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24.08.11
16:36 Uhr
B 90/Grüne

Robert Habeck zur Verwaltungsstrukturreform

Presseinformation

Es gilt das gesprochene Wort! Landtagsfraktion Schleswig-Holstein TOP 5, 6, 8 – Verwaltungsstrukturreform Pressesprecherin Claudia Jacob Dazu sagt der Vorsitzende Landeshaus Düsternbrooker Weg 70 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, 24105 Kiel Robert Habeck: Telefon: 0431 / 988 - 1503 Fax: 0431 / 988 - 1501 Mobil: 0172 / 541 83 53 presse@gruene.ltsh.de www.sh.gruene-fraktion.de
Nr. 454.11 / 24.08.2011 Entscheidungen müssen in direkt gewählten Gremien fallen
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren,
ich bin in Heikendorf groß geworden. Ich weiß, wie es sich anfühlt, gegen Schönkirchen im Fußball zu verlieren und sich mit Schönbergern zu prügeln. Ein Laboer hat mir mei- ne Freundin ausgespannt, die Brodersdorfer haben in der Klasse nie einen zwischen sich sitzen lassen – ich weiß, wie es sich anfühlt, in einem Dorf aufzuwachsen und was dörfliche Identität bedeutet. Aber sind das starke politische Argumente?
Ich habe die letzten zehn Jahre in Großenwiehe gelebt. Ich weiß, wie hämisch wir über das jahrelang leer stehende Gewerbegebiet in Wanderup geredet haben, bis wir eifer- süchtig sahen, wie eine Solar-Scheune neben der anderen dort entstand. Ich kenne den Streit zwischen Gemeinden über den Standort von Oberstufenzentren an Gemein- schaftsschulen, ich weiß um die Auseinandersetzungen bei der Genehmigung neuer Baugebiete mit dem zentralen Ort. Aber ist es klug, sich von seiner Eifersucht oder Häme leiten zu lassen?
Meine Damen und Herren, was wir brauchen, und vielleicht können wir uns wenigstens darauf einigen, ist ein starker Begriff kommunaler Selbstverantwortung. Und das ist mehr als Rhetorik. Das bedeutet, dass es zwei Grundsatz-Prinzipien gibt.
Erstens: In der Kommune entscheiden Menschen in direkt gewählten Gremien über die staatlichen Angelegenheiten, die ihr Leben unmittelbar betreffen. Entscheiden die Men- schen nicht, sondern fallen Entscheidungen in indirekt legitimierten Gremien, also Zweckverbandsausschüssen oder Amtsausschüssen, verstoßen wir gegen den starken Begriff von kommunaler Selbstverantwortung. Haben Kommunen nicht mehr über die Angelegenheiten zu entscheiden, die ihr Leben unmittelbar betreffen – Kita, Schule, weiterführende Schulen, Kulturangebote, Altersheim – geben wir einen starken Begriff kommunaler Selbstverwaltung auf. Und das, sehr geehrter Herr Schlie, tun Sie. Seite 1 von 4 Es ist leicht, „alle Macht den Dörfern“ zu rufen, wenn die Dörfer faktisch ohnmächtig sind. Ihre Gesetzesvorlage heilt den Verfassungsverstoß, den das Landesverfassungs- gericht festgestellt hat, für den Moment. Aber er geht nicht von einem starken Begriff kommunaler Selbstverantwortung aus, sondern höhlt diese immer mehr aus, indem er sich einzig auf die Form von Verfahren konzentriert, nicht mehr auf die Substanz von Kommunalpolitik.
Schlimmer ist, dass er nicht zukunftsfest ist. Das war eher noch Ihr alter Gesetzentwurf, der die Streichung des Paragraf 5 Gemeindeordnung vorsah. Dieser hätte zwar die Kommunen überfordert, indem er sie zur Wahrnehmung von Aufgaben verpflichtet hät- te, die sie gar nicht mehr wahrnehmen können – genau das ist ja das eigentliche Prob- lem – aber er hätte vermutlich so einige Dynamik in die kommunale Landschaft ge- bracht. Der jetzige Entwurf ist nicht geeignet, den kommenden Herausforderungen zu begegnen.
