Jette Waldinger-Thiering: Eine fatale Markierung einer einzelnen Schülergruppe
Presseinformation Kiel, den 14.02.2019Es gilt das gesprochene WortJette Waldinger-Thiering TOP 16 Zeugnisse für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf Drs. 19/1207 „Viele Eltern sind regelrecht auf der Zinne. Dabei wollen sie nur, dass ihre Kinder die gleichen Startbedingungen wie alle andere Absolventen haben.“Durch Gespräche mit Eltern wurde mir einmal mehr klar, was die Bildungsministerin mit derneuen Landesverordnung über die abweichende Gestaltung der Zeugnisse für Schülerinnen undSchüler mit Förderbedarf angerichtet hat. Diese Verordnung wird als Diskriminierung erlebt. DieEltern sind entsetzt darüber, wie mit ihren Kindern umgegangen wird. Für sie benachteiligt einAbschlusszeugnis ohne Noten eine einzelne Gruppe von Schülerinnen und Schülern. Die Elterngehen davon aus, dass bei Bewerbungsverfahren Bewerbungen von vornherein keine Chancehaben, weil sie aus der Reihe tanzen. Personalchefs und Ausbilder würden die Berichtszeugnisseerst gar nicht lesen, sondern gleich zur Seite legen und aussortieren. Diese Sorgen nehme ichsehr ernst, denn diese Eltern neigen wirklich nicht zum Alarmismus; schließlich kennen sie sichmit Diskriminierungserfahrungen gut aus. 2Gerade darum müssen wir zur alten Regelung zurück. Wir ersparen damit den Schülerinnen undSchülern eine Erfahrung des unnötigen Sonderwegs. Noten sind nämlich nicht des Teufels. Dashat der SSW auch nie behauptet. Sie dampfen die Leistungen mehrerer Monate auf eine Zifferein. Das ist vor allem für den Schulstart ein gewöhnungsbedürftiges Verfahren. Darum sind wirgegen Noten in der Grundschule. Noten sollen anspornen und orientieren; ohne Gespräch mitden Lehrkräften bleiben sie aber auch nach der Grundschule dürre Nummern ohne Aussagekraft.Noten im Abschlusszeugnis haben aber eine ganz andere Qualität: sie sind gesellschaftlichanerkannt und im Abschlusszeugnis alternativlos. Für den Numerus Clausus sind sie einfach dasbeste Verfahren, obwohl auch da erhebliche Vergleichsprobleme bekannt sind. Den Übergangvon Schule in den Beruf oder auf eine berufsbildende Schule angemessen zu managen, ist einezentrale Aufgabe der Schule. Diese kann sie jetzt mit der Verordnung nur mit einem großenHandicap erledigen: sie muss Berichtszeugnisse statt Notenzeugnisse für die Schülerinnen undSchüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf anfertigen. Das sieht die neueLandesverordnung in einem eigenen Paragraphen seit diesem Sommer so vor. Das mag guterAbsicht entspringen, ist aber tatsächlich eine fatale Markierung einer einzelnen Schülergruppe.Damit berühren wir unser gesellschaftliches Selbstverständnis im Umgang mit Menschen, dieeinen besonderen Förderbedarf haben. Getrennte oder gemeinsame Beschulung? BeschützteArbeitsverhältnisse oder Arbeit im Betrieb? Integrativer Kindergarten oderBehinderteneinrichtung? Es hat lange gedauert, bis wir diese Fragen überhaupt gestellt haben;so selbstverständlich war jahrzehntelang die Segregation. Sonderwege wurden mit demSonderbedarf der Menschen mit Behinderungen erklärt. Der Goldstandard war dabei derangebliche Normalo, der alles sehen, hören und verstehen kann. Dass das ein Konstrukt ist, hatsich erst sehr langsam durchgesetzt. Jedes Kind hat Stärken, die man fördern und unterstützen 3kann. Inzwischen ist es Konsens, dass zu einer bunten Gesellschaft eben auch bunte Betriebe undWohnviertel gehören. Nicht die Menschen sind behindert, sondern sie werden behindert.Die Landesverordnung macht diesen Schritt nicht mit, sondern betoniert den Sonderweg. VieleEltern von Kindern mit Förderbedarf fühlen sich dadurch regelrecht verhöhnt. DieLandesverordnung sieht nämlich die Einbeziehung der Eltern ausdrücklich im § 5 vor. Aber ebennicht, wenn es um ein Notenzeugnis geht. Da ist viel Porzellan zerschlagen worden. Viele Elternsind regelrecht auf der Zinne. Dabei wollen sie nur, dass ihre Kinder die gleichenStartbedingungen wie alle andere Absolventen haben. Also ein Notenabschlusszeugnis, mit demsie sich erfolgreich bewerben können. Dass das möglich ist, zeigt die Regelung in § 3, dass beiUmzug in ein anderes Bundesland auf Antrag ein Notenzeugnis auszustellen ist. Es geht also!Sollen jetzt die Eltern alle umziehen, um ein Notenzeugnis zu bekommen? Absurdistan! Darumunser Antrag, die Landesverordnung zu ändern.Hinweis: Diese Rede kann hier ab dem folgenden Tag als Video abgerufen werden:http://www.landtag.ltsh.de/aktuell/mediathek/index.html