20 Jahre Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten -- 20 Jahre Sozialgeschichte unter der Lupe
120/2008 Kiel, 22. September 2008 20 Jahre Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten – 20 Jah- re Sozialgeschichte unter der Lupe Kiel (SHL) – Im Jahr 1988 führte Schleswig-Holstein als eines der ers- ten Bundesländer das Amt eines Bürgerbeauftragten für soziale Angele- genheiten ein. Zum Jubiläum zieht die Amtsinhaberin, Birgit Wille- Handels, eine Erfolgsbilanz: Das damalige Ziel des Gesetzgebers sei erreicht, eine leicht zugängliche Stelle zu schaffen, bei der Bürgerinnen und Bürger unbürokratisch und schnell Hilfe erhalten. Der Umfang der Aufgaben und Fragen, mit denen sich das zehnköpfige Team im Büro der Bürgerbeauftragten beschäftigt, wachse aber. Das vor 20 Jahren herrschende Grundvertrauen, dass der Staat sich um jeden Men- schen in Not kümmere, gerate ins Wanken. Die Bürgerbeauftragte kritisiert, dass Deutschland einer von zwei EU-Staaten ist, der keine nationale Om- budsstelle eingerichtet hat. „Der Blick in unsere Archive ist wie eine Zeitreise“, sagt Birgit Wille-Handels. „Wir sehen an den Fällen und Anfragen 20 Jahre deutsche Sozialgeschichte wie unter der Lupe.“ Denn die Sorgen der Menschen, die sich an das Büro wenden, spiegeln den Wandel des Zeitgeistes wider: „Vor 20 Jahren galt das Bild des fürsorglichen Staates. Heute leben wir in einem Staat, der von je- dem von uns deutlich mehr Eigenverantwortung verlangt.“ Beides habe Licht- und Schattenseiten, betont Wille-Handels und nennt als Beispiel Menschen mit Behinderung: Sie waren früher eingesponnen in ein Netz von Hilfe und Fremdbestimmung. Heute können sie – dank neuer politi- Schleswig-Holsteinischer Landtag, Postfach 7121, 24171 Kiel ▪ V.i.S.d.P.: Annette Wiese-Krukowska, awk@landtag.ltsh.de, Tel. 0431 988 – 1116 oder 0160 – 96345209; Fax 0431 988 – 1119 ▪ www.sh-landtag.de → Presseticker 2scher Leitziele und neuen Angeboten – eigenständiger leben. Gleichzeitig verlange die Forderung nach Eigenverantwortung den Menschen vieles ab, etwa bei der Alterssicherung: „Es kommen Leute, die daran verzweifeln, aus dem Meer der privaten Zusatzrenten die richtige herauszufinden.“ Hinter dem Ruf nach Eigenverantwortung verstecke sich oft der Sparzwang der öffentlichen Kassen, so Wille-Handels: „Unter dem Spardruck werden heutzutage auch notwendige Hilfen oftmals lapidar abgelehnt oder verwei- gert.“ Aktuell betreffen die meisten Problemen die Grundsicherung „Hartz IV“. Die Zahl aller Anfragen steigt von Jahr zu Jahr, 2007 meldeten sich rund 3400 Ratsuchende. Zwar stehe der Einzelfall im Vordergrund, doch aus rund 20 Prozent aller Fragen ließen sich allgemeine Probleme und damit Forde- rungen nach Gesetzesänderungen ableiten, so Wille-Handels. „Generelle Schwierigkeiten sind etwa, dass Behördenformulare unverständ- lich aufgesetzt oder dass Sachbearbeiter für die Bürgerinnen und Bürger kaum mehr persönlich zu erreichen sind“, sagt die Bürgerbeauftragte. Diese Probleme ließen sich allerdings auf Landesebene kaum regeln: „Eine bun- desweite Ombudsstelle wäre nötig.“ Das Ombudswesen hat in den vergan- genen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen: Banken, Versicherungen und Medien setzen eigene Beauftragte ein. „Die Politik hinkt bei dieser Entwick- lung hinterher“, kritisiert Wille-Handels. Doch Schleswig-Holstein nutze sei- nen Einfluss, wo es gehe: „Wir sind vielleicht nicht das größte Bundesland, aber wir erheben unsere Stimme. Dennoch würden wir uns freuen, wenn der Chor größer und damit lauter wäre.