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17.07.08
16:45 Uhr
SPD

Wolfgang Baasch zu TOP 25: Missstände in der Fürsorgeerziehung bundesweit aufarbeiten

Presseinformation der SPD-Landtagsfraktion

Kiel, 17.07.2008 Landtag Es gilt das gesprochene Wort! Sperrfrist: Redebeginn aktuell
TOP 25: Unterbringung und Zwangsarbeit von Kindern und Jugendlichen in ehemaligen Heimen der Landesfürsorgeerziehung (Drucksachen 16/2167 und 16/2177)

Wolfgang Baasch:

Missstände in der Fürsorgeerziehung bundesweit aufarbeiten

Die Dokumentation des Runden Tisches, den die Sozialministerin mit ehemaligen so genannten Fürsorgezöglingen einberufen hat, ist eine beklemmende Lektüre. Zeigt sie doch ein Thema auf, das lange Zeit mit einem Tabu belegt war, ein Thema, bei dem sich Menschen heute kaum noch vorstellen können, dass so etwas in der jüngeren Ge- schichte der Bundesrepublik Realität war: die Fürsorgeerziehung der 50er bis 70er Jah- re, die eindeutig ein dunkler Fleck auch in unserer Geschichte ist.

Aus heutiger Sicht ist es nahezu unfassbar, aus welchen Gründen junge Menschen in eine solche Einrichtung weggesperrt werden konnten. Instabile Familienverhältnisse, besonders die uneheliche Geburt von einem Drittel der Insassen, die damals ja noch als Makel nicht nur für die Mutter, sondern auch für ihr Kind galt, war offensichtlich schon einmal eine „gute“ Voraussetzung. Wenn dazu noch jugendtypisches Verhalten kam, auf das wir heute sehr differenzierte pädagogische Antworten haben, war es offensicht- lich möglich, dass ein 15jähriger von der Polizei gefesselt in Glückstadt eingeliefert wur- de. Wohlgemerkt: Dieser Jugendliche hatte nicht etwa schwerste Gewalttaten began- gen, die eine Eigensicherung durch die Polizisten notwendig machte, sondern z. B. ein Mofa gestohlen.



Herausgeber: Landeshaus SPD-Landtagsfraktion Postfach 7121, 24171 Kiel Verantwortlich: Tel: 0431/ 988-1305/1307 E-Mail: pressestelle@spd.ltsh.de Petra Bräutigam Fax: 0431/ 988-1308 Internet: www.spd.ltsh.de -2-



Mit dem Film „In den Fängen der Fürsorge“ hat das ZDF dies in beklemmender Art und Weise dokumentiert. Einschüchterung und Quälerei, Psychoterror und Gewalt werden in Fürsorgeheimen von Glückstadt quer durch die Bundesrepublik geschildert. Was allein durch eine solche Art der Behandlung an Traumatisierungen bei einem jungen Men- schen verursacht wird, mag man sich kaum ausmalen.

Der SPD-Abgeordnete Erwin Lingk bezeichnete anlässlich eines Besuches des Aus- schusses für Volkswohlfahrt am 19. August 1969 die in Glückstadt angewendete Form der Jugendfürsorge zu Recht als „verdeckten Strafvollzug“ statt Erziehung und setzte sich – gegen den Widerstand des liberalen Sozialministers Eisenmann - für eine Schlie- ßung der Einrichtung ein.

Ein wesentlicher Punkt der damaligen so genannten Fürsorge war „Erziehung durch Ar- beit“, d.h. in der Regel war es erzwungene Arbeit, die nicht der beruflichen Qualifizie- rung der jungen Menschen diente und bei der Bildung und Ausbildung grundsätzlich nicht stattfanden. Und das Fürsorgeheim im Glückstadt hat hier offensichtlich eine ganz besonders finstere Rolle gespielt.

Es ist mir selten so deutlich geworden, dass die berühmte Formulierung aus der Regie- rungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt: „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“, mehr war als bloße Rhetorik, sondern auch die Forderung nach einem Bruch mit auto- ritären Traditionen. Wie kann man junge Menschen, die Probleme in ihrer sozialen Entwicklung haben, in ein derart abschreckendes Gebäude einsperren, das nicht nur ei- ne traurige Vergangenheit als Zwangsarbeitshaus, sondern in den Jahren 1933 und 1934 sogar als so genanntes „Wildes Konzentrationslager“ der Nazis hatte? Und diese Einschüchterungsarchitektur wurde noch ergänzt durch Personal, das darauf trainiert war, junge Menschen nicht aufzubauen, sondern sie zu brechen. -3-



Selbstverständlich gilt auch im Falle solcher Beschuldigungen die Unschuldsvermutung. Jedoch ist nicht zu übersehen, dass es in Jugendbetreuungseinrichtungen aller Art, aber insbesondere dann, wenn die so genannten Betreuer allmächtig und die Jugendli- chen ihnen ausgeliefert sind, immer wieder gerade auch Pädophile sind, die eine Be- schäftigung in einer solchen Einrichtung suchen.

Wir im Landesparlament, aber auch alle im Jugendhilfebereich tätigen Träger im kirchli- chen oder staatlichen Auftrag müssen uns der Verantwortung für die Aufarbeitung dieser Einrichtungen stellen. Demütigungen, Missachtung von Würde und Verletzung von Menschenrechten gilt es zu erkennen und aufzuarbeiten, wenn man deren Opfer nicht erneut demütigen will.

Es hat im Vorfeld der heutigen Sitzung eine Vielzahl an Gesprächen gegeben, und ich glaube, wir haben eine vernünftige Lösung gefunden. Wir wollen mit einem interfraktio- nellen Antrag die Landesregierung um einen Bericht bitten. Den Entschließungsantrag der Grünen möchten wir in den Sozialausschuss und mit beratend in den Innenaus- schuss überweisen und dann, wenn uns der Bericht der Landesregierung vorliegt, uns darum bemühen, eine gemeinsame Entschließung zu erarbeiten.

Im Bundestag hat der Petitionsausschuss in seinem Bericht 2008 angekündigt, „zu ei- ner gemeinsamen und parteiübergreifenden guten Lösung kommen zu wollen“. Das ist ein gutes Signal auch für unsere weitere Diskussion, wenn wir das Thema ehemaliger Heimkinder aufarbeiten. Denn es bleibt festzuhalten, wir stehen in einer Diskussion, die auf Bundesebene geführt werden muss, da in der Fürsorgeerziehung, ob unter konfessioneller oder staatlicher Aufsicht, in dieser Zeit erhebliche Missstände aufzuar- beiten sind. -4-



Für meine Fraktion und für mich will ich hier und heute sehr deutlich sagen: Es ist er- schütternd, die Berichte zu lesen, die Schicksale wahrzunehmen. Die Betroffenen ha- ben unser Mitgefühl und wir die Verpflichtung, ihre Schicksale aufzuarbeiten.

Ich danke Frau Ministerin Trauernicht, die die Initiative zu dem Runden Tisch und zur weiteren Aufarbeitung der Geschehnisse in Glückstadt ergriffen hat. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!