Dr. Ralf Stegner zu TOP 16, 29, 34,41: Bildung und Teilhabe aller Kinder ist der Schlüssel für die Zukunft
Es gilt das gesprochene Wort! Kiel, 18. November 2010TOP 16, 29, 34, 41: Sanktionen gegen Hartz IV-Beziehende aussetzen; Mobilitätskosten im Regelsatz berücksichtigen; Teilhabe stärken - Regelsätze transparent halten; Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums umsetzen (Drucksache 17/911, 17/984, 17/992, 17/1001)Dr. Ralf Stegner:Bildung und Teilhabe aller Kinder ist der Schlüssel für die ZukunftDie konkrete Ausgestaltung der Sozialgesetzgebung ist bereits mehrfach hier im Plenum Diskussionsthema gewesen. Seit nunmehr fast sechs Jahren steht das Stichwort „Hartz- IV“ für einen politischen Dauerkonflikt. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war grundsätzlich richtig - das Prinzip Fördern und Fordern auch. Ich erinnere mich gut, dass dies damals im Vermittlungsausschuss unter der aktiven Beteiligung von Gerhard Schröder, Joschka Fischer, Angela Merkel und Guido Westerwelle ausgehandelt wurde. Dennoch ist es so, dass die ganze Sache primär der SPD geschadet hat.Aus dieser Entwicklung, der problematischen Anwendungspraxis und der Wahrnehmung bei den Bürgerinnen und Bürgern haben wir unsere Lehren gezogen. Als Politiker sollte man nicht weitreichende Gesetze beschließen und sich dann nach dem Motto „abgehakt“ einem neuen Thema widmen. Nein, wir müssen uns auch gefallen lassen, dass Gesetze hinterfragt und im Detail kritischen Prüfungen unterzogen werden.Da sich die Gesellschaft einem permanenten Wandel unterzieht, müssen wir auch die Gesetze der Realität anpassen. Das gilt erst recht, wenn 7,7 Mio Menschen auf Grundsicherung angewiesen sind und 2 Mio Kinder statistisch als „arm“ gelten. In diesem Fall hat uns nicht Einsicht, sondern ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu schnellem Handeln gezwungen und eine Neuberechnung der Regelsätze gefordert. Der 2CSU-Landesgruppenvorsitzende im Deutschen Bundestag, Friedrich, ging damals von einer Erhöhung des Regelsatzes für Kinder aus. Frau von der Leyen jubelte am Tag der Urteilsverkündung „heute ist die Bildung der Kinder der große Sieger“.Was ist davon übriggeblieben? Der vorgelegte Gesetzentwurf der schwarz-gelben Bundesregierung bleibt meilenweit hinter den Ankündigungen, vor allem aber hinter den Erwartungen der Menschen und den Anforderungen einer gerechten sozialpolitischen Weichenstellung zurück.Es geht eben nicht um Banker, Hoteliers, Energiekonzerne oder die Pharmaindustrie, es geht um arme Kinder und deren Eltern und die haben bei Konservativen und Liberalen leider keine Lobby. • Bei den Regelsätzen lassen Sie für die Erwachsenen sage und schreibe 5 Euro springen (364 statt 359 Euro), • leistungsberechtigte Kinder und Jugendliche bekommen nun ein eigenständiges Sozialgeld, gestaffelt nach Altersgruppen: Klasse - die Sätze bleiben allerdings unverändert (Jugendliche zwischen 14 bis unter 18 Jahren erhalten 287 Euro/Kinder zwischen sechs und 13 Jahren 251 Euro und Kinder unter sechs Jahre 215 Euro im Monat); kein Wunder, wenn man bei den statistischen Referenzgrößen getrickst hat.Und dann hatte Frau Merkels PR-Abteilung die Idee, das Sozialgeld um ein sogenanntes „Bildungspaket“ zu ergänzen. Klingt gut. Es wäre sehr wünschenswert, wenn Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben für die Kinder von Geringverdienern und Transferempfängerfamilien tatsächlich nachhaltig verbessert würde; geben wir doch gerade 4,7 % des BSP für Bildung aus, deutlich unter dem OECD-Schnitt und kaum mehr als die Hälfte von Island oder den USA. Frau von der Leyen sagt: • für Schülerinnen und Schüler und Kinder in der KiTa würden die tatsächlichen Kosten für Schulausflüge und mehrtägige Klassenfahrten übernommen 3 • Schülerinnen und Schüler erhalten für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf zum 1.August 70 Euro und zum 1. Februar 30 Euro (das hatte schon die SPD eingeführt) • Schülerinnen und Schüler erhalten eine angemessene schulische Angebote ergänzende Lernförderung • Schülerinnen und Schüler und Kinder in der KiTa erhalten entstehende Mehraufwendungen für ein Mittagessen und • 10 Euro monatlich für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben (Mitgliedsbeiträge, Unterricht in künstlerischen Fächern, Teilnahme an Freizeiten).Diese Leistungen sollen durch „personalisierte Gutscheine“ oder durch Kostenübernahmeerklärungen erbracht werden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Agentur für Arbeit – wie wir alle wissen, sind das anerkannte Nachhilfeexperten und ja auch kaum anderweitig ausgelastet - sollen gewährleisten, dass leistungsberechtigte Personen geeignete Leistungsangebote in Anspruch nehmen können. (Dazu sollen sie mit Leistungsanbietern Vereinbarungen schließen. Auf Verlangen können auch kommunale Träger mit dem Abschluss und der Ausführung der Vereinbarungen beauftragt werden. Gleichzeitig wird das Bundeskindergeldgesetz geändert, wonach der Kinderzuschlag künftig bis zu 140 Euro monatlich und zusätzlich die oben aufgeführten Leistungen zur Teilhabe exklusive der Nachhilfe umfasst.Zukünftig sollen die Regelsätze jeweils zum 1. Januar überprüft und gegebenenfalls angepasst werden.) Soweit die Ankündigungen, aber wie ist es in der Wirklichkeit?Der Berg kreißte und gebar eine Maus. Und dann noch eine ziemlich missgebildete Maus aus der Bürokratenretorte. Herr Schäuble hatte das Ergebnis vorab diktiert und Frau von der Leyen hat lächelnd zu retuschieren versucht, was zu wenig, zu kompliziert und obendrein ungerecht und bürokratisch ist.Was politisch notwendig wäre, ist aber etwas ganz anderes. • Echte gesellschaftliche Teilhabe für alle Kinder. 4 • Verbesserung der Chancen auf Bildung für jedes Kind, ob deutsch oder nicht deutsch, mit alleinerziehender Mutter oder alleinerziehendem Vater, ob arm oder reich. • Ausbau der Infrastruktur, Ganztags-KiTas und –Schulen. • Stärkung der Schulsozialarbeit an jeder Schule. • Auskömmliche Mindestlöhne als einziges taugliches Mittel zur Wahrung des Lohnabstandsgebots. • Echte Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Langzeitarbeitslose. • Nachhaltige Armutsbekämpfung insbesondere bei Kindern.Die gesellschaftliche Teilhabe muss auch für Kinder von Geringverdienern möglich sein, hier kann und darf sich der Staat nicht aus der Verantwortung verabschieden. Gesunde Ernährung – idealerweise durch Schulspeisung, ich erinnere an das Programm „Kein Kind ohne Mahlzeit“, dem Sie hier im Land das Wasser abgraben. Frau Merkel lobt sich bundesweit mit millionenschweren Anzeigen selbst, aber leider bekommen 80% aller SchülerInnen derzeit überhaupt kein Angebot für ein gesundes und warmes Mittagessen.Analog zu den Regelsätzen für Erwachsene muss auch Kindern der Besuch von Sportvereinen oder kulturellen Einrichtungen ermöglicht werden.Das seitens der Bundesregierung vorgestellte sogenannte „Bildungspaket“ ist in Wirklichkeit ein Paket politischer Einbildung. So ist nicht nur der Betrag von gerade zehn Euro für eine angemessene Teilhabe völlig unzureichend, wie jeder weiß, der am realen Leben teilnimmt. Wer die Kritik des BRH an den 1-Euro-Jobs nachvollzieht, weiß, dass bedürftigen Kindern hier ein Bärendienst erwiesen wird.Das angedachte Gutscheinsystem ist nicht effektiv, eher diskriminierend und führt zudem zu einem höheren Bürokratieaufwand. Dies hat zur Folge, dass durch diese Hemmschwelle die Teilhabechancen eben nicht verbessert, sondern wahrscheinlich sogar verschlechtert werden. Eine moderne Kinder- und Bildungspolitik muss allen Kindern 5gleiche Rechte und Leistungen bieten, statt Sonderregelungen zu schaffen. Sie machen das, was wir aus Ihrer aussortierenden Retro-Bildungspolitik in Schleswig-Holstein kennen und was zu recht Eltern, Schüler, Lehrer und Kommunen auf die Barrikaden treibt.Die Verbesserung von Bildungsmöglichkeiten ist eine der Hauptforderungen der SPD. Wer in Kinder und in deren Bildung investiert, investiert in die Zukunft und spart auch noch an Jugendhilfe und Förderkosten. Was es kostet, eine Schule mit Schulsozialarbeit und warmem Mittagessen zu verbessern, kann man natürlich auch in Haftplätze für Jugendliche stecken.Gut ausgebildete Jugendliche sind das, was unsere Wirtschaft im Rahmen des demographischen Wandels dringend benötigt. Jede Kürzung in diesem Bereich verbietet sich schon allein mit Blick auf die immensen Folgekosten. Der Kollege von Boetticher hat bei der ersten Lesung des Haushaltsentwurfs in seiner schon legendär gewordenen „I- have-a-dream“-Rede a la Holstein – gibt’s die eigentlich schon bei Youtube, Herr Maltzan? - folgendes gesagt, ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident: „Wir brauchen ganz gezielt eine Politik, die auf die sozial Bedürftigen ausgerichtet ist, die diese Unterstützung brauchen.