzidenzwerten in Schleswig-Flensburg oder Plön stehen erschreckend hohe Werte im Hamburger Rand gegenüber. Im Kreis Pinneberg lag der Wert in dieser Woche bei über 100 und damit ein ganzes Stück über dem Hamburger Wert, damit werden wir noch einen Umgang finden müssen – wobei inzwischen die Ursachen dafür lokalisiert zu sein scheinen. Das gilt auch mit Blick darauf, dass wir im Hamburger Rand nicht wollen, dass die weniger scharfen schleswig-holsteinischen Beschränkungen im Einzelhandel zum Shopping- Tourismus aus Hamburg führen. Das wäre der falsche Weg. Es bleibt richtig, dass wir bei den Beschränkungen im privaten Bereich in erster Linie auf den Appell an die Bürgerinnen und Bürger setzen, zumal die meisten sich sehr vernünftig verhalten haben. Handlungsfähigkeit des Staates heißt keineswegs, dass wir immer alles kontrollieren müssen. Freiheit und Selbstverantwortung sind wichtige Bestandteile unserer demokratischen Kultur. Wir wollen keine Bespitzelung unter Nachbarn und die eigenen vier Wände genießen in Deutschland aus guten Gründen einen hohen Schutz. Aber das ist weder ein Aufruf zu Unvernunft, noch kann das regelmäßigen Kontrollen im öffentlichen Raum entgegenstehen. Die Regeln sind bekannt, sie werden von der übergroßen Mehrheit akzeptiert und unterstützt, aber sie müssen gegebenenfalls auch konsequent – und noch konsequenter als es bislang zuweilen passiert – umgesetzt werden. Parteiübergreifend werden wir uns in den kommenden Wochen für eine gute Lösung zur Finanzierung unserer schleswig-holsteinischen Krankenhäuser einsetzen müssen. Es kann nicht sein, dass die niedrige Inzidenzrate zu einer ökonomischen Benachteiligung unserer Kliniken führt. Zudem haben wir in Norddeutschland vereinbart, uns wechselseitig zu helfen, wenn es Engpässe auf den Intensivstationen gibt. Das überarbeitete Infektionsschutzgesetz bringt bei dem Punkt nicht das Ergebnis, das wir uns gewünscht hätten, weil es keine


2 Verbesserung für die angespannte Situation in unseren Kliniken bringt. Dennoch, Herr Kollege Vogt, wäre es besser gewesen, wenn auch die FDP im Bundesrat aus staatspolitischer Verantwortung, wie CDU, SPD, Grüne und Linkspartei, dieses Gesetz mit getragen hätte – allzumal wegen der ausgesprochen schlechten Gesellschaft, in die sie unfreiwilligerweise damit geraten sind. Ich biete der Landesregierung ausdrücklich unsere Unterstützung an, damit wir in Berlin zu einem guten Ergebnis kommen im Sinne der Patientinnen und Patienten, aber auch der Beschäftigten in unseren schleswig-holsteinischen Krankenhäusern. Mehr Aufmerksamkeit braucht es auch beim Nahverkehr. In den letzten Tagen wurde viel über den Fernverkehr gesprochen. Aber ein deutlich ausgeweitetes Platzangebot und Reservierungseinschränkungen dort helfen den vielen Pendlerinnen und Pendlern in den Regionalbahnen oder Bussen im Land wenig. Erst recht gilt das leider nach wie vor mit Blick auf die Situation in den Schulbussen im Land. Es bleibt unverständlich, dass Schülerinnen und Schüler morgens und nachmittags in vollen Bussen zusammensitzen, um in der Schule fein säuberlich in Kohorten getrennt zu werden. Zu Recht weisen Eltern und Schüler auf die Widersinnigkeit hin. Und ich verstehe, dass wir vielleicht nicht genug Busse haben, um jedem eine Beförderung unter Berücksichtigung der Abstände zu garantieren. Ja, die Kreise sind hier zuständig. Aber ich verstehe nicht, dass im Land Busse ungenutzt rumstehen, weil die Verantwortung vom einen zum anderen geschoben wird. Unabhängig davon, dass einige Kreise – wie bei uns in Rendsburg-Eckernförde - schon aktiv geworden sind, gibt es eine Gesamtverantwortung des Landes, weil es eben ein entscheidender Punkt ist, dass wir unsere Schulen offen halten. Damit das gelingt, hat meine Fraktion einen Vorschlag vorgelegt. Und ich werbe bei den Regierungsfraktionen dafür, dass Sie sich einen Ruck geben und mitmachen. Die letzten Wochen haben noch einmal verdeutlicht, dass bei aller Vorsicht eine grundsätzliche Verbesserung der Lage nur mit Impfungen eines großen Teils der Bevölkerung möglich sein wird. Das ist der Schlüssel zu einer weitgehenden Normalität. Und es gibt vermutlich niemanden hier im Haus, der bei den überaus positiven Nachrichten über mittlerweile mehrere Impfstoffe in den vergangenen Wochen nicht eine große Erleichterung verspürt hat. Das ist auch ein überragendes Ergebnis hervorragender Forschung und Wissenschaft in unserem Land. Entscheidend wird sein, nicht