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15.10.15
12:02 Uhr
B 90/Grüne

Eka von Kalben zur Flüchtlingspolitik

Presseinformation

Landtagsfraktion Schleswig-Holstein Es gilt das gesprochene Wort! Pressesprecherin Claudia Jacob TOP Flüchtlingspolitik Landeshaus Düsternbrooker Weg 70 Dazu sagt die Vorsitzende 24105 Kiel der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Zentrale: 0431 / 988 – 1500 Durchwahl: 0431 / 988 - 1503 Eka von Kalben: Mobil: 0172 / 541 83 53
presse@gruene.ltsh.de www.sh.gruene-fraktion.de
Nr. 424.15 / 15.10.2015


Wir schaffen es, weil wir es wollen
Meine Damen und Herren,
erneut und immer wieder diskutieren wir über das Thema Flucht. Große Chance, Un- terbringungskrise oder doch Katastrophenfall? Sorgen anzusprechen und ernst zu nehmen, den Fokus auch auf Probleme zuzulassen, ohne die Stimmung an die Wand zu reden: das ist ein Drahtseilakt.
Unsere Diskussion ist wichtig, damit wir als demokratische Parteien beieinander blei- ben. Wie wollen wir von der Gesellschaft erwarten, dass sie zusammen und bei der Stange bleibt, wenn wir uns im Parlament nicht auf einen konstruktiven Umgang mitei- nander einigen können?
Unsere Diskussion ist wichtig, weil wir Lösungen nur im Diskurs miteinander erarbei-ten können. Wer den Menschen erzählt, er hätte die fertigen Lösungen schon in der Ta- sche, streut ihnen Sand in die Augen.
Unsere Diskussion ist auch wichtig für die Richtung der gesellschaftlichen Debatte. Die Stimmung in der Bevölkerung ist unser wichtigstes Pfund. Denjenigen, die für sich in Anspruch nehmen, orakel-gleich die Stimmung in der Bevölkerung zu kennen, sei ge- sagt: Das Einflüstern von Stimmungen und Umfragen wird an unserer Haltung zu einer humanitären Flüchtlingspolitik nichts ändern.
Den ProphetInnen, die schon wissen, dass die Stimmung gekippt ist oder wann sie kip- pen wird, sei gesagt: Genau diese Prophezeiungen können die Angst entfachen oder steigern.
Wir machen Politik nach unseren Überzeugungen und unserer Haltung. Wir kippen
Seite 1 von 6 nicht wie ein Fähnlein im Wind entsprechend der Umfragewerte. Trotzdem versprechen wir: Wir hören zu und wir nehmen die Bevölkerung ernst. Letztendlich wird in der brei- ten Gesellschaft entschieden, ob die Integration gelingen oder auch misslingen wird. Als Politik müssen wir dafür die Grundlage legen.
Wir erleben eine Stimmung in Deutschland, die geprägt ist von engagierten Menschen an den Bahnhöfen, in den Erstaufnahmen, in den Kommunen vor Ort. Da sind Men- schen, die in der Zuwanderung eine Chance sehen und in den Flüchtlingen ei-ne Be- reicherung. Die anhand der Einzelschicksale mitfühlen und sich von den Geschichten der Menschen berühren lassen. Oder Menschen, die einfach darauf hinweisen, dass das Grundgesetz den Schutz von Flüchtlingen bei uns garantiert.
Dasselbe Grundgesetz, auf das Sie alle schwören lassen wollen, Herr Günther, dieses Grundgesetz spricht in Artikel 16 ausdrücklich nicht von Obergrenzen. Doch zurück zu den unterschiedlichen Stimmungen im Land.
Wir beobachten leider auch diejenigen, die unter dem Beifall vieler durch die Straßen ziehen und an der Lunte zündeln. Oder noch schlimmer: Diejenigen, die Häuser an- zünden und damit uns allen Angst machen. Berechtigte Angst.
Zu verhindern, dass sie Zulauf finden, ist die schwierigste Herausforderung. Gegen ihre Faktenleugnung, gegen die Gerüchte, die sie streuen, ist es nur schwer zu argumentie- ren. Ihrem Hass und ihrer Abneigung zu begegnen, ist eine Aufgabe für indische Heili- ge.
Aber wir können etwas tun, um uns zu wehren: Uns nicht vereinnahmen lassen. Unsere Zunge hüten und nicht weiteres Öl ins Feuer zu gießen. Mit Fakten gegen politische Slogans argumentieren, die sich auf Vorurteilen gründen. Und Haltung bewahren, für unsere Überzeugung eintreten.
