Kai Dolgner zu TOP 57: Kriminalstatistik ist nur ein Indikator für die wahren Verhältnisse
Es gilt das gesprochene Wort! Kiel, 16. Dezember 2010TOP 57, Sicherheitsbericht für Schleswig-Holstein (Drucksache 17/783)Kai Dolgner:Kriminalstatistik ist nur ein Indikator für die wahren VerhältnisseWie der vorgelegte Sicherheitsbericht in seinem Vorwort richtig ausführt, ist die Aussagekraft der reinen polizeilichen Kriminalstatistik begrenzt.Ein kommentierender und interpretierender Sicherheitsbericht ist deshalb auch richtig und notwendig. Der vorgelegte Sicherheitsbericht schwächelt aber genau an dieser Stelle, vor allem, wenn vertiefende Erkenntnisse schon vorliegen.Ich möchte dieses bei den viel diskutierten jugendlichen Intensivtätern deutlich machen. Laut Sicherheitsbericht hat sich in den letzten 5 Jahren die Zahl der jungen Intensivtäter verfünffacht. Nun sollen diese auch laut Sicherheitsbericht für 2/3 aller registrierten Straftaten dieser Altersgruppe verantwortlich sein. Wenn ich diese beiden Informationen zusammenführe, würde das bedeuten, dass sich die Jugendkriminalität im Berichtszeitraum hätte verdreifachen müssen.Nun sind aber die registrierten Straftaten junger Menschen im Berichtszeitraum sogar leicht zurückgegangen. Das kann doch nicht nur mir aufgefallen sein, dass da irgendetwas nicht stimmig ist.Ich habe mir daraufhin einmal die Anfrage des Kollegen Lehnert aus dem letzten Jahr angeguckt. Aha, die Zahl der Intensivtäter ist in der Polizeidirektion Lübeck ist mit 274 fast dreimal so hoch wie in der Polizeidirektion Kiel. Wenn die Intensivtäter wirklich für den 2/3 aller Straftaten verantwortlich sind, dann müsste ja auch die Jugendkriminalität in Lübeck höher sein und zwar doppelt so hoch. Und was wären die Ursachen dafür? Ist kindlicher Marzipankonsum ein Risikofaktor für eine spätere kriminelle Karriere? Aber ich kann Entwarnung geben, normiert 2an den Einwohnerzahlen ist Lübeck nicht unsicherer als Kiel. Erst eine intensive Nachfrage meinerseits im Ausschuss brachte es ans Licht: Die Erfassungsmodalitäten sind völlig unterschiedlich in Lübeck und Kiel. Das kann doch wohl nicht wahr sein!Immerhin werden Intensivtäterzahlen vielfältig in den Diskussionen um den richtigen Umgang mit der Jugendkriminalität genutzt. Und in Niedersachsen sind nur 92 Intensivtäter registriert. Das sind gerade 10% von Schleswig-Holsteins Zahlen. Und das ist nur ein Beispiel, in dem der Sicherheitsbericht hätte ausführlicher und methodisch sicherer sein können.Ein gutes Beispiel, wie es auch gehen kann, findet sich im Jugendtaskforce-Bericht. So klärt er den scheinbaren Widerspruch auf, warum zwar die erfassten Gewalt- und Rohheitsdelikte an Schulen leicht gestiegen ist, der Anteil der Schülerinnen und Schüler aber, die bei Dunkelfelduntersuchungen angeben, Opfer einer Körperverletzung oder eines Raubes geworden zu sein, von 1998 bis 2008 in Kiel (und nicht nur in Kiel) spürbar gesunken ist. Dies ist nur scheinbar ein Widerspruch. Das Anzeigeverhalten der Schüler ist gestiegen: Wurde 1998 jede 5. Körperverletzung zur Anzeige gebracht, ist es heute jede 4.Ich möchte es aber vermeiden, bewusst oder unbewusst missverstanden zu werden: Ich habe Ihnen diese Beispiele nicht genannt, um das Problem verfestigter krimineller Karrieren oder Gewalttätigkeiten auf dem Schulhöfen zu verharmlosen. Es muss aber jedem, der mit diesen Zahlen umgeht, klar sein, dass die polizeiliche Kriminalstatistik nur das Hellfeld abbildet und nur einer der Indikatoren für die wahren Verhältnisse sein kann. So kann zum Beispiel schon der massive vermehrte Einsatz von Fahrkartenkontrolleuren die erfasste Kriminalitätsrate von Jugendlichen massiv steigern, obwohl die Schwarzfahrten real in einem solchen Fall sogar zurückgehen dürften, was jeder von Ihnen sicher leicht nachvollziehen kann.Wenn wir uns also Gedanken über mögliche Konsequenzen von Sicherheitsberichten u.a. in der Jugend-, Rechts- und Sozialpolitik machen, müssen diese Sicherheitsberichte möglichst nah an der Wirklichkeit sein. Sie sollten, wo immer möglich, plausible Erklärungen für die statistisch dokumentierten Veränderungen bieten, damit möglichst wenig Raum für fachlich fragwürdige politische Interpretationen von Kriminalitätsstatistiken bleibt.