Dr. Ralf Stegner zu TOP 40: Europa neu gründen
Es gilt das gesprochene Wort!Hinweis: Diese Rede kann hier als Video abgerufen werden: http://www.landtag.ltsh.de/aktuell/mediathek/index.html Kiel, 20. Juli 2016TOP 40: Nach dem Referendum Großbritanniens – Schleswig-Holstein in der EU (Drs. 18/4401)Dr. Ralf Stegner Europa neu gründen Der Tag der Brexit-Entscheidung war ein schlechter Tag für das vereinte Europa, aber es war vor allem ein rabenschwarzer Tag für Großbritannien – auch wenn der Brexit angesichts der schrecklichen Ereignisse von Nizza in seiner Bedeutung verblasst. Und auch der Putsch in der Türkei und seine Folgen geben Anlass, über Europa zu diskutieren.Dennoch: Die Börsen haben auf die Entscheidung der britischen Bevölkerung negativ reagiert, der Regierungswechsel lässt schwierige Verhandlungen erwarten.Man muss der neuen Premierministerin Theresa May wohl Erfolg wünschen, damit sie für die anderen Länder eine verlässliche und gute Verhandlungspartnerin wird. Ich fürchte, dass der Verlust von Arbeitsplätzen nur eine Folge dieser Entscheidung sein wird. Aber auch Fragen des möglichen Auseinanderbrechens des Vereinigten Königsreichs sind noch ungeklärt.Die Verhandlungen werden maßgeblich über die langfristigen wirtschaftlichen Konsequenzen eines Austritts Großbritanniens aus der EU entscheiden. An dieser Stelle werden die 27 verbleibenden Regierungen und damit auch die Bundesregierung vor dem Dilemma stehen, das richtige Maß zu finden. 2Einerseits können negative wirtschaftliche Konsequenzen eingedämmt werden, indem Großbritannien einen Zugang zum Binnenmarkt bekommt. Andererseits wären die Regierungen auch in der Lage, eine mittelfristige Schwächung der britischen Wirtschaft durch eine Verwehrung des Zugangs zum Binnenmarkt herzustellen und damit ein deutliches Zeichen für EU-Skeptiker zu setzen. Ich meine, Zugang zum Binnenmarkt ohne Freizügigkeit für die Menschen gibt es weder für die Schweiz und Norwegen und kann es auch für Großbritannien nicht geben. Alle Seiten brauchen jetzt Klarheit und deshalb hoffe ich, dass die notwendigen Gespräche schnell beginnen und der neue Artikel 50 (EUV) bald gezogen wird.Die Briten haben ihre Entscheidung getroffen. Aber was bedeutet das für Europa? Unser Ministerpräsident Torsten Albig hat vieles dazu gesagt – insbesondere zur Rolle Schleswig- Holsteins in diesem komplizierten Geflecht.Keine Frage: Der Brexit ist nicht das Ende Europas. Es kann aber auch nicht einfach so weitergehen wie bisher. Der Brexit ist mit Sicherheit weder die Gelegenheit für einen Neubeginn noch für Neukonstruktionen, aber es kann für Europa der Augenblick werden, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und, wie es der ehemalige EU-Parlamentspräsident Klaus Hänsch (in der „Süddeutschen Zeitung“) empfahl, klare Kante zu zeigen und Europa auf diese Weise zu festigen.Wir brauchen eine ideelle Neugründung Europas. Vier Punkte sind aus meiner Sicht dafür wichtig:1. Europa braucht Wachstum und Beschäftigung.Der gemeinsame Binnenmarkt ist eine zentrale Errungenschaft der europäischen Integration. Er muss so ausgestaltet werden, dass alle Menschen profitieren und Antworten auf die Ungleichheiten der Staaten gegeben werden.Staaten brauchen im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts mehr Möglichkeiten für antizyklische Fiskal-Entscheidungen, um Stabilität zu sichern – wenn möglich, ohne soziale Strukturen zu gefährden, wenn diese notwendig sind.Menschen werden nachvollziehbarerweise