Die politische Debatte ist ein Kampf um Worte. Und es ist eine Binsenwahrheit: diese Worte machen Politik. Ich bin überzeugt, wer immer wieder die kippende Stimmung be- schreibt, stößt sie selber um.
Wenn wir hier nur über vermeintliche Stimmungen streiten, helfen wir niemandem. We- der den Flüchtlingen, die ein Dach über dem Kopf, einen Sprachkurs und eine rasche Entscheidung über ihren Status erwarten. Noch den Menschen vor Ort, die sich im Eh- renamt erschöpfen oder nicht wissen, wo sie die nächste Wohnung für die fünfköpfige Familie mit dem behinderten Sohn finden sollen. Noch helfen wir denjenigen, die Angst haben, dass für sie nicht genügend über bleibt bei der Verteilung endlicher Ressour- cen.
Deshalb bin ich nach wie vor der Meinung, dass wir aus dem Zuzug das Beste machen sollten, was möglich ist - Für uns und für die, die zu uns kommen. Die Kanzlerin hat Recht mit dem Satz, dass wir das schaffen. Bei ihr schwingt da der Nebensatz mit „weil wir es müssen“.
Und ja, die Alternativen sind begrenzt. Viele Lösungsvorschläge sind eher langfristig und beschränken sich meist auf internationales Agieren. Da heißt es: „Wir müssen die Situation in den Herkunftsländern verändern.“ Natürlich müssen wir das. Schon lange müssen wir das.
Aber das liegt nicht allein in unserer Macht und vor allem geht es nicht besonders
2 schnell. Und, dieser Vorschlag hilft diesen Winter weder dem Landrat oder der Bürger- meisterin vor Ort und den Flüchtlingen schon mal gar nicht.
Und es heißt: „Wir müssen uns für eine gerechtere Verteilung von Flüchtlingen in Euro- pa und in der Welt einsetzen.“ Auch das ist leichter gefordert als umgesetzt: Deutsch- land hat sich in anderen Jahren, als die Lasten in Europa noch anders verteilt waren, dagegen rigoros gewehrt.
Das ging so lange gut, bis die Flüchtlinge sich auf den Weg gemacht haben und so vie- le waren, dass sie bis vor unsere Haustür gekommen sind. Sie stimmen mit den Füßen ab und haben auch gute Gründe, in einige europäische Länder nicht zu gehen. Ich würde auch nicht als Flüchtling nach Ungarn wollen.
Sehr geehrte Damen und Herren, viele Forderungen, die wir nun neuerdings aus der CDU hören, haben mit einer ernsten Debatte nicht mehr viel zu tun. Wie die jetzt neu geforderten Transitlager, zu denen Herr Liebing uns um Zustimmung bittet. „Aus den Augen, aus dem Sinn“ als sinnvolle Lösung? Sollen die Menschen, die täglich in Bayern ankommen, alle interniert werden? Wie groß soll denn dann so eine Einrichtung sein?
Wie viele PolizistInnen sollen solche Einrichtungen schützen? Bleiben dort nur die Flüchtlinge vom Balkan? Nein, vielen Dank. Auf diese Selektion können wir verzichten!
Wir brauchen einen Ausbau der Erstaufnahmen und wir brauchen ihn rasch. Neue La- ger brauchen wir nicht!
Sehr geehrte Damen und Herren, Auch das Paket, was dieser Tage in Berlin geschnürt wird, ist nur bedingt hilfreich, um wieder vor die Lage zu kommen. Integrationsmaßnahmen, ein kleiner Einwanderungs- korridor, finanzielle Unterstützung für die Länder und Kommunen und hoffentlich bald schnellere Verfahren beim BAMF.
Und daneben ein Bündel Maßnahmen, die der Theorie der Konservativen folgen: Je mehr wir abschrecken, umso weniger Menschen machen sich auf die Flucht. Als ob die Flucht von einem Selfie mit Merkel oder - genauso absurd - vom Taschengeld abhängt.
Wissen Sie, wie viel Taschengeld ein Erwachsener in der Erstaufnahme bekommt, Herr Günther? Wissen Sie wie viel eine Handykarte, eine Fahrkarte in den nächsten Ort zum Amt, ein Duschgel, eine Packung Tampons oder Aspirin oder ganz profan eine Schach- tel Zigaretten kosten?
