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05.09.18
12:20 Uhr
B 90/Grüne

Lasse Petersdotter zur Aktuellen Stunde zu Vorfällen in Chemnitz

Presseinformation

Landtagsfraktion Es gilt das gesprochene Wort! Schleswig-Holstein TOP 1 – Aktuelle Stunde zu Vorfällen in Chemnitz Pressesprecherin Claudia Jacob Dazu sagt der Sprecher für Landeshaus Strategien gegen Rechtsextremismus Düsternbrooker Weg 70 der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, 24105 Kiel
Zentrale: 0431 / 988 – 1500 Lasse Petersdotter: Durchwahl: 0431 / 988 - 1503 Mobil: 0172 / 541 83 53
presse@gruene.ltsh.de www.sh-gruene-fraktion.de
Nr. 310.18 / 05.09.2018


#wirsindmehr
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Abgeordnete,
am Samstag war ich gemeinsam mit meiner Kollegin Aminata Touré und 4000 anderen Demokrat*innen in Chemnitz. Wir schlossen uns den Protesten gegen den Aufmarsch von AfD, Pegida und ProChemnitz an. Ja, Frau von Sayn-Wittgenstein, jenen Protesten, die Ihrer Aussage zufolge „orchestriert von einem öffentlich-rechtlichen Propagandaap- parat im Stil der ‚Aktuellen Kamera‘“ seien.
Lassen Sie mich eins gleich zu Beginn sagen, weil es so entscheidend für das Funktio- nieren unserer Demokratie ist: Ihre völlig haltlosen Angriffe gegen eine freie Presse, Ihr rhetorischer Gleichschritt zu den „Lügenpresse“-Chören, Ihre geschichtsvergessene Relativierung der DDR bereitet den Nährboden dafür, dass sich zahlreiche Journa- list*innen nach ihrer Recherche in Chemnitz veranlasst sahen, in den sozialen Medien mitzuteilen, dass sie gesund zu Hause angekommen sind. Wir können die zu einem Markenkern der AfD gewordenen „Lügenpresse“-Rufe nicht von den zahlreichen körper- lichen Angriffen auf Journalist*innen in Chemnitz durch Teilnehmende der AfD- Demonstrationen trennen. Es ist einer der Geister, die Sie riefen.
Am Morgen des 26. August wurde der 34-jährige Daniel H. in Chemnitz Opfer eines Tö- tungsdeliktes. Tatverdächtig sind Geflüchtete. Unsere Reaktion muss der Rechtsstaat und Empathie mit den Opfern sein.
Die Tat ist furchtbar und unser Beileid gilt den Hinterbliebenen des Opfers, der auf die- se niederträchtige und sinnlose Weise aus dem Leben gerissen wurde. Insbesondere auch der Frau des Opfers, die nur wenige Stunden nach der Tat zum Teil der verloge- nen Instrumentalisierung des rechten Mobs gemacht wurde. Seite 1 von 3 Ich möchte nicht weiter auf die vermutliche politische Haltung des Opfers eingehen, nicht auf seinen Migrationshintergrund und die Perfidie, wie AfD, Pegida, ProChemnitz und andere mit seinem Gedenken umgehen. Ich wünsche mir, dass die Hinterbliebenen endlich Möglichkeit und Ruhe zur Trauer finden.
Warum ist es aber trotzdem wichtig, an dieser Stelle heute über die Äußerungen der Abgeordneten und AfD-Landesvorsitzenden Doris von Sayn-Wittgenstein zu sprechen?
Weil es uns nicht gleichgültig sein darf. Es darf uns nicht gleichgültig sein, wenn eine Abgeordnete dieses Hauses Neonazi-Kader, Rassist*innen, Nazi-Hooligans und rechte Rädelsführer der AfD als „Patrioten“ kleinredet. Unsere Reaktion darf nicht sein, dass man nichts anderes erwartet habe und wir deshalb wortlos zum Alltag übergehen. Gleichgültigkeit ist keine Reaktion. Gleichgültigkeit ist nie ein Anfang, es ist immer ein Ende. Wenn Doris von Sayn-Wittgenstein davon spricht, dass „Millionen illegal Einge- reister unser Rechtssystem vorführen und unsere Kultur, die wir in Jahrhunderten er- schaffen haben, verachten und zerstören“, dann empfinde ich keine Gleichgültigkeit, ich empfinde Zorn. Zorn als Motivation, Ihrer Fantasie von rechter Politik durch Solidarität mit den Opfern entgegen zu treten. Zorn im Sinne des berühmten Satzes von Papst Gregor dem Großen, der einst sagte: „Die Vernunft kann sich dem Bösen mit größerer Wucht entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand ist.“
