Henning Höppner zu TOP 20: Wir müssen die Hauptschulen abschaffen!
Presseinformation der SPD-Landtagsfraktion Kiel, 11.12.2008 Landtag Es gilt das gesprochene Wort! Sperrfrist: Redebeginn aktuellTOP 20, Bericht zum PISA-Ländervergleich (Drucksache 16/2341)Henning Höppner:Wir müssen die Hauptschulen abschaffen!Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Dr. Henning Höppner, wirft einen Blick auf wichtige Details der PISA-E-2006-Untersuchung, um die Ergebnisse zu bewerten. Er zeigt auf, dass in den neuen Bundesländern z. B. wesentlich mehr Schü- ler Förderschulen besuchen als in Schleswig-Holstein und es dort viel weniger Schüler aus Migrantenfamilien gibt als hier – beides ist im PISA-Bundesvergleich vorteilhaft für die neuen Länder. Höppner weist darauf hin, dass es z. B. in Sachsen weniger Schüle- rinnen und Schüler, aber mehr Einwohner als in Schleswig-Holstein gibt. Zudem sind die Lehrer im Angestelltenverhältnis und in Teilzeit beschäftigt. Mit diesen und weite- ren Beispielen erläutert Höppner die Reihenfolge der Plätze in den Rankings. Aus den Erfahrungen der neuen Länder zieht er den Schluss, dass die Hauptschule abge- schafft werden muss. Mit dem neuen Schulgesetz haben wir die Weichen richtig ge- stellt.Die Rede im Wortlaut: Ich erinnere mich gern an die Sitzungen der Klassenelternkonferenzen in der Schule einer meiner Töchter. Solche Klassenelternkonferenzen waren für die Eltern immer die Möglichkeit, über die Art und Qualität des Unterrichtes durch die einzelnen Lehrerkol-Herausgeber: Landeshaus SPD-Landtagsfraktion Postfach 7121, 24171 Kiel Verantwortlich: Tel: 0431/ 988-1305/1307 E-Mail: pressestelle@spd.ltsh.de Petra Bräutigam Fax: 0431/ 988-1308 Internet: www.spd.ltsh.de -2-leginnen und -kollegen zu diskutieren. Und ich erinnere mich an einen Bericht eines El- ternteiles oder besser gesagt über eine Beschwerde über den Unterricht eines Lehrers in der 9. Jahrgangsstufe: „Stellen Sie sich vor, Herr P. lässt noch aus dem Ge- schichtsbuch vorlesen und verlangt dann, dass sie das zusammenfassend nacherzäh- len und erläutern. Das ist doch wohl viel zu einfach, das ist Unterricht von gestern.“Wahrscheinlich aber, das bestätigen die Studien IGLU und PISA im Zusammenhang mit den Untersuchungen von Lesekompetenz, ist diese Methode des Lehrerkollegen P. vielleicht gar nicht so verkehrt.An der PISA-Studie nehmen Hauptschulen, Gesamtschulen, Realschulen, organisato- risch diese verbindende Schulformen, Gymnasien, Berufliche Schulen und wie in Schleswig-Holstein zuletzt auch freie Schulen teil. Eine Bewertung der Förderschu- len in Rahmen der Vergleichslisten der Bundesländer sieht PISA 2006-E nicht vor.Im Hinblick auf die Bildungsbeteiligung der Schülerinnen und Schüler der einzelnen Schularten an den Untersuchungen der PISA-E-Studie ist es aber durchaus wichtig zu wissen, wie hoch der Anteil derjenigen ist, die in den Bundesländern die Förderschulen besuchen. Nehmen wir das Bundesland Sachsen, das zum neuen PISA-Star 2006 erklärt wurde. Sachsen hat insgesamt gut 289.000 Schülerinnen und Schüler auf den allgemein bil- denden Schulen. Das sind genau 10.000 Schüler weniger als in Schleswig-Holstein. In Sachsen leben rund 1.400.000 Einwohner mehr als bei uns. Nach der letzten Statistik gibt es in Sachsen 18.250 Förderschüler, in Schleswig-Holstein 9.100, weniger als die Hälfte. In allen neuen Bundesländern ist der Anteil der Förderschüler erheblich höher als bei uns. Und gleichwohl ist anzumerken, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler