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13.12.12
11:42 Uhr
B 90/Grüne

Eka von Kalben zum Europabericht 2012

Presseinformation

Landtagsfraktion Schleswig-Holstein Es gilt das gesprochene Wort! Pressesprecherin Claudia Jacob TOP 1A+ 55 – Regierungserklärung zu Europa Landeshaus Düsternbrooker Weg 70 Dazu sagt die Fraktionsvorsitzende 24105 Kiel der Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Telefon: 0431 / 988 - 1503 Fax: 0431 / 988 - 1501 Eka von Kalben: Mobil: 0172 / 541 83 53
presse@gruene.ltsh.de www.sh.gruene-fraktion.de
Nr. 535.12 / 13.12.2012

Schleswig-Holstein in Europa: engagiert, energetisch erneuerbar und effizient
Herr Präsident, meine Damen und Herren,
Wir sind Nobelpreisträger! Das ist etwas, auf das wir stolz sein können und das uns wenigstens für einen kurzen Augenblick wieder den Blick klar werden lässt auf den ei- gentlichen Kern Europas, auf die Gründungsidee der institutionalisierten europäischen Zusammenarbeit. Europa war Jahrtausende lang ein Schlachtfeld – Spanien gegen England, Österreich gegen Frankreich, Dänemark gegen Schweden, Russland gegen Polen, Italien gegen die Türkei und Deutschland gegen alle.
Die unsagbare Katastrophe des zweiten Weltkriegs, die halb Europa in Trümmern leg- te, ließ die Menschen innehalten und es ist Politikern wie Konrad Adenauer und Charles de Gaulle zu verdanken, die erstmals das Signal sandten: man muss ein Stück nationale Souveränität aufgeben, um als Europa zusammenzuwachsen.
Was als europäische Wirtschaftsgemeinschaft begann, ist heute ein Verbund von 27 Staaten mit über 500 Millionen Einwohnern. Mit Staaten wie Polen und Ungarn, Bulga- rien und Rumänien sind in den letzten Jahren Nationen hinzugekommen, die unendlich Wichtiges zu der europäischen Geschichte und Kultur beigetragen haben. Unter den Mitgliedern der EU sind heute zahlreiche Staaten, deren Einwohner jahrzehntelang un- ter der Teilung Europas und unter den politischen Zwangssystemen gelitten haben.
Aber was das Allerwichtigste ist: In den Ländern der Europäischen Gemeinschaft hat es seit 1945 keine zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikte mehr gegeben. Es entwi- ckelte sich eine Periode des Wohlstands und des Handels, wie es sie in Europa nie ge- geben hat. Das ist eine Erfolgsgeschichte, die wir bei aller, auch berechtigten, Kritik an den Europäischen Institutionen nie aus den Augen verlieren dürfen. Der Erfolg hat viele Seite 1 von 4 Väter (und Mütter) sagt man. Was gibt es daher Schöneres als der gesamten Bevölke- rung der Europäischen Union gemeinsam den Friedensnobelpreis zu verleihen?
Es gibt jedoch auch die andere Seite der Medaille: Denk ich an Europa in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht! Dieses abge- wandelte Heine-Zitat schwirrt vielleicht manchem im Kopf herum, wenn er an Europa denkt. Europa hat derzeit ein echtes Imageproblem. Die Schuldenkrise einzelner Staa- ten, das Gefühl unüberschaubarer Komplexität unseres europäischen Finanzwesens und das Gefühl aufgeblähter Bürokratie. Dies alles führt bei vielen Menschen zu Ver- druss und Entfremdung. Die europaskeptischen Töne, gerade an den Stammtischen, werden lauter. Und diese Vorbehalte werden auch gern besonders von Seiten der CSU und FDP geschürt – aus parteipolitischem Kalkül! Aber diesen Zögerern und Zockern sage ich: Wer auf Kosten der Europäischen Solidarität, auf Kosten der europäischen Einigung sein populistisches Süppchen kocht, der muss diese Suppe dann selbst aus- löffeln, wenn die Probleme in Europa mal wieder anbrennen!
Darum müssen wir als überzeugte Europäer die Krise als echte Chance und Heraus- forderung begreifen. Die Küstenkoalition hat nicht von ungefähr der Europapolitik in ih- rem Koalitionsvertrag einen sehr breiten Raum gegeben.
Neben der Kooperation im Ostseeraum und der Frage der Ausgestaltung der Struk- turfondsförderung, beides zentrale Themen mit hoher Bedeutung für die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes, enthält der Koalitionsvertrag auch Aussagen zur Europafähig- keit des Landes und zur Weiterentwicklung der Europäischen Union.