Wir werden der Politik der AfD nicht mit Gleichgültigkeit begegnen, denn Gleichgültig- keit hilft immer den Tätern, nie den Opfern.
Und wir dürfen uns nicht dem Glauben hingeben, dass die Eskalationen von Chemnitz, Heidenau, Freital und vielen anderen Städten weit weg wären. Eine Lehre aus den Brandanschlägen von Mölln vor 25 Jahren ist auch, wie schnell auch hier Worte zu Ta- ten werden. Die Tatsache, dass in Schleswig-Holstein mehr rechte Übergriffe je Ein- wohner*in passieren, als in allen anderen westlichen Bundesländern, sind mehr als ein deutliches Warnsignal. Die Fehler der 90er Jahre, die zahlreichen rhetorischen Brand- stiftungen und Asylrechtsverschärfungen, dürfen nicht wiederholt werden.
Wir haben in Chemnitz gesehen, wie schnell sich durch eine eng vernetzte rechte Sze- ne aus einem Gerücht eine Pogromstimmung durchbrechen kann. Und nein, ich werde die Ablenkungsdebatte der Rechten, ab wann etwas eine Hetzjagd ist, nicht führen. Das Argument, dass für eine Hetzjagd die Jagdstrecken nicht lang genug gewesen seien, ist einfach nur schäbig. Ich werde Dreck nicht nach Geschmack sortieren. Diese Nebelker- zen sind so offensichtlich wie Signalraketen.
Die Rolle der AfD in Chemnitz hat gezeigt, dass sich diese Partei heute maximal noch von Gewalt, aber nicht von Gewalttätern distanziert. Ihre moralische Erosion lässt sich mittlerweile im Zeitraffer beobachten. Man versucht nicht einmal mehr, eine Distanz zu Pegida vorzuspielen. Am Samstag rief man gleich gemeinsam zur Demonstration auf, mit Lutz Bachmann in zweiter Reihe, hinter Björn Höcke. Umgeben von zahlreichen Neonazi-Größen, die ganz offen ihre Gesinnung zur Schau stellten. Es ist nur ein Sym- bol der fortschreitenden Radikalisierung der AfD, wenn ProChemnitz problemlos in den eigenen Marsch integriert werden kann. Es ist ein Symbol der Schande.
Und wie kommentieren Sie die Demonstration vom Samstag, Frau von Sayn- Wittgenstein? Sie sagen, sie seien „stolz“, dass es nicht zu Ausschreitungen gekommen sei. Und loben die „Führungsqualität“ der AfD-Organisator*innen. Welch entlarvende 2 Wortwahl. Aber da würde mich schon interessieren, wie Ihre Kollegen links und rechts von Ihnen dazu stehen. Immerhin wird Ihre Fraktion nicht müde, sich immer wieder als liberale Splittergruppe zu inszenieren. Herr Brodel, Herr Schaffer, wie stehen Sie denn nun zu den Führungsqualitäten der AfD in Chemnitz? Zur Tatsache, dass der Justizbe- amte, der den Haftbefehl veröffentlichte und damit wissentlich eine Straftat begonnen hat, prompt ein Jobangebot der AfD erhielt? Beziehen Sie doch endlich mal Position, anstatt immer nur so zu tun, als hätten Sie mit all dem nichts am Hut.
Zum Schluss möchte ich noch auf den letzten Satz Ihrer Pressemitteilung eingehen, Frau von Sayn-Wittgenstein. Da sagen Sie: „Holen wir uns unser Land zurück!“
Was meinen Sie genau damit? Wie wollen Sie es sich „holen“? Wer sind „wir“? Und wohin „zurück“ soll unser Land denn geholt werden?
Ich kann Ihnen sagen, was wir wollen: Wir wollen nicht mit Angst zurück in die Vergan- genheit. Wir wollen mit Mut nach vorne in die Zukunft. Und weil es in der öffentlichen Diskussion häufig untergeht: Wir sind mehr.
Auch wenn das kein Grund zum Ausruhen ist und diese Mehrheit immer auch fragil ist, gibt es Hoffnung. Allein in der vergangenen Woche: 4.000 Menschen in Kiel für Respekt und Menschenwürde. 15.000 Menschen in Frankfurt bei Rock gegen Rechts. 16.000 Menschen in Hamburg bei der Seebrücke-Demonstration. 65.000 Menschen in Chem- nitz bei dem größten Aufmarsch gegen Rechts in Ostdeutschland seit der Wiederverei- nigung.
Es ist längst überfällig, die hier auf die Straße gebrachten Sorgen endlich ernst zu neh- men.
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