aus Migrantenfamilien in diesen Bundesländern erheblich kleiner ist als in -3-Schleswig-Holstein. Beide Aspekte sind also im Bundesvergleich vorteilhaft für die neuen Länder.Lassen Sie mich die Rahmenbedingungen für die Finanzierung der Bildung in den Bundesländern etwas näher beleuchten. Die Bundesländer Sachsen-Anhalt, Branden- burg und Thüringen galten gegenüber Schleswig-Holstein eigentlich immer als Refe- renzländer: annähernd ähnliche Bevölkerungszahlen, annähend ähnliche Strukturen, viel ländlicher Raum, keine besonders großen Oberzentren.Alle drei Neuländer haben einen starken Bevölkerungsverlust zu beklagen und einen starken Verlust an Kindern. Sachsen-Anhalt hat derzeit unter 60.000 Schülerinnen und Schüler in allen vier Jahrgangsstufen der Grundschulen, Thüringen derzeit unter 64.000. Schleswig-Holstein zählt 113.000 Grundschülerinnen und -schüler. Noch ein Vergleich: Sachsen hat nur 112.000 Grundschüler, aber 1,4 Millionen mehr Einwohner.Die Schullandschaft in den neuen Bundesländern ist gekennzeichnet von dem Bemü- hen um den Erhalt oder die Rettung von Schulstandorten. Die Folgen sind logisch: Die Schulen werden kleiner, die Klassenfrequenzen entsprechend geringer. Und es geht genauso um den Erhalt von Lehrerarbeitsplätzen.Der Lehrerberuf ist in den neuen Bundesländern kein Vollzeitberuf mehr, außer für Schulleiterinnen und Schulleiter. Die Mitglieder des Bildungsausschusses haben es in Dresden vom damaligen sächsischen Kultusminister Flath persönlich erfahren, es gibt grundsätzlich 0,8 Stellen in den Schulen im Angestelltenbereich der Vergütungs- gruppe E 12 (oder BAT 3 für diejenigen, die noch in den Kategorien des Bundesange- stelltentarifvertrages denken). Das sind Rahmenbedingungen für den Lehrerberuf, die hierzulande die Berufskolleginnen und -kollegen nicht akzeptieren würden. -4-Es gibt aber unter den Lehrerkollegien in den neuen Ländern den festen Willen, mit viel Einsatz die Schulstandorte zu halten und zukunftsfähig weiterzuentwickeln. Wir müssen für unsere Schulen leider feststellen, dass vielen Ortes nicht diese Bereit- schaft zur Weiterentwicklung des Schulsystems besteht.Es lohnt sich schon, dass man sich in der PISA-E-2006-Studie mit dem „Kleingedruck- ten“ beschäftigt - insbesondere um festzustellen, warum wir auf der Ranking-Liste auf dem jeweiligen Platz stehen. Ich nehme hier einmal das Beispiel Lesekompetenz. Da stehen wir auf der Länderliste auf Platz 12 mit 485 Kompetenzpunkten, drei Plätze vor uns das Bundesland Berlin mit 488 Punkten. Berlin hat eine ähnliche Grundstruktur im Schulwesen wie Schleswig-Holstein: Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien und in- tegrierte Gesamtschulen.Ich gehe jetzt in die Schularten-Kompetenz-Länderliste „Lesen“: Berlin verzeichnet bei den Gymnasien 585 Kompetenzpunkte, Schleswig-Holstein ebenfalls 585. Die Real- schulen Berlins haben 484, Schleswig-Holsteins Realschulen 511 (=27 Punkte mehr!), die Gesamtschulen Berlins 451 Punkte, Schleswig-Holsteins IGS 503 (=52 Punkte mehr!), die Hauptschulen Berlins 355 Punkte, unsere Hauptschulen 387 (=32 Punkte mehr!). Neben den gleich starken Gymnasien sind alle anderen Schularten Schleswig- Holsteins deutlich höher bewertet! Im Durchschnitt liegen wir aber drei Plätze schlech- ter als Berlin.Es ist angesichts dieser Feststellung vollkommen klar: Nicht zwangsläufig die Leis- tungsfähigkeit der einzelnen Schularten in einem Bundesland ist entscheidend für das Bundeslandergebnis