Wenn die Menschen zig Tausende Euro für Schlepper ausgeben, glauben Sie im ernst, sie gehen auf die Flucht, um in einer Erstaufnahme mit zehn Leuten im Zimmer zu le- ben und ein Taschengeld von 4,60 Euro am Tag zu bekommen. Das ist doch wirklich Absurdistan.
Es ist gut, dass im Kompromiss ein Ermessen vereinbart wurde und wir werden dies ganz sicher nutzen. Das Sachleistungsprinzip ist nicht nur inhuman. Es ist auch büro- kratisch. Und Bürokratie kostet Geld. Geld, das wir lieber für etwas anderes ausgeben. Wir lehnen das Sachleistungsprinzip ab.
Ich will es nicht verhehlen: Die Ausweitung der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten sind eine besonders bittere Pille.
3 Ich habe die Diskussion meist als Scheindebatte bezeichnet: Weil natürlich viele Men- schen aus dem Westbalkan hier sowieso kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhalten und weil auf der anderen Seite die Einführung der sicheren Herkunftsstaaten auch kei- ne erheblichen Auswirkungen auf die Zugangszahlen haben.
Kurzfristig hatten sie sogar einen gegenteiligen Effekt: Mit der Einstufung einzelner Länder als sichere Herkunftsstaaten im letzten Jahr haben wir einen Migrationsschub in den Ländern ausgelöst, die jetzt zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden sollen.
Die beste Beschleunigung von Verfahren entsteht, wenn mehr Entscheiderinnen und Entscheider eingestellt werden. Das ist einem Rechtsstaat auch angemessen.
Wir haben uns dennoch zum gegenwärtigen Stand der Verhandlungen entschieden, ei- nem Kompromiss zuzustimmen, weil wir es für falsch halten, bei einer gesamtgesell- schaftlichen Herausforderung im Bundesrat ein Gesamtpaket zu blockieren.
Wir wollen eine humanitäre Flüchtlingspolitik. Aber wir sind auch Teil des demokrati- schen Systems und damit gezwungen, Kompromisse einzugehen.
Damit haben wir uns in eine Abwehrschlacht gegen die CDU/CSU begeben. Viele in der CDU/CSU hoffen, mit einer Verschlechterung der Situation der Flüchtlinge in Deutschland dafür zu sorgen, dass die Menschen im Krieg oder in Hungerlagern blei- ben.
Ich frage mich wirklich: Wie können sie gleichzeitig einer Politik der Unfreundlichkeit gegenüber Flüchtlingen das Wort reden und dann fordern, die Menschen müssen sich schnell integrieren? Das passt nicht zusammen und das wird Ihnen auch noch auf die Füße fallen!
Wieder einmal wird mit Scheinlösungen operiert. Weder Zäune noch die Deklarierung als sicherer Herkunftsstaat ändern etwas an den Fluchtursachen. Diese Scheindebat- ten gehen an den Realitäten vorbei.
Es bleibt Fakt: Wir werden in den nächsten Jahren sehr, sehr viele Zuwandernde in Deutschland haben. Deshalb ist der Satz der Kanzlerin „Wir schaffen das.“ kein politi- sches Bekenntnis, sondern eine Wahrheit: Wir müssen das schaffen, weil wir müssen. Weil es gar keine Alternative gibt.
Wir aber wollen den Satz anders schreiben: Wir schaffen es, weil wir es wollen!
Sehr geehrte Damen und Herren, unser Blick muss sich nach vorne richten: Aus Gästen müssen BürgerInnen werden. Und genau das tut diese Regierung, neben dem täglichen ad hoc-Management. Dies wurde heute und in den vergangenen Monaten ja ausreichend ausgeführt. Diese Regie- rung muss sich wahrlich keine Tatenlosigkeit vorwerfen lassen!
Und, liebe Opposition, wir wissen, dass wir bei Lehrer- und Polizeistellen nachlegen müssen. Genauso wie in vielen anderen Bereichen. Dafür brauchen wir gewiss keine Nachhilfe von Ihnen. Aber wir brauchen nicht nur die Stellen, sondern auch die Köpfe und Fortbildungen für die vorhandenen Menschen.
Und gerade, weil es am Ende tatsächlich nicht nur eine Frage des Geldes ist, wie wir
4 die Hilfe und wie wir die Integration bewältigen. Gerade deshalb müssen wir auch dar- über nachdenken, wie wir das Potenzial der Flüchtlinge noch besser nutzen können. Sie sollen nicht Gäste auf Dauer bleiben. Wenn sie wollen, sollen sie als BürgerInnen dieses Landes bleiben dürfen.