“Hintergrund: 20 Jahre Bürgerbeauftragte für soziale AngelegenheitenThemenwandel: Von Rente zu Hartz IV Wie hoch ist meine Rente? Sind Erziehungszeiten berücksichtigt? Vor allem mit solchen Fragen wandten sich Menschen in der Anfangszeit an den Bür- gerbeauftragten. „Heute spielen einfache Rentenkonto-Klärungen praktisch keine Rolle mehr“, sagt Birgit Wille-Handels. „Durch die regelmäßigen Be- scheide der staatlichen Rentenkasse ist diese Sorge weggefallen. Hier hat Verwaltungshandeln positiv im Sinne der Menschen gegriffen.“ Dafür gibt es heute Probleme mit Erwerbsminderungsrente oder Reha-Leistungen. Abgenommen haben Anfragen zu Behinderungen. Das liegt vor allem daran, dass am 9. Dezember 1994 das Amt eines Landesbeauftragten für Men- schen mit Behinderungen zusätzlich geschaffen wurde. Diese Funktion ist zurzeit dem Sozialministerium angegliedert. Der Landesbeauftragte vertritt auf politischer Ebene die Anliegen der Menschen mit Behinderung, berät a- 3ber nicht bei Einzelfragen. Von 1988 bis 1994 lagen beide Aufgaben beim Büro des Landesbeauftragten für soziale Angelegenheiten. Seit am 1. Januar 2005 die Grundsicherung „Hartz IV“ eingeführt wurde, bil- den Fragen zu diesem Themenkomplex den Schwerpunkt der Petitionen. Im Jahr 2007 waren es 1305 Anfragen, das entspricht 38,5 Prozent. Vor allem geht es um die Höhe der bewilligten Grundsicherung. Das Sozialsystem ist in den vergangenen 20 Jahren stark ausgebaut wor- den: Zahlreiche der heute zwölf Einzelgesetze des Sozialgesetzbuches tra- ten erst Ende der 80er und in den 90er Jahren in Kraft. „Das heißt: Jede Be- schwerde über die Auslegung eines Gesetzes setzt voraus, dass es dieses Gesetz und damit ein grundsätzliches Recht auf eine Hilfe gibt“, sagt Wille- Handels. „Daher ist die Vielzahl von Anfragen aus allen denkbaren Themen- gebieten durchaus auch positiv zu bewerten.“Anfragenentwicklung: Von gut 300 auf über 3000 pro Jahr Im Oktober 1988 nahm das Büro des Bürgerbeauftragten die Arbeit auf, bis Dezember wandten sich 317 Menschen an die neue Stelle – in der Statistik fehlen allerdings persönliche und telefonische Eingaben. 1989 gab es 804 Beschwerden, im Folgejahr waren es bereits 2700. Bis 2003 schwankte die Zahl der Petitionen zwischen gut 2000 und maximal 2800 pro Jahr. Einen Rückgang auf 1043 gab es 1994, als das Amt zeitweise nicht besetzt war. Ab 2004 näherte sich die Zahl der Anfragen der 3000er-Marke und überschritt sie mit 3382 Petitionen erstmals 2007. In der ersten Jahreshälfte 2008 gab es bereits 2213 Bürgerbeschwerden. Auffallend ist, dass sich mehr jüngere Menschen mit ihren Anliegen melden. 2007 war ein Fünftel der Ratsuchen- den unter 35 Jahren alt. Insgesamt bearbeitete das Büro seit seiner Grün- dung 47.000 Anfragen. Zwei Gründe sieht die Bürgerbeauftragte für den Zu- wachs: „Das Selbstbewusstsein der Menschen ist gestiegen – es gibt weni- ger Scheu, sich an Ämter zu wenden und sein Recht einzufordern.“ Zum an- deren lasse sich die stetig steigende Flut an Beschwerden als Wasser- standsmesser sozialer Not begreifen: „Immer mehr Menschen brauchen aus verschiedenen Gründen staatliche Hilfe“, sagt Wille-Handels. „Und mehr Kontakte mit Behörden bedeuteten automatisch mehr Konflikte.“Wertewandel: Von Fürsorge zu „Fördern und Fordern“ 1961 schnürte der Bundestag verschiedene Gesetze zu sozialen Fragen zum Bundessozialhilfegesetz (BSHG) zusammen. An diesem Datum lässt sich ein gesellschaftlicher Wandel festmachen: Aus der oftmals willkürlichen Fürsorge wurde ein Rechtsanspruch auf staatliche Hilfe im Notfall. Mindeststandards für ein menschenwürdiges Leben wurden so sichergestellt. 