kein Verständnis dafür aufbringen, wenn sie brav ihre Steuern zahlen – gerade auch kleine Unternehmen –, aber große Konzerne praktisch gar 3keine. Das Land des Gewinns muss auch das Land der Steuern sein. Wenn ich hier mein Geld verdiene und hier von der Infrastruktur profitiere, leiste ich auch hier meinen Beitrag für das Gemeinwohl in Form von Steuern. Mehr verlangen wir ja gar nicht.Europa braucht mehr Mut zu Investitionen, denn2. Europa braucht Gerechtigkeit und Solidarität.Wie bekommen wir junge Menschen in Arbeit und geben allen Perspektiven? Das ist die zentrale Frage, die wir auf europäischer Ebene diskutieren müssen. Stattdessen wird diskutiert, wie scharf Spanien und Portugal sanktioniert werden sollen und ob Griechenlands Haushalt noch zu retten ist. Keine unwichtigen Fragen. Aber die Perspektive ist falsch. Wir diskutieren über Schuldenstand und Wirtschaftsdaten. Wir diskutieren nicht über Europäerinnen und Europäer und ihre Sorgen und Nöte. Ich bin überzeugt, genau das wird aber von uns erwartet. Die europäische Jugendgarantie ist ein guter Ansatz – füllen wir ihn weiter mit Leben!Viele weitere Themen sind jüngst deutlich geworden. Die „Panama Papers“ haben belegt, dass es ein gemeinsames Vorgehen gegen Steuerhinterziehung und -kriminalität braucht, der Terror stellt unsere Sicherheitsbehörden auf die Probe und der Umweltschutz ist ohnehin ein Bereich, in dem wir schon wissen, dass wir global denken müssen, um zu nachhaltigen Lösungen zu kommen.3. Europa braucht Demokratie und Transparenz.Wir brauchen eine stärkere Rolle des Europäischen Parlaments in den Entscheidungswegen. Eine Kommission, die in ihrem Handeln von den politischen Mehrheiten im Parlament abhängig ist und langfristig eine Zweite Kammer als Vertretung der Mitgliedstaaten, die dieses kontrolliert, aber nicht dominiert.4. Europa braucht eine neue Friedens- und Entspannungspolitik.Wir müssen in unserem gemeinsamen Handeln und mit einer Stimme nach außen unsere Werte verständlich machen. In unserer Sicherheits- und der Außenhandelspolitik, in unserer Entwicklungshilfe und im Klimaschutz liegt unsere Verantwortung für mögliche Ursachen von Flucht. Der Misserfolg ist deutlich zu spüren, stellen wir die Politik also auf den Prüfstand. 4Gleichzeitig müssen wir eine gemeinsame Asyl-, aber auch Einwanderungspolitik entwickeln. Wir müssen Menschen die soziale Sicherheit geben, die sie brauchen. Dann wird Europa für sie zu einem Synonym für Verlässlichkeit.Das Land Schleswig-Holstein kann seinen Beitrag dazu leisten. Beispielsweise indem wir uns mit entsprechenden Positionen in den europäischen Gremien zu Wort melden. Und indem wir die Ostseezusammenarbeit als einen besonderen Schwerpunkt in diesem Sinne mit Leben erfüllen.Die Legitimation der EU würde gewinnen, wenn der Erfolg der Europäischen Gemeinschaft deutlicher sichtbar wäre. Dazu gehört ein Bemühen der Bundesregierung und anderer Regierungen, in nationalen Debatten verstärkt auf den Einfluss internationaler Zusammenhänge auf nationale Schwierigkeiten einzugehen. Und wenn politische Lösungen auf nationaler oder europäischer Ebene gesucht werden, muss deutlich gemacht werden, wo Verhandlungsmöglichkeiten und wo Grenzen liegen. Die verbleibenden EU-27 müssen transparent darstellen, in welchen Bereichen sie von der EU profitieren und welche Kompetenzen sie der EU übertragen haben und werden.Wenn wir diese Herausforderungen beherzt und mit Leidenschaft angehen, dann ist mir um die Zukunft Europas nicht bange.