Aber wirkliche BürgerIn dieses Landes wird man nicht mit irgendwelchen Gelöbnissen auf etwas, was man genauso wenig kennt wie vermutlich viele deutsche BürgerInnen. Sondern das geschieht dadurch, dass wir ihnen etwas zutrauen. Das wir den Zuwan- dernden die Gelegenheit geben, sich einzubringen.
Deshalb ist es wirklich unglaublich, dass entgegen dem Wunsch aller Länder, die Vor- rangprüfung für arbeitssuchende Flüchtlinge immer noch nicht vollständig aufgehoben wurde.
Handwerkskammer, IHK, Unternehmerverband: Alle betonen, wie groß die Bereitschaft der Betriebe ist, Flüchtlinge zu beschäftigen und auszubilden. Nur Bayern und die Bun- desregierung haben diese wirtschaftsfreundliche Lösung verhindert. Es konnte nicht er- reicht werden, dieses bürokratische Hemmnis zu senken. Aus Angst, dass Menschen kommen, die anderen die Arbeitsplätze wegnehmen? Das ist doch wirklich absurd.
Wenn wir nicht wollen, dass auf allen Seiten Frust entsteht, dann müssen in einem neuen Gesetzesvorschlag der Bundesregierung keine sinnlosen Abschottungsversuche stehen, sondern: die Abschaffung der Vorrangprüfung, die Aufenthaltssicherheit für Auszubildende während der Ausbildung und beim Start in den Job und die finanzielle Absicherung in Schule, im Übergang und in der Ausbildung. Das wäre hilfreich!
Sehr geehrte Damen und Herren, es ist wichtig, für die Menschen eine winterfeste Unterkunft zu schaffen, und was unser Innenministerium mit Stefan Studt und Manuela Söller-Winkler hier leisten, ist unglaub- lich. Ich danke beiden an dieser Stelle ausdrücklich.
Es ist eine enorme Leistung, Erstaufnahmeplätze in extrem kurzer Zeit zu verzehnfa- chen. Und ein Ende ist nicht in Sicht.
Natürlich gibt es immer Missstände und von außen hat man tausend Ideen, wie das al- les viel besser ginge. Und ja: es fehlt aller Orten an Personal, nicht nur beim Landes- amt. Aber eingearbeitete, möglichst krisenerprobte Leitungskräfte, PolizistInnen, Sozi- alarbeiterInnen, die kann keiner von uns schnitzen, auch nicht die Opposition nehme ich an.
Ich bedanke mich jedenfalls ausdrücklich bei allen, die ein Teil des freundlichen Ge- sichts Schleswig-Holsteins sind. Und wir können es gar nicht oft genug betonen: Ohne diejenigen vor Ort - sei es im Ehrenamt oder im Hauptamt - ginge es sicher nicht. Jede Unterstützung, die wir den Helfenden geben, zahlt sich doppelt aus!
Und Erstaufnahmeplätze schaffen allein reicht nicht. Überfüllte Gemeinschaftsunter- künfte sind inhuman. Sie erzeugen Frust, Krankheit und leider auch Gewalt. Deshalb muss es unser Ziel sein, so schnell wie möglich bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, Leerstände zu nutzen. Auch, um den Konkurrenzdruck auf dem Wohnungsmarkt mit anderen Bevölkerungsgruppen oder Studierenden nicht zu verstärken.
Lassen Sie mich auf die Macht der Worte zurückkommen. Nicht nur die Pegida- DemonstrantInnen beschwören die Angst vor dem Fremden. Auch die Äußerungen von
5 CSU und leider auch manche Passagen in Landtagsanträgen von CDU und FDP las- sen vermuten, dass Flüchtlinge nach Schleswig-Holstein kommen, die keine Zivilisation kennen.
Menschen, die zu uns kommen, sind nicht per se besser oder schlechter als wir. Men- schen, die zu uns kommen, können andere Prägungen haben. Aber viele sind bereit, sich auf Neues einzulassen.
Wir wollen den Flüchtlingen eine Chance geben, mit uns gemeinsam dieses Land fit für die Zukunft zu machen. Das Land wird sich verändern, wie es sich durch Digitalisie- rung, Energiewende oder demografischen Wandel verändert.
Das stellt uns vor Herausforderungen, aber Veränderungen verhindern auch Stillstand und Stillstand ist häufig Rückschritt.
Wir werden diese Herausforderung schaffen, nicht nur weil wir es müssen, sondern auch weil wir es wollen.
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