Dr. Henning Höppner zu TOP 40: 85 Prozent Inklusion ist machbar - aber nicht zum Nulltarif
Es gilt das gesprochene Wort! Kiel, 16. September 2011TOP 40, Bericht zur landesweiten Umsetzung von Inklusion in der Schule (Drucksache 17/1568)Dr. Henning Höppner:85 Prozent Inklusion ist machbar – aber nicht zum NulltarifZwei Zahlen zum Eingang: Es gibt in Deutschland fast eine halbe Million Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf; und mehr als drei Viertel aller Abgänger von Förderschulen erreichen keinen Hauptschulabschluss.„Mit der Ratifizierung der UN-Konvention ist inklusive Bildung ein Menschenrecht. Das ist das stärkste Argument für gemeinsames Lernen überhaupt“, so die Bildungsjournalistin Brigitte Schumann. Aber wie sieht die deutsche Realität aus? Der Inklusionsgrad in Deutschland liegt bei nur 20 %, und wir in Schleswig-Holstein stehen – ein sehr seltenes Lebensgefühl – tatsächlich mal an der Spitze der Bewegung mit 53,8 %. Das ist maßgeblich das Verdienst unserer früheren Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave zusammen mit vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.Diesen bundesweiten Vergleich sollte man auch immer vor Augen haben, wenn es um Länderrankings geht. Denn manche Bundesländer, besonders in Ostdeutschland, machen sich das Leben sehr einfach, indem sie möglichst viele Kinder in die Förderzentren abschieben. Dass deren Regelschulen bessere Punktwerte erzielen, kann unter diesen Umständen nicht verwundern; darum ist der Ländervergleich ohne diesen Aspekt einfach unredlich.Wie sträflich in anderen Ländern mit der Feststellung eines Förderbedarfs umgegangen wird, zeigen die Daten im Bericht. Rheinland-Pfalz stellt nur für 4,5 % der Kinder einen Förderbedarf fest, aber Mecklenburg-Vorpommern für fast 12 %. 1999 wiesen in Mecklenburg-Vorpommern nicht einmal 7 % der Kinder einen Förderbedarf auf, aber 2008 knapp 12 %. Entweder werden in jedem Jahr und in jedem Bundesland andere Methoden der Feststellung angewendet, oder die 2Quotenfeststellung orientiert sich an dem Ziel, möglichst viele Schüler mit Schwächen aus dem allgemein bildenden Schulwesen loszuwerden.Nach dem Regierungswechsel von 2009 konnte man den Eindruck gewinnen, als würde sich die Landesregierung vom Ziel der Inklusion abwenden, zumal auf den Websites des Ministeriums unter dem Suchwort „Inklusion“ fast keine Einträge mehr zu finden waren. Deswegen begrüßen wir es ausdrücklich, dass die Landesregierung mit diesem Bericht klar gemacht hat, dass auch sie sich dem Ziel der Inklusion verpflichtet fühlt und diesen Weg auch weiter gehen will.Inklusion entspricht dem Willen der meisten Eltern, von denen sich nur wenige dafür entscheiden, ihr Kind in einem Förderzentrum unterrichten zu lassen. Die weitaus meisten Eltern entscheiden wohlüberlegt und nicht aus übertriebenem Ehrgeiz heraus, der das eigene Kind überfordert. Diese Entscheidungsfreiheit wird aber nicht dadurch abgesichert, dass unser Schulwesen durch die Schulgesetznovelle wieder komplizierter gestaltet worden ist. Das längere gemeinsame Lernen, auch von Schülern mit und ohne Behinderungen, muss sich auch in der Schulstruktur abbilden.Zum Elternwillen gehört auch die Befürchtung vieler Mütter und Väter, dass ihre nicht behinderten Kinder in ihrem Lernerfolg gehemmt würden, wenn andere Kinder in ihrer Klasse besonders gefördert werden müssten. Wir müssen solche Befürchtungen ernst nehmen, weil eine Verweigerungshaltung der Eltern, die sich auch ihren Kindern mitteilt, das gemeinsame Lernen beeinträchtigen kann. Aber wir können auf die vielen Schulen verweisen, die sich dieser Herausforderung mit großem Erfolg gestellt haben und im Gegenteil zeigen: Alle beteiligten Kinder gewinnen soziale Kompetenzen und Selbstvertrauen, und es ist eine gesicherte Erkenntnis, dass man von seinesgleichen mehr lernt als von dem, der da vor der Klasse steht.Wir teilen nicht die Auffassung der Landesregierung, dass Inklusion zum Nulltarif zu haben ist. Die Schulen brauchen für Schulklassen, in denen integrativ beziehungsweise inklusiv unterrichtet wird, Entlastungsstunden und sie müssen die Möglichkeit haben, wenigstens manche Stunden mit zwei Lehrkräften zu unterrichten. Diesen Stellenbedarf können Sie nicht allein dadurch absichern, dass an den Förderzentren immer weniger Kinder unterrichtet werden und dass die Lehrkräfte deswegen verstärkt an allgemein bildenden Schulen eingesetzt werden können.Jedes Kind mit einem Handicap, das einen möglichst hohen qualifizierten Schulabschluss erreicht, wird in Zukunft als Steuerzahler zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben beitragen können, statt lebenslang nur Transferleistungen zu empfangen. Hier zu sparen, z.B. durch die Streichung von I-Stunden, wird uns alle noch teuer zu stehen kommen. 3Wir haben in Schleswig-Holstein gemeinsam auf dem Weg zur Inklusion viel erreicht. Dieser Spitzenplatz ist kein Ruhekissen, sondern eine Verpflichtung, auf diesem Weg zügig weiter fortzuschreiten. Die europäische Marke von 85 % ist erreichbar, und sie sollte noch in diesem Jahrzehnt erreicht werden. Das wird einer unserer Schwerpunkte für die nächste Legislaturperiode sein.