Lars Harms: Die Eingliederung der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt ist die vorrangige Aufgabe für die deutsche Gesellschaft
Presseinformation Kiel, den 20. Januar 2016Es gilt das gesprochene WortLars Harms TOP 9/ 17/ 20 Aktuelle Fragen der Asyl- und Ausländerpolitik Drs. 18/3611, 3734 und 3731 ,,Die Eingliederung der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt ist die vorrangige Aufgabe für die deutsche Gesellschaft.“Ich möchte dazu aufrufen, dass wir gemeinsam unsere Beobachtungsinstrumente scharf stellen.Wir schauen derzeit immer nur auf Gruppen, auf einzelne Länder; und dabei geraten uns dieEinzelpersonen aus dem Blick. Die vereinfachende Betrachtung führt durchweg zu negativenAssoziationen, die Menschen pauschal verurteilen und verunglimpfen. Das galt für die sogenannten Pleitegriechen genauso wie es jetzt für die so genannten Nordafrikaner gilt.Wir bewegen uns dabei auf einer schiefen Ebene, die unsere demokratischen Werte ins Rutschenbringt. In der Demokratie geht es um den einzelnen Menschen, um seine individuellen Rechteund seine Wünsche. Nur Unrechtsregime degradieren Menschen zum Teil eines Volkskörpersund versuchen ihre Individualität einzuebnen. Die FDP schreibt in ihrem Antrag vomGeneralverdacht und bringt damit diese Beobachtungsfehler auf den Punkt. Kurt Tucholsky hatbereits 1924 den Unsinn von nationalen Vorurteilen auf den Punkt gebracht, als er folgendes 2Gedicht schrieb: „Die Dänen sind geiziger als die Italiener. Alle Letten stehlen. Alle Bulgarenriechen schlecht. Rumänen sind tapferer als Franzosen. Russen unterschlagen Geld. - Das ist allesnicht wahr, wird aber im nächsten Kriege gedruckt zu lesen sein.“ So weit Tucholsky.Vorurteile und Pauschalisierungen bringen nichts – nur Unfrieden. Darum sollen wir uns aufunsere Tugenden besinnen: Gerechte, faire Verfahren unter Beachtung des Einzelfalles.Wer mit Flüchtlingen spricht bzw. ihnen zuhört, wird schnell merken, dass es Riesenunterschiedezwischen ihnen gibt. Pauschalisierungen helfen niemandem bzw. bedienen immer nur Vorurteileder falschen Seite. Das sage ich auch ausdrücklich denjenigen, die uns glauben machen wollen,dass alle Flüchtlinge nette Menschen sind. Nein, sind sie nicht. Flüchtlinge sind Menschen.Menschen haben nun mal Stärken und Schwächen. Flüchtlinge sind nicht per se kriminell. DerLeiter der Braunschweiger Kripo, Ulf Küch, hat genau in die Statistik gesehen und sagt gegenüberdem NDR: "Der Anteil von Kriminellen, die mit den Flüchtlingen nach Deutschland eingereistsind, ist prozentual nicht höher als der Anteil von Kriminellen in der deutschen Bevölkerung."Flüchtlinge sind nicht krimineller als andere; umgekehrt aber auch keine Engel. Dieser Befundliegt auf der Hand. Setzen wir darum die jeweiligen Vereinfacher-Brillen ab und stellen unsereBeobachtung scharf: und zwar auf den Einzelfall.Das gleiche möchte ich zum Antragsteil bezüglich der Sicherheit von Frauen auf der Kieler Wocheanfügen. Es gab bereits in der Vergangenheit sexuelle Übergriffe. Die neue Qualität derÜbergriffe aus einer Gruppe heraus erfordert andere Eingreifkonzepte und deutlich sichtbarePräsenz der Polizei. Die Einsatzkräfte sind allerdings jetzt gewarnt. Sie werden sicherlich mitbesonderer Aufmerksamkeit vorgehen und die Besonderheiten dieser Großveranstaltungberücksichtigen.Genau das ist das, was Deutschland ausmacht und was Deutschland den Flüchtlingen neben derGastfreundschaft bieten kann: die individuelle Beachtung und Bewertung. Vorfestlegungen wirdes darum mit dem SSW nicht geben. 