4„Bürgerinnen und Bürger konnten sich darauf verlassen, dass ihnen geholfen wurde, ganz egal in welcher Lage“, sagt Wille-Handels. „Die Gesellschaft war geprägt vom Grundvertrauen, dass keiner ins Bodenlose fällt.“ Noch in den 80er Jahren, als das Amt der Bürger eingeführt wurde, galt diese Leitlinie. Das System der Maßnahmen und Leistungen wurde ausgebaut, und dass viele Menschen von Hilfen wie Kuren oder Umschulungen profitierten, wurde allgemein als richtig und begrüßenswert angesehen. Doch das ist ins Wanken geraten: Das positive Bild eines lebensrettenden sozialen Sicherheitsnetzes wurde in die „soziale Hängematte“ umgemünzt, gefolgt von öffentlichen Debatten, wer das Recht habe, sich darin aufzuhal- ten. In Politik gegossen wurde dieser Wertewandel unter anderem durch die Neuordnung der Grundsicherung, „Hartz IV“. In fast allen Lebensbereichen sei heute mehr Eigenverantwortung gefragt. Birgit Wille-Handels sieht darin Vor- und Nachteile: „Global und historisch kämpften und kämpfen Menschen um mehr Freiheit – genannt seien die Frauenbewegung oder der Kampf der Menschen mit Behinderung um Gleichstellung. Und Freiheit geht mit Eigenverantwortung Hand in Hand.“ Aber der schnelle Wandel des Systems falle vielen Menschen schwer: „Die Erziehung zur Eigenverantwortung müsste in den Schulen beginnen. Uns fehlt eine gesellschaftliche Debatte über die Möglichkeiten und die Grenzen des Sozialstaates.“ Viele Menschen litten heute unter Perspektivlosigkeit und fühlten sich allein gelassen. „Das öffentliche Ombudswesen als Vertretung der Bürgerinnen und Bürger könnte hier vermitteln und Betroffenen helfen, doch was das angeht, sind wir ein Entwicklungsland“, kritisiert Wille-Handels.Erfolge und Grenzen der Arbeit: Vom Einzelfall zur politischen Forde- rung Gut 70 Prozent aller Anfragen kann das Büro der Bürgerbeauftragten im Sin- ne der Bürgerinnen und Bürger abschließen. „Das bedeutet nicht automa- tisch, dass der Ratsuchende Recht bekommt – manchmal hilft es schon, dass eine Frage beantwortet oder ein für ihn undurchschaubarer Sachverhalt aufgeklärt wird“, sagt Birgit Wille-Handels. Die Zufriedenheit der Ratsuchen- den drückt sich in einer Umfragen aus: Rund 70 Prozent der Petenten loben die Gründlichkeit, mit der das Büro der Bürgerbeauftragten sich ihrer Fragen annimmt, 80 Prozent sind mit der Betreuung „sehr zufrieden“, 95 Prozent heben die Freundlichkeit des Teams hervor. „Der Einzelfall steht im Mittelpunkt, aber oft lassen sich aus individuellen Sorgen allgemeine Probleme ableiten“, sagt Wille-Handels. Daher hat das Büro der Bürgerbeauftragten dem Landtag eine Reihe von Gesetzesände- rungen vorgeschlagen sowie Modellprojekte für mehr Bürgernähe initiiert. Zu 5den erfolgreichen Initiativen – die das Büro der Bürgerbeauftragten mit ande- ren Fachstellen oder Verbänden angestoßen hat – zählen unter anderem Parkerleichterung für Menschen mit bestimmten Mobilitätseinschränkungen oder die Entkoppelung von Miet- und Pflegeverträgen in betreuten Wohnun- gen. Angeregt durch die Bürgerbeauftragte bildete sich 2006 ein Arbeitskreis mit Vertreterinnen und Vertretern von Kommunen unter Leitung der Fach- hochschule Verwaltung und Dienstleistung. Daraus entstand der „Leitfaden zum Ideen- und Beschwerdenmanagement“, der nun allen Kommunen zur Verfügung steht. „Verwaltungen und Ämter stehen unseren Anregungen in der Regel offen gegenüber“, sagt Wille-Handels. „Das Interesse daran, die eigene Arbeit zu verbessern, ist groß.