Da mag sich manch einer fragen, was das eigentlich bedeuten soll mit der Europafä- higkeit oder warum wir uns hier im Land überhaupt mit der Weiterentwicklung der EU beschäftigen sollten. Können das nicht die in Brüssel machen, oder in Straßburg, oder Frau Merkel, Monsieur Hollande und Mister Cameron? Ich möchte daher diese beiden Punkte einmal erläutern.
Viele Menschen interessieren sich nicht für die Politik auf der europäischen Ebene, das kommt auch in der Beteiligung an den Wahlen zum Europaparlament zum Ausdruck. Dabei werden auf der europäischen Ebene Beschlüsse gefasst, die auch uns ganz konkret hier in Schleswig-Holstein betreffen und nicht weniger Auswirkungen auf unser Leben haben als Landesgesetzgebung oder Beschlüsse des Bundestages. Mangelnde Betroffenheit kann also nicht der Grund sein für das Desinteresse. Eher liegt es wohl an der Kompliziertheit der Entscheidungsstrukturen: wie kommen Beschlüsse oder Ge- setzte auf EU-Ebene eigentlich zustande? Viele haben da nur sehr vage Vorstellungen.
Europa ist aber eine Ebene der politischen Entscheidung, die wir auch in der Landes- politik mit im Blick haben müssen. Wir können sie nicht ausblenden, genauso wenig wie die kommunale Ebene oder die Bundesebene. Europapolitik ist nicht nur Europapolitik, sie ist Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Umweltpolitik, Verkehrspolitik, Energiepolitik. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Zu allen diesen Politikfeldern gibt es unterschiedliche Auffassungen der verschiedenen politischen Gruppierungen im EU-Parlament, gibt es kontroverse Debatten, wird um Mehrheiten gekämpft für richtungsweisende Entschei- dungen.
Das müssen wir den Menschen besser vermitteln. Wenn über Europa diskutiert wird, entsteht nur allzu oft, dass auf der einen Seite die Europaskeptiker bzw. Europakritiker sind, die sagen, es wird uns viel zu viel von Brüssel vorgeschrieben, die EU ist ein bü- rokratisches Monster, auf der anderen Seite diejenigen, die das Projekt Europa vertei-
2 digen, mit Aussagen wie „Europa sichert den Frieden“ und „Wir sind alle Europäer“.
Beide Haltungen greifen zu kurz. Sie verdecken die unterschiedlichen Interessen, die unterschiedlichen miteinander konkurrierenden Konzepte und Lösungsstrategien für die enormen Herausforderungen, vor der wir europaweit stehen.
Zum Beispiel die Frage, wie unsere Energieversorgung aussehen soll? Setzen wir in weiten Teilen Europas weiter auf Atomkraft und auf die Ausbeutung der letzten Vorräte fossiler Brennstoffe mit fragwürdigen Technologien, wie z.B. dem Fra- cking? Oder sind wir in Schleswig-Holstein die Top-Runner, die beweisen, wie eine Energiewende funktionieren kann? Treiben wir die Energiewende voran durch Effizienz- technologien und Umstellung auf 300 % Erneuerbare?
Schaffen wir gemeinsam in Europa die Herkulesaufgabe, ein europäisches Supergrid auf den Weg zu bringen? Ein Energienetz, das die verschiedenen Erzeugungsstandor- te der Erneuerbaren Energien verbindet: Solarkraft aus Spanien, Wasserkraft aus Nor- wegen, Windenergie aus Schleswig-Holstein.
Einen ersten Schritt sind wir mit der getroffenen Rahmenvereinbarung über den Bau eines Unterseekabels zwischen Norwegen und Schleswig-Holstein in der vergangenen Woche gegangen.
Beide Partner profitieren von so einer Stromverbindung: Das geplante Hochspan- nungsübertragungskabel ermöglicht einen Stromaustausch zwischen Norwegen und Schleswig-Holstein. Überschüssiger Windstrom kann in Norwegen verbraucht oder ge- speichert werden, während bei hiesiger Flaute Strom aus Wasserkraftwerken die Nach- frage befriedigen kann. So stabilisieren sich unterschiedliche regenerative Energien gegenseitig. Die neue Integration der Strommärkte von Norwegen und Deutschland bringt Rückenwind für die Energiewende und die Netzstabilität. Das ist der Einstieg in das Europäische Supergrid.