3Ich bin davon überzeugt, dass wir es nicht mit zunehmender Fremdenfeindlichkeit zu tun haben,wie in der Antragsbegründung zu lesen, sondern mit einem Zuwachs an geäußerterFremdenfeindlichkeit; also das, was man sich traut zu sagen. Ich bin nicht so naiv zu glauben,dass in Deutschland Vorurteile und rechtsnationalistische Gesinnungen ausgerottet sind. Siesind weit verbreitet. Laut der Studie „Die stabilisierte Mitte – Rechtsextreme Einstellungen inDeutschland 2014“ der Uni Leipzig verfügt bundesweit etwa jeder 20. Befragte über eingeschlossenes rechtsextremes Weltbild. Manche halten damit hinter den Berg, meinen aberzunehmend, dass die Zeit wieder reif für ihre Meinung sei. Diese Entwicklung kann manausgezeichnet in den sozialen Netzwerken beobachten. Dort sind solche Gedankengebäudeimmer zuallererst sichtbar. Sie sind aber trotzdem nicht die Mehrheitsmeinung, sondern nurdie Meinungen einer dummen Minderheit!Die Liste von Brandanschlägen und ausländerfeindlicher Hetzpropaganda ist lang und reicht weitins letzte Jahrhundert zurück. Wir gedenken dieser Tage des Brandes in der LübeckerHafenstraße 1996; damals zur Hochzeit von Neonazi-Anschlägen und Aufmärschen. DieNeonazis lassen sich inzwischen die Haare wachsen, aber ihre Gesinnung lebt weiter; oftmals inder Mitte der Gesellschaft. Bei so mancher Veranstaltung höre ich ausländerfeindliche Hetze. Ichtue das nicht ab, sondern versuche, das Gespräch aufzunehmen. Wir Demokraten sind jetzt indiesen unübersichtlichen Zeiten besonders gefragt, uns auch unangenehmen Fragen zu stellen.Schnelle Lösungen wird es nämlich nicht geben. Die Schließung der Grenze kommt aus denschlimmen Erfahrungen, die wir im geteilten Deutschland machen mussten, nicht infrage.Niemand sollte sterben müssen, weil er eine Grenze passieren möchte. Mobilität ist einMenschenrecht. Darum begrüße ich ausdrücklich die Patrouillen der Bundeswehr im Mittelmeer,die die Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten.Auf der anderen Seite muss niemand eingesperrt werden, weil er in Deutschland bleiben möchte.Es war richtig, die Abschiebeeinrichtung in Rendsburg zu schließen. Monatelang waren dortFlüchtlinge ohne Bleiberecht eingesperrt. Allerdings muss der Staat auch die Möglichkeit haben, 4Flüchtlinge abzuschieben, um die Souveränität des Rechtsstaates zu wahren. Das geschieht jaauch. Das muss aber so gestaltet werden, dass die Menschenwürde nicht verletzt wird. DasAufenthaltsgesetz macht seit August letzten Jahres den so genannten Ausreisegewahrsammöglich. Der betrifft Menschen, die ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sindund/oder bei denen Fluchtgefahr besteht. Sie werden von ihren Wohnort abgeholt und solltendann am Flughafen in Räume gebracht werden, die sie nur noch in Richtung Flieger verlassenkönnen. Diese Unterbringung ist nur für einige Stunden oder Tage gedacht und keineswegs miteiner Abschiebehaft gleichzusetzen. Am Hamburger Flughafen wäre ein solches Gewahrsammöglich. Für uns wäre dabei klar, dass wir für ein solches Gewahrsam, das ja rechtlichverpflichtend ist, das möglichst mildeste Mittel genutzt wird, wie ich es auch gerade ebenbeschrieben habe.Eine Abschiebung in Kriegsgebiete kommt allerdings unter keinen Umständen in Frage. Wirwerden niemanden in den sicheren Tod schicken. Das gleiche gilt beispielsweise auch für dasehemalige afghanische Personal der Bundeswehr in Afghanistan. Diese Menschen und ihreFamilien müssen um ihr Leben fürchten. Eine Abschiebung ist darum ausgeschlossen. Dennochmuss nach wie vor jeder Einzelfall geprüft werden. Wenn wir uns dahingehend einig sind, istdamit auch das Ansinnen der Separierung vom Tisch. Das Wort Ghetto im Antrag der CDU-Antrag steht ja nicht ohne Grund in Anführungszeichen. Hilfsweise sollten wir von sozialenSlums mit ethnisch homogener Bevölkerung sprechen. Und die sind ja durchaus europäischeRealität, zum Beispiel in einigen Pariser Vorstädten. In Deutschland ist dagegen die gemischteBewohnerschaft die Regel, schrieb „Die Zeit“ im April 2013. In der vergleichenden Forschung wirdvon einem ethnisch geprägten Viertel erst dann gesprochen, wenn dort der Anteil einer Ethniemindestens 40 Prozent beträgt. Das ist in keiner deutschen