“ Grenzen der Arbeit bilden die so genannten Darf-nicht-Fälle: Gemeint sind Themen, mit denen sich die Bürgerbeauftragte nicht beschäftigt, da sie au- ßerhalb ihrer gesetzlichen Kompetenzen liegen. „Die Anfragen dazu nehmen zu“, stellt Wille-Handels fest. Oft geht es um privatrechtliche Streitigkeiten, etwa im Miet-, Familien-, Kauf- und Erbrecht. Ebenfalls steigt die Zahl der Anfragen zu verwaltungsrechtlichen Problemen. In allen Fällen bemüht sich das Büro darum, die passenden Beratungsstellen zu nennen, etwa die Verbraucherzentrale.Arbeitsweise: Vom Fax zur elektronischen Akte Mit elf Personen startete das Büro. Heute sind es zehn Personen, die acht Stellen besetzen. Ihre Arbeit hat sich in 20 Jahren stark geändert. So war 1988 das Fax ein hochmodernes, neuartiges Gerät, das anfangs nur mit speziellem Thermopapier gefüttert werde konnte. Privatleute besaßen solche Geräte nicht – Akten oder Unterlagen wurden persönlich vorbei gebracht o- der per Post geschickt. Hausbesuche bei Ratsuchenden gehörten zum All- tagsgeschäft. PC und Internet haben zu einer Verdichtung der Arbeit geführt. Zwar geht dank der Technik vieles schneller, etwa der Zugriff auf Fachwissen in juristischen Datenbänken. 2005 führte das Büro elektronische Akten ein, durch die sich Fälle schneller finden und bearbeiten lassen. Doch angesichts der gestiegenen Zahl der Anfragen sind Hausbesuche heute fast nicht mehr möglich. Die Technik wirkt sich auch in anderer Weise auf: So haben viele Behörden auf Callcenter umgestellt, Ratsuchende werden auf das Internet verwiesen: „Das ist eine Form der Ausgrenzung“, bemängelt Birgit Wille-Handels. „Denn nicht jeder besitzt einen PC oder versteht die oft komplizierte Sprache der Behörden.“ Gerade der Kontakt zur Agentur für Arbeit sei in jüngster Zeit schwierig geworden. Die Klienten landen im Callcenter, statt ihren Fallmana- 6ger direkt zu erreichen. „Statt eine Frage kurz telefonisch klären zu können, entstehen neue Verwaltungsakte“, kritisiert die Bürgerbeauftragte. Der Kontakt ihres Büros zu Ämtern und Institutionen ist allerdings in der Re- gel gut, Entscheidungsträger sind schnell zu erreichen. Die Zusammenarbeit mit allen Behörden und Verwaltungen im Land bezeichnet Wille-Handels als vertrauensvoll, gut und effektiv.Chronologie: Von Eugen Glombig zu Birgit Wille-Handels Am 22. September 1988 unterzeichnete Ministerpräsident Björn Engholm den Erlass, mit dem das Amt des Bürgerbeauftragten für soziale Angelegen- heiten und Landesbeauftragten für Behinderte eingerichtet wurde. Am 1. Ok- tober wurde Eugen Glombig auf den Posten berufen. 1994 wurde die Stelle aufgeteilt und das Amt eines Landesbeauftragten für Menschen mit Behinde- rung geschaffen. Die Funktion des Bürgerbeauftragten für soziale Angele- genheiten wurde beim Präsidenten des Landtages angegliedert. 1995 wurde Sigrid Warnicke zur neuen Bürgerbeauftragten gewählt. 1999 zog das Büro von der Adolfstraße 48 in den heutigen Dienstsitz am Karoli- nenweg 1. 2001 übernahm Birgit Wille-Handels das Amt, im April 2008 wurde sie ein- stimmig für weitere sechs Jahre wiedergewählt. Im Herbst 2008 berät das Parlament darüber, das Amt des Landesbeauftrag- ten für Menschen mit Behinderung dem Landtag anzugliedern und das Büro räumlich mit der Dienststelle der Bürgerbeauftragten für soziale Angelegen- heiten zu verschmelzen. Beide Funktionen sollten dabei aber erhalten blei- ben.