“ Gut gebrüllt Löwe.Sie haben dies seinerzeit kurioserweise als Argument für Ihre 180 Grad-Nachwahlwende bei den kostenfreien KiTa-Jahren herangezogen. Dann sorgen Sie doch bitte jetzt zügig dafür, dass die sozial bedürftigen Kinder diese Unterstützung auch erhalten, statt die Eltern in Schleswig-Holstein massiv mehr zu belasten, wie das in Ihrem Kürzungspaket vorgesehen ist! Aber wahrscheinlich wissen Sie ja ohnehin, dass Ihre Träume nur von einer rot-grünen Landesregierung auch in die Tat umgesetzt werden.Auch unsere Forderung nach Mindestlöhnen zur Wahrung des Lohnabstandsgebots ist nicht neu. Sie wollen das nicht hören und stöhnen jedes Mal auf, wenn wir Sozialdemokraten das hier immer wieder vortragen. Es geht aber nicht nur darum, 6Bedürftigen eine verfassungsfeste und menschenwürdige Grundsicherung zu gewährleisten, nein: Wir müssen verhindern, dass sie überhaupt auf Sozialleistungen angewiesen sind.Es geht also um gute, Existenz sichernde Arbeit. Sie wollen christliche und marktwirtschaftliche Parteien sein, dabei ist es weder christlich noch marktwirtschaftlich, wenn Millionen Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können und die Steuerzahler Dumpinglöhne subventionieren. Die klaren Vorgaben des BVerfG wurden hier von der Bundesregierung nicht umgesetzt. Sie spalten die Gesellschaft durch das Gegeneinanderausspielen zweier ohnehin schon benachteiligter Gruppen – Menschen ohne Arbeit und Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können!In dieser Frage, Herr Minister Garg, sollten Sie sich nun wirklich nicht am Möchtegern- Caligula aus dem Auswärtigen Amt orientieren.Wir brauchen dringend • Einen nationalen Bildungspakt, um eine bundesweit vergleichbare und einheitliche Grundsicherung in Bildung, Betreuung und soziokultureller Teilhabe zu gewährleisten. • Einen unabhängigen ExpertInnenkreis, der die tatsächlichen Regelbedarfe der LeistungsempfängerInnen und der betroffenen Kinder ermittelt. • Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro/ Stunde.Wenn diese Grundvoraussetzungen geschaffen sind, können wir mittelfristig Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern treffen, um weitere Maßnahmen umzusetzen wie den 7 • flächendeckenden Ausbau von Ganztagsangeboten (der frühkindlichen Bildung und Betreuung für ein- bis sechsjährige Kinder, von) Ganztagsschulen und Schulsozialarbeit, • bessere Personal- und Sachausstattung von inklusiven Kindertageseinrichtungen und Schulen, • schrittweise Einführung gebührenfreier Betreuungsangebote, • Schaffung eines inklusiven Bildungssystems, (schrittweise Abschaffung von Förderschulen sowie die ausreichende Deckung des förderpädagogischen Bedarfs in Regelschulen), • kostenloses Mittagessen in KiTas und Schulen • (Lernmittelfreiheit und kostenlosen Förderunterricht nebst Einrichtung von Lehrerpools).All dies sind wichtige Instrumente, um mehr Bildungsteilhabe zu ermöglichen und zu verwirklichen.Aus den Milliarden für die abstruse Kita-Fernhalteprämie, die Frau von der Leyen plant, könnte wesentlich sinnvoller und zielgerichtet z. B. die Schulsozialarbeit finanziert werden.Dennoch: All das kostet viel – es nicht zu tun, kostet uns unsere Zukunft. Das große Ziel der Bildung ist nicht Wissen, sondern Handeln! Das ist ein Kraftakt für mindestens 10 Jahre für Bund, Länder und Kommunen, der auch eine Änderung des Grundgesetzes verlangt. Haben Sie das eigentlich in Karlsruhe durchgesetzt, Herr Kollege von Boetticher?Nelson Mandela sagte 2005, „Das größte Problem in der Welt ist Armut in Verbindung mit fehlender Bildung. Wir müssen dafür sorgen, dass Bildung alle erreicht."Die SPD-Fraktion im Bundestag und die SPD-geführten Landesregierungen im Bundesrat werden gegen den Gesetzentwurf stimmen. Ich wünsche mir von der Landesregierung, 8dass sie im Vermittlungsverfahren Weitsicht zeigt. Und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte ich um Unterstützung für unseren Antrag.