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20.11.13
15:26 Uhr
SPD

Jürgen Weber zu TOP 18: Historische Aufarbeitung in gesellschaftlichen Kontext einbinden

Es gilt das gesprochene Wort!
Kiel, 20. November 2013



TOP 18: Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität nach 1945 (Drucksache 18/1144neu)



Jürgen Weber:
Historische Aufarbeitung in gesellschaftlichen Kontext einbinden

Als 1951 das von der Landesregierung eingebrachte sogenannte Entnazifizierungs- Schlussgesetz im Landtag beraten wurde, das die ohnehin weitgehend unwirksam durchgeführte Entnazifizierung in Schleswig-Holstein endgültig beendete, formulierte resignierend und mit beißender Ironie der SPD-Abgeordnete Wilhelm Käber: „Wenn man die Tendenz der Vorlage ... kritisch prüft, dann muss man feststellen, dass dieses Gesetz eigentlich gar nicht vollständig ist. Man müsste noch einen Paragraphen hinzufügen, dessen Absatz 1 zu lauten hätte: Schleswig- Holstein stellt fest, dass es in Deutschland nie einen Nationalsozialismus gegeben hat.“
Ebenfalls hier im Landtag formulierte wenige Jahre später Ministerpräsident von Hassel seine Zufriedenheit darüber, dass Schleswig-Holstein weit mehr Beamte aus der NS-Zeit wiederbeschäftigt habe als die bundesgesetzlich vorgeschriebenen 20%: „Wir haben 50% hereingenommen, also weit mehr als unser Soll“, resümierte er.
An Beispielen für Vergessen, Verdrängen und Verharmlosen gibt es keinen Mangel. Bis in die 1980er Jahre war die historische Aufarbeitung des Nationalsozialismus und seiner Folgen in Schleswig-Holstein eher marginal. Es waren dabei wiederum unser Landtag und unsere Landesregierung, von denen in den Jahren 1989/1990 ein wichtiger Impuls ausging. Aufgrund einer Großen Anfrage der SPD-Fraktion zur Nachwirkung der NS-Vergangenheit und zum aktuellen Rechtsextremismus legte die Landesregierung eine umfassende Bestandsaufnahme 2



vor, die das Wissen und vor allem die Wissenslücken über das Nachwirken des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein beleuchtete. Es waren zuvor eher Geschichtsvereine und lokale Forscherinnen und Forscher als die Hochschulen des Landes, die Neues zu Tage förderten.
Seit dieser Zeit hat es eine Vielzahl von Untersuchungen und Publikationen gegeben, die das Bild einer stark von ehemaligen Nationalsozialisten durchsetzten gesellschaftlichen Nomenklatura in unserem Land ergänzt hat. Dabei geht es heute nicht mehr um eine symbolisch-exemplarische Skandalisierung. Dass dieses Land reich an Skandalen wie der Heyde/Sawade Affäre war, dass es nirgendwo mehr ehemalige Nationalsozialisten in den Regierungen der 50er Jahre gegeben hat, dass in Justiz, Polizei und Verwaltung eine frühere NSDAP-Mitgliedschaft selten hinderlich, manchmal gar förderlich war – alles das ist belegt und muss nicht mehr mit der Attitüde der Empörung den Weg in das öffentliche Bewusstsein suchen.
Im Rahmen einer Analyse sind Fragen von zwei Seiten zu stellen: Welche Gefahren und Relativierungen gingen aus für die demokratische Entwicklung der Gesellschaft von einer möglicherweise überbordenden Kontinuität der Eliten und Funktionsträger in Schleswig- Holstein?
Aber auch andererseits: Welche Chancen und Impulse für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft wurden freigesetzt durch eine Integration ehemaliger Mitglieder von NS- Formationen in den neuen demokratischen Staat?
Bis heute halten z.B. die Auseinandersetzungen darüber an, ob es in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs möglich war, ohne einen eigenen Mitgliedsantrag ausgefüllt zu haben, in der Mitgliederkartei der NSDAP geführt zu werden. Im Bundesarchiv liegen Mitgliedskarten für Hans Werner Henze, Dieter Hildebrandt, Martin Walser, Erhard Eppler, Horst Ehmke, Siegfried Lenz und viele andere vor, von denen nur Erhard Eppler eingeräumt hat, überhaupt etwas von seiner Parteimitgliedschaft gewusst zu haben.
Es war sehr wohl möglich, im Dritten Reich zu überleben, wenn man nicht Parteimitglied war, es war aber schwierig, sich Mitgliedschaften in der Deutschen Arbeitsfront, in den zahllosen gleichgeschalteten Berufsverbänden, im Winterhilfswerk, in „Kraft durch Freude“ und anderen Säulen der nationalsozialistischen Polykratie zu entziehen. 3



In der „Stunde Null“ 1945 einen Schnitt zu machen und alle Parteimitglieder vom Zugang zu Ämtern und Funktionen auszuschließen, war unmöglich, da ein großer Teil der beruflich aktiven Generation den Krieg nicht überlebt hatte. Und da sich die Feindbilder der Westalliierten sehr schnell wieder dahin konzentrierten, wo schon das Feindbild der Nazis gewesen war, nämlich auf die Sowjetunion, wurde im Sinne einer Kollektivschuldthese das Ausmaß der individuellen Schuld sehr schnell relativiert. Die beantragte Studie muss daher nicht nur die Situation in unserem Land analysieren und darstellen, sondern sie auch in den Kontext der politischen und geistigen Entwicklung in der westdeutschen Gesellschaft insgesamt einbinden.
Dass historische Forschung nicht Selbstzweck, sondern Grundlage für Selbstvergewisserung, Argument und Munition gegen immer wieder aufkeimenden Rechtsextremismus ist, haben wir Landesparlamentarier immer wieder deutlich gemacht, ganz besonders im Rahmen der großen Debatte über die Verbindungen zwischen Nationalsozialismus und DVU im Oktober 1992.
Ich bitte um Zustimmung.