Seit dem Lissabon-Vertrag haben wir als Parlamentarier auch mehr Mitwirkungsrechte. Wir haben die Möglichkeit, unsere Anliegen im Rahmen der Gesetzgebungsverfahren auf europäischer Ebene einzubringen. Wir haben das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission vorliegen, in dem dar- gestellt ist, welche Ziele die Kommission schwerpunktmäßig verfolgen wird und welche legislativen Maßnahmen dazu eingeleitet werden. Wir bekommen im Rahmen des Subsidiaritätsfrühwarnsystems alle Gesetzentwürfe, um zu prüfen, ob die EU in Befugnisse des Landes unzulässig eingreift und ob eine eu- ropaweite Regelung in dem Fall überhaupt gerechtfertigt ist, oder die Angelegenheit besser national bzw. regional geregelt werden sollte.
Das ist eine riesige Fülle an Dokumenten, mit denen wir da überschüttet werden. Damit wir unsere Mitwirkungsrechte auch wahrnehmen können, müssen wir uns kon- zentrieren auf die für unser Land wichtigsten Vorhaben. Diese sollten wir möglichst identifizieren, bevor die Entwürfe dazu auf europäischer Ebene schon weitgehend ab- gestimmt sind.
Wir müssen lernen, uns frühzeitiger mit konkreten Vorschlägen und Forderungen in die Debatten einzubringen. Das meinen wir unter anderem mit „Europafähigkeit stärken“. Dafür brauchen wir auch eine Vertretung des Landtages in Brüssel, wie es bereits viele andere Landesparlamente haben. Wir wollen das gerne, mit Hamburg zusammen, im Hanse-Office ansiedeln. Aber auch in der Landesverwaltung und auf kommunaler Ebe-
3 ne wollen wir die Europafähigkeit stärken.
In unserem Koalitionsvertrag heißt es: Unser Ziel ist ein soziales, demokratisches und solidarisches Europa. Heißt das, Europa ist momentan unsozial, undemokratisch und unsolidarisch? Nein, auf keinen Fall. Die EU leistet eine wichtigen Beitrag beim Aus- gleich sozialer Ungleichgewichte in Europa. Die Entscheidungsstrukturen in der EU sind demokratisch. Die Beschlüsse des Ministerrates sind demokratisch legitimiert durch die demokratisch verfassten Mitgliedsstaaten. Das Europaparlament hat im Laufe der Wei- terentwicklung der Verträge immer mehr Mitwirkungsrechte erhalten. Heute werden be- reits 90 Prozent aller Gesetze in der EU nur mit Zustimmung des Parlamentes verab- schiedet. Wir Grüne haben uns immer für ein starkes Europaparlament eingesetzt und sind froh über diese Entwicklung.
Es gibt aber auch noch Defizite bei den bestehenden Strukturen. Gerade bei den Ent- scheidungen, die in Zusammenhang mit der Eurokrise getroffen wurden, beobachten wir, dass das Parlament häufig außen vor geblieben ist.
Wir stellen fest, dass es zu großen Schwierigkeiten führt, wenn eine gemeinsame Wäh- rungspolitik nicht einhergeht mit einer gemeinsamen oder jedenfalls abgestimmten Wirtschaftspolitik.
Wir stellen fest, dass es ein großes Bedürfnis nach mehr Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie nicht nur in unserem Land gibt, sondern dass die Menschen europaweit stärker in politische Entscheidungen eingebunden werden wollen.
Wir stellen fest, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander- geht, nicht nur in unserem Land, sondern auch zwischen armen und reichen Regionen in der EU. Diese wachsenden sozialen Ungleichgewichte schaden letztlich allen.
Ich bin überzeugt: Wenn wir gemeinsam in Europa für eine gerechtere Besteuerung, für die Bekämpfung von Steuerflucht und für tragfähige Sozialversicherungssysteme ein- treten, erreichen wir letztlich mehr, als wenn wir unsere vermeintlich nationalen Interes- se vor anderen verteidigen. Eine Kirchturmpolitik, die versucht im Rahmen der europäi- schen Strukturen letztendlich doch nur seinen eigenen nationalen oder sogar regiona- len Vorteil zu suchen, wird nicht funktionieren.
Die Frage ist nicht, wollen wir Europa oder wollen wir es nicht, sondern, welches Euro- pa wollen wir? Wie wird das Europa von morgen aussehen?
Wir wollen als Parlamentarier daran mitwirken, wir wollen aber auch, dass die Zivilge- sellschaft angemessen beteiligt wird. Darum setzen wir uns für einen neuen Europäi- schen Konvent ein zur Weiterentwicklung der europäischen Verträge.

Meine Damen und Herren, die Ministerin hat die Leitlinien der Landesregierung zu Europa vorgestellt, die den Titel trägt: „Schleswig-Holstein in Europa: Konzentration, Kompetenz und Kooperation“. Ich möchte diese schöne Alliteration fortsetzen mit „Schleswig-Holstein in Europa: enga- giert, energetisch erneuerbar und effizient.“

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