nur verlässliche Strukturen aufzubauen, sondern die Menschen dabei mitzunehmen – nach allem, was ich die letzten Tage wahrgenommen habe, Herr Minister Garg, sind Landes- regierung und Kommunen in dieser Frage auf einem guten Weg. Die Impfungen werden nicht nur ein Mittel zum Selbstschutz sein. Sondern sie werden vor allem dem Schutz unserer Mitmenschen dienen. Und es ist ein schönes Signal in dieser Woche, dass die Impfbereitschaft nirgendwo in Deutschland so hoch ist wie bei uns im Norden – dafür sollten wir auch weiterhin gemeinsam werben. Das ist wirklich ein Hoffnungsstreifen am politischen Horizont dieses so eigenartigen Corona-Jahres 2020. Ich habe schon im vergangenen Monat betont: wir Menschen in Schleswig-Holstein sind weder begriffsstutzig, noch unmündig. Im Gegenteil: Wir haben im letzten Dreivierteljahr ein hohes Maß an Eigenverantwortung bewiesen und wir alle miteinander können dankbar sein für die hohe Zustimmung zur Corona-Politik. Und genau darum ist es nicht unsere Aufgabe als Politik, die Menschen zu belehren. Aber es ist unsere Aufgabe, für Regelungen zu sorgen, die nachvollziehbar, transparent und plausibel sind. Das ist der Schlüssel zur Akzeptanz. Wir brauchen weiterhin Regelungen mit Augenmaß. Die Einigung zum Silvester-Feuerwerk ist dafür ein gelungenes Beispiel. Wir hätten nicht kontrollieren können und wollen, was in Hintergärten am 31. Dezember passiert – darum bleibt das private Feuerwerk erlaubt. Aber wir müssen dafür sorgen, dass es keine Menschenaufläufe gibt und dass in diesem Jahr Silvester aus Sicht der Einsatzkräfte ein ganzes Stück ruhiger wird – darum verbieten wir das Böllern auf belebten Straßen und Plätzen und appellieren an die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger. Wir hatten in der vergangenen Woche eine – wie ich fand – beeindruckende Anhörung hier im Plenarsaal. Damit haben wir deutschland-weit für Aufmerksamkeit gesorgt. Und zumindest mir haben die Beiträge der Expertinnen und Experten auch bei der Reflektion über unsere eigene Rolle geholfen. Wir tun gut daran, die Hinweise und durchaus auch die Kritik ernst zu nehmen – ohne damit die Rolle, die unser Parlament in den vergangenen Monaten eingenommen hat, klein zu reden. Es ist das richtige Signal, dass wir heute zu einer Sondersitzung


3 zusammenkommen, um vor dem Erlass der Landesverordnung über die Ergebnisse der Bund-Länder-Runde zu sprechen. Es geht auch darum, den Bürgerinnen und Bürgern in öffentlicher Debatte darzulegen, was wir tun, denn wir greifen in das Leben von Millionen Menschen ein. Und es ist auch richtig, wenn die Corona-Pandemie künftig eine noch prominentere Rolle in den Ausschüssen und im Plenum einnehmen wird. Wir wollen als Landtag nicht die Aufgaben der Regierung übernehmen – die Gewaltenteilung ist unabdingbar -, aber wir werden der großen Verantwortung des Parlaments damit gerecht. Die Pandemie hat im vergangenen dreiviertel Jahr viele Probleme offen-gelegt, die es lange gab und die jetzt unübersehbar geworden sind. Das gilt für unser Gesundheitssystem, für die Belastbarkeit unserer öffentlichen Daseinsfürsorge, für die Wertschätzung gegenüber Menschen in unverzichtbaren Tätigkeiten, aber es gilt leider in Teilen auch für den gesellschaftlichen Egoismus. Wir werden uns in den kommenden Wochen und auch Monaten nicht vor der Frage drücken können, wie wir in Zukunft leben wollen. Die diesbezügliche Themenwoche der ARD kam genau zur richtigen Zeit. Was ist es uns eigentlich wert, in einer Gesellschaft zu leben, in der Solidarität und eben nicht Egoismus entscheidend sind? Damit eng zusammen hängt die Frage, wer für die Kosten der Pandemie zahlen wird. Die von den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten zur Bund-Länder-Runde angestoßene Debatte, ob der Großteil der Corona-Kosten im Gesundheitssystem den gesetzlich Versicherten aufgebürdet werden soll oder ob wir zu einer fairen Beteiligung der Steuerzahler und damit auch der oftmals privat versicherten Besserverdienenden kommen, war dafür ein Vorgeschmack. Und es ist ein wichtiges Zeichen, dass der Bund jetzt als Ergebnis der Einigung einspringt, um hohe Zusatzbeiträge für Gering- und Normal-verdiener 2021 zu vermeiden. Die Haushalte in Kommunen, Ländern und dem Bund stehen vor einer Belastungsprobe. Ein harter Sparkurs würde die pandemiegeplagte Wirtschaft und viele Arbeitsplätze treffen. Rasant steigende Verschul-dung wiederum brächte verfassungsrechtliche Probleme