Ich zitiere als Leumund gegen Sie, Herr Schlie, Sie selbst aus der Zeitung „Die Ge- meinde“: „Angesichts all dieser Rechtsunsicherheiten wird mit einer Kataloglösung kaum sicherzustellen sein, dass kein einziges Amt den Charakter eines Gemeindever- bandes erlangt.. …. Eine Regelung, die es zulässt, dass auch nur ein einziges Amt die Grenze zum Gemeindeverband überschreitet, ohne für dieses Amt zugleich die unmit- telbare demokratische Legitimation vorzusehen, wäre demnach erneut verfassungswid- rig. … Im Ergebnis weist daher eine Kataloglösung nicht aus sich heraus die notwendi- ge Flexibilität aus, sondern müsste ständig überprüft und ggf. regelmäßig in einem er- neuten, entsprechend aufwendigen Gesetzgebungsverfahren an gesellschaftliche Ver- änderungen angepasst werden, um über einen längeren Zeitraum hinweg rechtssicher Bestand haben zu können.“
Genau so ist es, Herr Innenminister – und genau das machen sie jetzt. Bürokratieab- bau a la Schwarz-Gelb.
Genau diesen Vorschlag legen Sie uns nun vor, dass nämlich die Gemeinden aus ei- nem Katalog von 16 Selbstverwaltungsaufgaben fünf Aufgaben an die Ämter delegier- ten dürfen. Fünf aus 16? Das ist die kommunale Zukunft? Das ist das politische Ange- bot an die Gemeinden? Das ist nicht Gestaltung, das ist Lotto.
SPD-Spitzenkandidat Torsten Albig schlug jüngst vor, den 120 Mio. Eingriff in den kommunalen Finanzausgleich der CDU-SPD-Regierung zu kompensieren, indem man ein Viertel der öffentlichen Aufgaben abbaut. Im NDR-Interview präzisierte er, dass Denkmalschutz und Stadtplanung abgebaut werden könnten. Mal abgesehen von der Sinnhaftigkeit und dem ewigen Rumgehacke auf dem Denkmalschutz – es gibt in die- sen beiden Bereichen zusammengenommen vielleicht hundert Stellen. Selbst wenn wir also gar keine Stadtplanung mehr machen würden und gar keinen Denkmalschutz um- setzen würden – was rechtlich wie praktisch gar nicht geht – fehlten noch immer 24.900 Stellen, bzw. in Prozenten 99,6 Prozent der anvisierten Aufgabenkritik.
Dabei ist Albigs Vorsatz von Verwaltungsvereinfachung ja richtig - nur ist er systema- tisch falsch beantwortet. Wir haben auf der kommunalen Ebene eine Ebene zu viele, hier müsste Aufgabenkritik ansetzen. Unterhalb der Kreise sollte es nur noch eine Ver- waltungsebene geben. Genau das aber will der SPD-Gesetzentwurf bewahren. Ihr Entwurf passt nicht zu den Ankündigungen von Herrn Albig.
Meine Damen und Herren, starke kommunale Selbstverwaltung bedeutet, dass es et- 2 was zu entscheiden geben muss. Und wo es das nicht gibt, müssen die Kommunen so groß sein und so stark sein, dass es etwas zu entscheiden gibt. Wir brauchen also grö- ßere, stärkere und handlungsfähigere Gemeinden in Schleswig-Holstein.
Auf den ersten Plakaten gegen die CO2-Endlagerung stand als Gebietskörperschaft „Amt Schafflund/Amt Südtondern“. Die meisten der Eingaben von kommunaler Seite, die ich und meine KollegInnen Fraktionsvorsitzenden bekommen, kommen von den Ämtern – von den Ämtern, die eigentlich doch nur Schreibstuben sein sollten, sich de facto aber zu Schülerkostenbeförderung, Y-Modell und Küstenschutzabgabe positionie- ren – schon längst denkt die Bevölkerung politisch in größeren Einheiten als nur dem Dorf.
