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13.02.19
17:30 Uhr
SSW

Jette Waldinger-Thiering: Eine fatale Markierung einer einzelnen Schülergruppe

Presseinformation Kiel, den 14.02.2019

Es gilt das gesprochene Wort



Jette Waldinger-Thiering TOP 16 Zeugnisse für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf Drs. 19/1207


„Viele Eltern sind regelrecht auf der Zinne. Dabei wollen sie nur, dass ihre Kinder die gleichen Startbedingungen wie alle andere Absolventen haben.“

Durch Gespräche mit Eltern wurde mir einmal mehr klar, was die Bildungsministerin mit der
neuen Landesverordnung über die abweichende Gestaltung der Zeugnisse für Schülerinnen und
Schüler mit Förderbedarf angerichtet hat. Diese Verordnung wird als Diskriminierung erlebt. Die
Eltern sind entsetzt darüber, wie mit ihren Kindern umgegangen wird. Für sie benachteiligt ein
Abschlusszeugnis ohne Noten eine einzelne Gruppe von Schülerinnen und Schülern. Die Eltern
gehen davon aus, dass bei Bewerbungsverfahren Bewerbungen von vornherein keine Chance
haben, weil sie aus der Reihe tanzen. Personalchefs und Ausbilder würden die Berichtszeugnisse
erst gar nicht lesen, sondern gleich zur Seite legen und aussortieren. Diese Sorgen nehme ich
sehr ernst, denn diese Eltern neigen wirklich nicht zum Alarmismus; schließlich kennen sie sich
mit Diskriminierungserfahrungen gut aus. 2



Gerade darum müssen wir zur alten Regelung zurück. Wir ersparen damit den Schülerinnen und
Schülern eine Erfahrung des unnötigen Sonderwegs. Noten sind nämlich nicht des Teufels. Das
hat der SSW auch nie behauptet. Sie dampfen die Leistungen mehrerer Monate auf eine Ziffer
ein. Das ist vor allem für den Schulstart ein gewöhnungsbedürftiges Verfahren. Darum sind wir
gegen Noten in der Grundschule. Noten sollen anspornen und orientieren; ohne Gespräch mit
den Lehrkräften bleiben sie aber auch nach der Grundschule dürre Nummern ohne Aussagekraft.



Noten im Abschlusszeugnis haben aber eine ganz andere Qualität: sie sind gesellschaftlich
anerkannt und im Abschlusszeugnis alternativlos. Für den Numerus Clausus sind sie einfach das
beste Verfahren, obwohl auch da erhebliche Vergleichsprobleme bekannt sind. Den Übergang
von Schule in den Beruf oder auf eine berufsbildende Schule angemessen zu managen, ist eine
zentrale Aufgabe der Schule. Diese kann sie jetzt mit der Verordnung nur mit einem großen
Handicap erledigen: sie muss Berichtszeugnisse statt Notenzeugnisse für die Schülerinnen und
Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf anfertigen. Das sieht die neue
Landesverordnung in einem eigenen Paragraphen seit diesem Sommer so vor. Das mag guter
Absicht entspringen, ist aber tatsächlich eine fatale Markierung einer einzelnen Schülergruppe.



Damit berühren wir unser gesellschaftliches Selbstverständnis im Umgang mit Menschen, die
einen besonderen Förderbedarf haben. Getrennte oder gemeinsame Beschulung? Beschützte
Arbeitsverhältnisse oder Arbeit im Betrieb? Integrativer Kindergarten oder
Behinderteneinrichtung? Es hat lange gedauert, bis wir diese Fragen überhaupt gestellt haben;
so selbstverständlich war jahrzehntelang die Segregation. Sonderwege wurden mit dem
Sonderbedarf der Menschen mit Behinderungen erklärt. Der Goldstandard war dabei der
angebliche Normalo, der alles sehen, hören und verstehen kann. Dass das ein Konstrukt ist, hat
sich erst sehr langsam durchgesetzt. Jedes Kind hat Stärken, die man fördern und unterstützen 3
kann. Inzwischen ist es Konsens, dass zu einer bunten Gesellschaft eben auch bunte Betriebe und
Wohnviertel gehören. Nicht die Menschen sind behindert, sondern sie werden behindert.



Die Landesverordnung macht diesen Schritt nicht mit, sondern betoniert den Sonderweg. Viele
Eltern von Kindern mit Förderbedarf fühlen sich dadurch regelrecht verhöhnt. Die
Landesverordnung sieht nämlich die Einbeziehung der Eltern ausdrücklich im § 5 vor. Aber eben
nicht, wenn es um ein Notenzeugnis geht. Da ist viel Porzellan zerschlagen worden. Viele Eltern
sind regelrecht auf der Zinne. Dabei wollen sie nur, dass ihre Kinder die gleichen
Startbedingungen wie alle andere Absolventen haben. Also ein Notenabschlusszeugnis, mit dem
sie sich erfolgreich bewerben können. Dass das möglich ist, zeigt die Regelung in § 3, dass bei
Umzug in ein anderes Bundesland auf Antrag ein Notenzeugnis auszustellen ist. Es geht also!
Sollen jetzt die Eltern alle umziehen, um ein Notenzeugnis zu bekommen? Absurdistan! Darum
unser Antrag, die Landesverordnung zu ändern.



Hinweis: Diese Rede kann hier ab dem folgenden Tag als Video abgerufen werden:
http://www.landtag.ltsh.de/aktuell/mediathek/index.html