Stadt der Fall. Normalität sind inDeutschland ethnisch gemischte Viertel mit einer deutschen Mehrheit. Die Politik in Berlinfürchtet allerdings, dass sich das gründlich ändern könne. Darum geistert der Vorschlag einerWohnortpflicht für Flüchtlinge in den Interviews herum. Die Flüchtlinge sollen statistisch genau 5übers Land verteilt werden und nicht die Großstädte verstopfen. Dies kann Sinn machen, wenngrößere Städte bei der Integration von ausländischen Mitbürgern überfordert sind. Flüchtlingewollen aber dort wohnen, wo sie Arbeit finden. Deshalb muss es zumindest die Ausnahme oderauch die Regel geben, dass man natürlich den Wohnort wechseln kann, wenn man andernortsArbeit gefunden hat.Zu bedenken ist in dieser Diskussion allerdings auch, dass die neuen Menschen auf bestehendeNetzwerke angewiesen sind, damit sie überhaupt eine Chance auf Integration haben.. Dannstehen sie auch möglichst schnell auf eigenen Beinen. Darum gibt es auch bei uns kleineethnische Kolonien; und zwar in allen großen deutschen Städten. Die Einwanderer suchen ihreLandsleute, die schon in Deutschland wohnen, gezielt auf, weil sie der Brückenkopf vertrauterHeimat in der Fremde sind. Zuwanderer sind aufgrund der geringen Sprachkenntnisse besondersauf informelle Hilfsnetze angewiesen, und die finden sie zumindest in der ersten Zeit in diesenVierteln. Genau aus diesem Grund gibt es eine große friesische Gemeinde in New York. VieleFriesen sind in den 1950er Jahren in die USA ausgewandert und haben ihre ersten Erfahrungennach der Auswanderung in Brooklyn gemacht. Das war ihr Sprungbrett in die amerikanischeGesellschaft. Diese Viertel ebnen also den Zugang. Allerdings nur unter der Bedingung, dass sienicht von der allgemeinen Infrastruktur abgekoppelt sind und auf diese Weise einen Einstieg indie Gastgesellschaft verhindern.Die Bundesagentur für Arbeit hat dem Vernehmen nach die Befürchtung, dass die freieWohnortwahl zu Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft führt. Entsprechende Daten sucht manallerdings, was Deutschland angeht, vergeblich. Die Arbeitsagenturen müssen sich verstärkt fürdie Integration der Flüchtlinge einsetzen. Das gehört zu ihren Aufgaben. Die Beratungsstrukturder Arbeitsagenturen muss sich also gründlich verändern und auf die Bedürfnisse der Flüchtlingezugeschnitten werden. Nicht die Flüchtlinge müssen ans System angepasst werden, sondern dieVerwaltung an ihre Kundschaft. Das wird noch eine anspruchsvolle Aufgabe für dieArbeitsagenturen werden. 6Zur Integration gehören Arbeit und ein sicherer Aufenthaltsstatus. Das ist im wahrsten Sinne desWortes alternativlos. Die Aussicht, dass viele Asylbewerber unter Umständen noch Jahre auf dieendgültige Abarbeitung ihres Antrages werden warten müssen, macht einen ratlos. Diemenschenrechtliche Situation in Deutschland ist unzumutbar. Die Registrierungsstelle InHeidelberg, die innerhalb von wenigen Tagen die Neuankömmlinge registriert und ihrenAsylantrag entgegennimmt, zeigt dagegen, wie es auch gehen kann: nämlich zügig und unterBeachtung aller Rechtsvorschriften. Dort zeigt sich, dass wir die geeigneten Verfahren haben;diese aber aufgrund von Engpässen auf Verwaltungsseite nicht umgesetzt werden können. Ichhalte gar nichts von immer neuen Gesetzesverschärfungen, wenn nicht einmal die bestehendenRegelungen angemessen umgesetzt werden können.Ohne Registrierung geht eben gar nichts, vor allem keine Integration den Arbeitsmarkt.Menschen ohne Arbeit fühlen sich aber ausgegrenzt, wertlos und nicht willkommen. Sie werdenDeutschland nicht durch eigenes Begreifen kennen lernen können. Darum ist die Eingliederungin den Arbeitsmarkt die vorrangige Aufgabe für die deutsche Gesellschaft. Ich bin aberzuversichtlich, dass die Aufgabe gemeinsam gelöst werden kann.Hinweis: Diese Rede kann hier als Video abgerufen werden:http://www.landtag.ltsh.de/aktuell/mediathek/index.html