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17.07.15
11:19 Uhr
SSW

Jette Waldinger-Thiering: Gedenkstätten sollten Denkstätten werden

Presseinformation Kiel, den 17. Juli 2015

Es gilt das gesprochene Wort



Jette Waldinger-Thiering TOP 27 70 Jahre nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft: Politische Verantwortung für historische Erinnerung Drs. 18/3183

,,Gedenkstätten sollten Denkstätten werden.“



„Ein Ort, an den man gerne geht“. Das ist der provokante Titel einer politikwissenschaftlichen
Untersuchung über das Holocaust-Mahnmal in Berlin, das sich tatsächlich zu einem
Publikumsmagneten entwickelt hat. Damit hat das Mahnmal viel zur Auseinandersetzung mit
der Verfolgung und Ermordung europäischer Juden durch das NS-Regime beigetragen.
Auch Gedenkstätten brauchen Besucherinnen und Besucher; gerade weil sie Gewalt bezeugen.
Die Konfrontation mit der Vergangenheit ist unumgänglich. Sie ist nicht vorbei, weil es keine
Zeitzeugen mehr gibt, denn unsere Verantwortung lebt weiter. Die kritische Erinnerung an
Herrschaft, Verbrecher und Verfolgte des Nationalsozialismus müssen gesellschaftsnah und mit
modernen Mitteln erfolgen, auch um den Nachgeborenen die Chance für die
Auseinandersetzung der Geschichte zu geben. 2
Schleswig-Holstein hatte in dieser Hinsicht einen enormen Nachholbedarf.
Der Grund liegt auf der Hand: viele Funktionäre des NS-Regimes konnten ihre Karrieren der
Gewalt fast nahtlos im demokratischen Deutschland fortsetzen und besetzten
Schlüsselpositionen bei Polizei, Justiz und Behörden Schleswig-Holsteins. Im Norden bestand ein
gesellschaftlicher Druck, keine Fragen nach Schuld und Verantwortung zu stellen oder, wenn
überhaupt zu marginalisieren und zu entpersonalisieren; also Schuldige nicht zu benennen. Die
Konsequenzen dieser Verleugnungspolitik spüren wir bis heute. So erhielt Schleswig-Holstein
erst im letzten Jahr erstmals Bundesmittel für eine Gedenkstätte. Eine bittersüße Premiere, die
einen enormen Nachholbedarf symbolisierte.


Es ist ein großer Verdienst der Bürgerstiftung, nicht nur die Erneuerung der Erinnerungsarbeit
anzumahnen, sondern sich praktisch für die politische Umsetzung zu kümmern. Dieses
bürgerschaftliche Engagement ist der richtige Weg, Erinnerungspolitik im Land zu verankern.
Die Rahmenbedingungen für diese Arbeit müssen allerdings dringend verbessert werden. Die
Professionalisierung der Gedenkstättenarbeit ist die Grundlage für eine nachhaltige Arbeit. Das
Ehrenamt braucht ein Gerüst, auf das es sich verlassen kann. Ohne Profis geht es nicht in den
Gedenkstätten, denn diese sichern die fachliche Arbeit. Das können wir besonders gut an der
Neuausrichtung der Gedenkstätte in Ladelund erkennen.


Die Neustrukturierung der Bürgerstiftung bietet dem Landtag die Möglichkeit, sich als
demokratischer Akteur in die fachliche Arbeit einzubringen. Uns Politikerinnen und Politikern
wird schließlich nicht zu Unrecht vorgeworfen, in ritualisiertem Erinnern zu erstarren. Darum
begrüßt es der SSW ausdrücklich, dass sich der Landtag in die Pflicht nehmen lässt, an der
Gestaltung der Gedenkstättenarbeit mitzuwirken. 3
Wir Pädagogen wissen das: Sachen, also Gebäude oder historische Gegenstände des täglichen
Lebens, sprechen nicht für sich selbst. Kinder und Jugendliche müssen sich Dinge erst aneignen;
am besten mittels einer Erklärung bzw. eines persönlichen Gesprächs. Erinnerungsstätten
verbürgen weder die historische Gewalt noch erklären sie diese. Sie bezeugen, zu was Menschen
fähig sind. Gedenkstätten sollten Denkstätten werden. Reingehen, gucken und abhaken – das ist
eben gerade nicht im Sinne einer politischen Erinnerungsarbeit, die versucht, Mechanismen des
Machtmissbrauchs zu verdeutlichen. Nur mit lebendiger Auseinandersetzung können wir das
Gedenken fruchtbar für unsere Zeit nutzen.


Die Auseinandersetzung muss sich ändern, weil sich die Menschen ändern. Wir sprechen und
denken heute im Duktus des 21. Jahrhunderts. Daran muss die Gedenkstättenarbeit anknüpfen.
Gedenkstättenarbeit wird sich ändern, weil wir nach dem Tod der letzten Überlebenden mit
größerer Distanz die Vergangenheit aufarbeiten können. Es sind eben vielerorts nicht mehr die
Elterngenerationen der Besucherinnen und Besucher, sondern die der Groß- und Urgroßeltern.
Daher können Fragen nach Schuld in gewisser Weise schonungsloser gestellt werden. So harrt
die Frage nach dem Umfang der so genannten Arisierung, also des Raubs jüdischen Vermögens,
immer noch der Klärung, auch in Schleswig-Holstein.
Das kann moderne Gedenkstättenarbeit leisten und wir sollten die Chance nutzen; sieben
Jahrzehnte nach der Befreiung.