Bürgerbeauftragte informiert: Menschenwürde ist nicht relativ - Sanktionen bei Grundsicherung überprüfen!
Nr. 35 / 20. November 2019Bürgerbeauftragte informiert: Menschenwürde ist nicht relativ - Sanktionen bei Grundsicherung überprüfen!Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionsregelungen im SGB II hat die Bürgerbeauftragte des Landes, Samiah El Samadoni, vermehrt Anfragen zu diesem Thema erhalten. „Das Urteil betrifft eine Vielzahl von Bürger*innen, die Grundsicherung für Arbeitsuchende beziehen. Eine Überprüfung von Sanktionen kann sich lohnen!“Das Bundesverfassungsgericht hatte entschieden, dass die Sanktionsregelungen teilweise verfassungswidrig sind und abgemildert werden müssen. Denn nach Ansicht der Verfassungsrichter*innen schafft der vorübergehende Entzug existenzsichernder Leistungen durch Sanktionen eine außerordentliche Belastung, die strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit unterliegt, um der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG zu genügen (BVerfG, Urteil vom 5. November 2019, Az. 1 BvL 7/16, Rn. 119). „Es widerspräche dem nicht relativierbaren Gebot der Unantastbarkeit, wenn nur ein Minimum unterhalb dessen gesichert würde, was der Gesetzgeber bereits als Minimum normiert hat“, so das Gericht. Die gesetzlichen Regelungen sind seit diesem Urteil daher nur unter Einschränkungen anwendbar: Zunächst darf eine Minderung nicht über 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen. Zudem muss der Minderungszeitraum verkürzt werden, wenn sich die Betroffenen einsichtig zeigen. Darüber hinaus ist immer zu prüfen, ob eine außergewöhnliche Härte vorliegt, bei der eine Sanktionierung zu unterbleiben hat. Die Vorlage, über die die Verfassungsrichter*innen zu entscheiden hatten, betraf zwar ausschließlich die Sanktionen wegen Verstoßes gegen die Eingliederungsvereinbarung, wegen der Ablehnung einer zumutbaren Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses sowie wegen Nichtantritts oder Abbruchs einer Maßnahme (§ 31 Abs. 1 SGB II). Über die Verfassungsmäßigkeit der Sanktionen z. B. wegen unwirtschaftlichen Verhaltens und im Zusammenhang mit einer Sperrzeit sowie wegen Meldeversäumnissen hatten die Richter*innen dagegen nicht zu entscheiden.Nach Ansicht der Bürgerbeauftragten ist das Urteil jedoch auch auf alle anderen Fälle zu übertragen. „Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Urteil klar zum Ausdruck gebracht, dass 2jede Sanktionierung von mehr als 30 Prozent mit dem Grundsatz der Menschenwürde nicht vereinbar ist. Dies muss auch für die anderen Sanktionsgründe gelten, denn die Menschenwürde kann nicht relativiert werden.“ Soweit bei einer wiederholten Pflichtverletzung auch die Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung wegfällt, bestehe auch die Gefahr von Obdachlosigkeit. Auf diese unzulässige Einschränkung des Existenzminimums hatte die Bürgerbeauftragte bereits mit ihren Tätigkeitsberichten 2014 (S. 12) und 2018 (S. 27 f.) hingewiesen. „Dies ist völlig unvertretbar und unangemessen“, so die Bürgerbeauftragte. Sie fordert seit Langem eine Entschärfung des Sanktionssystems für alle SGB II-Leistungsbezieher*innen. Bei einer Überprüfung im Einzelfall unterstützt die Bürgerbeauftragte mit ihrem Team.