und die Verschärfung der sozialen Spaltung. Es wird darum im kommenden Jahr auch um ein deutliches Zeichen der Solidarität von denen mit sehr großen Vermögen oder weit überdurchschnittlichen Einkommen gehen müssen. Armin Laschet sprach vor einigen Tagen mit Blick auf die kommenden Wochen vom härtesten Weihnachten, das die Nachkriegsgenerationen je erlebt hätte. Diesen Satz würde ich mir nicht zu eigen machen. Denn er passt so gar nicht, wenn man unsere Situation in anderen Ländern und in weiten Teilen der Welt vergleicht, in denen die Corona-Folgen und die Einschränkungen sehr viel härter sind und die Reaktionen des Staates – gerade auch die finanziellen Hilfen - sehr viel schwächer ausfallen als bei uns. Es passt auch nicht zur Erlebniswelt der Elterngeneration und ist auch nicht die richtige Ansprache in einer Zeit, in der wir mit Blick auf die Impfstoffe und unsere Möglichkeiten der Disziplin die gute Chance haben, mit einem blauen Auge davon zu kommen. Das geht anderen ganz anders, und ich bin dem Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier dankbar, dass er darauf hingewiesen hat, dass wir bei der Verteilung der Impfstoffe auch an die ärmeren Länder denken sollten. Aber ohne Frage beginnt am Sonntag eine ganz besondere Adventszeit. Ich würde mich freuen, wenn wir politisch und menschlich insbesondere diejenigen in den Blick nehmen, die alleine und von Einsamkeit betroffen sind. Das ist ein Problem, dem wir in unserer Gesellschaft zu wenig Aufmerksamkeit widmen – und es wird auch eine der Lehren sein, die wir aus dieser Zeit ziehen müssen. Das gilt und galt für Menschen in Heimen, behinderte Menschen, aber auch viele Ältere, die ja geradezu als Freiheitsentzug empfinden mussten, was ihnen wiederfuhr. Viele von unseren Eltern und Großeltern waren verzweifelt, dass sie ihre Lieben monatelang nicht sehen durften. Allzu viele sind sogar ganz allein gestorben. Das darf sich niemals wiederholen. Auch da gilt der Dank den vielen Pflegekräften, die quasi als Familienersatz herhalten mussten. Dennoch, der erzwungene Verzicht auf Geselligkeit, auf menschlichen Kontakt berührt die Gesundheit der Seele. „Mir ist manchmal so einzeln auf der Welt.“ So hat es Erich Kästner in dunkler Zeit einmal formuliert. Ob die AWO- Seniorengruppe, der Spielenachmittag, der Klönschnack beim Kaffee, der Gesundheitssport, der Spaziergang mit Kindern und Enkeln – wenn das alles monatelang fehlt, zerbricht vieles an Lebensglück. Die höchste Vollkommenheit der Seele ist ihre Fähigkeit zur Freude, heißt es. Wir wissen doch selbst, die wir gar nicht im Heim leben, wie wir das gemeinsame Essen mit Freunden und manche Gewohnheit vermissen. Bei aller modernen


4 digitalen Geschäftigkeit, beim ganzen routinierten technokratischen Corona-Management, bei aller manchmal schrillen öffentlichen Debatte droht uns eine schwer erträgliche Verkarstung unserer emotionalen Beziehungen mit dem Mangel an menschlicher Nähe, der im Novembergrau vielleicht besonders stark deutlich wird. Auch der Verlust von Kunst und Kultur – gerade Musik ist Balsam für die Seele – kommt dazu. Vielleicht werden wir das hygienisch zweifelhafte deutsche Hände-schütteln nicht so vermissen, aber die Umarmungen fehlen schon. Und die gewohnte menschliche Nähe auch. Der Begriff „social distancing“ spricht für sich. In NRW gibt es eine Enquete-Kommission zum Umgang mit der zunehmenden Einsamkeit in unserer Gesellschaft. Man mag über das Instrument streiten, aber der Befund stimmt schon. Das gab es schon vor Corona, dass ein älterer Mensch ins Krankenhaus kam, nicht mehr zurück in die eigene Wohnung konnte und ein anderer manchmal fremder Mensch entschieden hat, dass die nächste und letzte Station das Pflegeheim ist. Wie schaffen wir das, dass Menschen so lange wie möglich in ihrem eigenen Zuhause leben können, dass wir die Solidarität der Generationen stärken, dass wir das Miteinander im Dorf oder im Stadtteil beleben, dass wir die öffentlichen Räume und die Gesellschaft menschlicher machen und dem Egoismus entgegenwirken? Vielleicht ist ja nach der Bewältigung der Corona-Pandemie Zeit dafür, dass wir diese Fragen mit besseren Antworten versehen als bisher. Der Mensch verkrüppelt in Einsamkeit, der richtige voll gesunde Mensch ist nur der Mensch in der Gesellschaft. Solidarität bleibt das Gebot der Stunde. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen guten 1. Advent.“



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