in einem Kompetenzfeld, sondern ebenso entscheidend ist die Bildungsbeteiligung (Anteil der Schüler nach Schulart) in den einzelnen Schularten. Und da steht Schleswig-Holstein noch ganz im alten dreigliedrigen System mit der ge- ringsten Anzahl von Gymnasiasten und neben Bayern mit dem höchsten Anteil an Hauptschülerinnen und Hauptschülern. -5-Die PISA-Studien, die quasi einen durchschnittlichen Kompetenzwert aufgrund der An- teile des Mixes der unterschiedlichen Schulformen ermitteln, zeigen klar und deutlich, dass Bildungssysteme, die das dreigliedrige System überwunden haben, den Weg an die Spitze der Ranking-Listen angetreten haben.Aufgrund der PISA-E-2006-Ergebnisse gibt es für uns, meine Damen und Herren, eine eindeutige und zweifelsfreie Schlussfolgerung: Wir müssen die Hauptschulen abschaf- fen! Es gibt weder organisatorische noch pädagogische Gründe, diese Schulform, auch als eigenständigen Bestandteil einer organisatorischen Verbindung, in die Zu- kunft zu tragen. Und aus diesen Gründen heraus, gibt es auch keinen vernünftigen Grund, die Realschulen als eigenständige, „hauptschülerfreie“ Schulen zu erhal- ten. Darüber werden wir in dieser Tagung noch zu sprechen haben. Diese Erkenntnis müsste mittlerweile auch unseren Kollegen Dr. Klug (FDP) erreicht haben, auch wenn er so heftig von den Verbandsmitgliedern des VDR als der vermeintliche Retter der Realschulen gefeiert wird.Wir haben mit der Verabschiedung des Schulgesetzes im Januar des letzten Jahres genau die richtigen Weichen für die Zukunft der allgemein bildenden Schulen gestellt. Leider aber werden wir frühestens im Schuljahr 2013/14 erstmals 15-Jährige haben, die die Regional- und Gemeinschaftsschulen seit Aufbau 2008/09 besuchen. Es wird also noch zwei weitere PISA-I- oder PISA-E-Studien 2009 und 2012 geben, die in Schleswig-Holstein mit den Schülerinnen und Schülern des dreigliedrigen Schulsys- tems operieren müssen.In unseren Schulen, meine Damen und Herren, wird derzeit viel geklagt über eine neue und zu hohe Anzahl von Regelungsinstrumenten, die den Schulalltag zusätzlich belasten. Ich kann den Unmut der Kolleginnen und Kollegen aus der Lehrerschaft gut nachvollziehen. Ich sehe aber schon jetzt im Verlaufe des letzten Schuljahres eine wachsende Bereitschaft, den eingeleiteten Reformprozess aktiv mitzugestalten. -6-Und dieser Prozess motiviert auch zunehmend Eltern, die sich innerhalb der Schule engagieren möchten.Der Reformprozess motiviert inzwischen auch viele Schulträger, wieder etwas für ihre Schule zu tun. Es wird endlich wieder investiert in Schulen und Ausstattung und nicht gewartet, was angesichts der demografischen Entwicklung so passiert mit den Schul- standorten. Würden die Schulstrukturen so bleiben, wie sie sind, würde bei den Schul- trägern nämlich das eintreten, was wir seit Ende der 1980er Jahre erlebt haben, als die Schülerzahlen stark zu sinken begannen: keine Investitionen, sondern Ausnutzung der damals vorhandenen Substanzen. Diese stellen sich heute, insbesondere bei vielen größeren Schulträgern, als Mangel in der Sachausstattung dar. Wir haben hier auch aufgrund der Investitionsprogramme des Landes und des Bundes neue Perspektiven.Die Kompetenzentwicklung oder einfacher gesagt: die Entwicklung der Leistungsfähig- keit unserer Schulen braucht einen langen Atem, auch was die Ergebnisverbesserung in den PISA-Studien angeht. Das war uns bei den Entscheidungen zur Veränderung unseres Schulsystems bewusst. Wir sind aber auf dem richtigen Weg.