Nun ist die Frage, wie schaffen wir eine starke, kommunale Selbstverwaltung, die direkt legitimierte demokratische Gremien hat. Nun, hier gibt es einiges zu lernen und wir, die Grünen, haben einiges gelernt und unsere Position korrigiert.
Erstens sehen wir nicht, wie das Land auf Kosten der Kommunen weiter sparen kann. Jeder Euro, den die Kommunen durch eine Reform einsparen, ist ein Euro der Kom- munen und soll bei ihnen bleiben. Das schließt eine Schlechterstellung für Gemeinden, die sich reformieren, im Kommunalen Finanzausgleich durch einen veränderten Schlüssel über fünf Jahre mit ein.
Zweitens wird jedes Modell scheitern, das am Reisbrett die Landkarte von Schleswig- Holstein neu zeichnet. Wie Verwaltungs- und Kommunalkulissen innerhalb von politi- schen Rahmenbedingungen am besten aussehen sollen, entscheiden am besten die Kommunen.
Drittens setzen wir auf Anreiz und nicht auf Zwang und haben deshalb das ohnehin im Gesetz vorgesehene Prämienmodell für Fusionen aufgestockt um 100.000 Euro pro Gemeinde, falls eine neue Gemeinde eine hautamtliche Verwaltung überflüssig macht.
Viertens sollen die Menschen in den Gemeinden selbst und direkt in einer Urabstim- mung über den Zusammenschluss mit anderen Gemeinden entscheiden, fünftens ha- ben wir – gerade weil wir wissen, wie sich Fußball-Niederlagen, Prügeleien und Liebes- ränke mit den Nachbardörfern anfühlen – die Dorfschaft als eigene lokale Einheit ge- stärkt.
Und sechstens bedeutet kommunale Selbstverwaltung in der Konsequenz eben auch, hinzunehmen, wenn sich Kommunen gegen größere Gebietseinheiten entscheiden. Das nehmen wir hin, auch wenn wir es für falsch halten. Was wir allerdings nicht hin- nehmen können, ist ein Verstoß gegen das Prinzip kommunaler Selbstverwaltung, dass nämlich Entscheidungen in direkt gewählten Gremien fallen müssen. Deshalb ist die Konsequenz, dass da, wo es keine so starken Gemeinden gibt, dass die Ämter über- flüssig werden, die Amtsausschüsse dann direkt gewählt werden.
Und, meine Damen und Herren, auch die Kreise werden sich fragen lassen müssen, in wie weit kommunale Selbstverantwortung in ihnen noch politisch gelebt werden kann. Für einige von ihnen kann man das anzweifeln. Auch die Kreise sind – ich will das nach dem neuerlichen Urteil des Verfassungsgerichts in Mecklenburg-Vorpommern nur in Er- innerung rufen – kein Selbstzweck, sondern müssen ihrem demokratischen Auftrag ge- recht werden. Und wo sie das nicht tun, müssen die Strukturen so geändert werden, dass sie es tun. Das betrifft finanzielle Spielräume wie die Kontrolle von Gremien – et- wa wenn ich an die neuen Regionalplanungsverbünde denke.
3 Meine Damen und Herren, ich gebe gern zu, dass dieser Weg etwas mühsamer ist, als per ordre mufti zu entscheiden und sich die Welt zu machen „wiedewiesie“ einem ge- fällt – aber er ist konsequent und folgerichtig, wenn man einen Staatsaufbau will, der sich von unten legitimiert, wenn man Bürgerbeteiligung und Demokratie ernst nimmt und Subsidiarität so versteht, dass Probleme da gelöst werden sollen, wo sie entste- hen.
Wenn wir wollen, dass wir starke Kommunen haben, wenn wir kommunale Selbstver- waltung ernst nehmen, wenn wir wollen, dass die Dinge funktionieren, wie wir sie kann- ten, dann müssen wir sie ändern.

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