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17.07.08
10:32 Uhr
SPD

Dr. Ralf Stegner zu TOP 11: Unser Ja zu Europa ist ein Ja zu einem sozialen Europa

Presseinformation der SPD-Landtagsfraktion

Kiel, 17.07.2008 Landtag Es gilt das gesprochene Wort! Sperrfrist: Redebeginn aktuell
Top 11, Bewertung des aktuellen Ratifizierungsprozesses des Grundlagenvertrages der Europäi- schen Union (Drucksache 16/2138)

Dr. Ralf Stegner:

Unser Ja zu Europa ist ein Ja zu einem sozialen Europa

Nur wer Europa gestaltet, wird den deutschen Standard von sozialer Sicherung erhal- ten und sichern können. Unser Ja zu Europa ist deshalb ein Ja zu einem Europa der sozialen Gerechtigkeit, des Friedens und Wohlstands, führt der Vorsitzende der SPD- Landtagsfraktion, Dr. Ralf Stegner, in seiner Rede aus. Für Europa spricht: Es befindet sich in einer einzigartigen Phase des Friedens, ein vereintes Europa ist die einzige Chance, länderübergreifende Probleme gemeinsam zu regeln und eine starke Stimme in der Welt für eine solidarische, friedliche und ökologische Politik zu erheben. Ange- sichts der Globalisierung stößt der Gestaltungsspielraum nationaler Politik an seine Grenzen. Ein Scheitern der europäischen Idee würde vor allem zu Lasten der Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer gehen. Deshalb bekennen wir uns zu einem demokra- tischen, sozialen, leistungsfähigen und ökonomisch starken Europa. Das bedeutet: verbindliche Mindestlöhne, höchst mögliche Sozialstandards, handlungsfähige Europä- ische Betriebsräte, öffentliche Daseinsvorsorge, europäische Steuerpolitik, gemeinsa- me nachhaltige Energiepolitik, wirksamer Verbraucherschutz, Förderung von Bildung, Kinderbetreuung und Forschung. Die soziale Gerechtigkeit muss in den Vordergrund, nicht die Marktradikalität. Wenn wir den Sozialstaat abbauen, wenden sich die Men- schen von Europa ab



Herausgeber: Landeshaus SPD-Landtagsfraktion Postfach 7121, 24171 Kiel Verantwortlich: Tel: 0431/ 988-1305/1307 E-Mail: pressestelle@spd.ltsh.de Petra Bräutigam Fax: 0431/ 988-1308 Internet: www.spd.ltsh.de -2-



Die Rede im Wortlaut: Bertolt Brecht hat geschrieben „Nur belehrt von der Wirklichkeit können wir die Wirk- lichkeit ändern“. Dies gilt einmal mehr für die aktuelle politische Entwicklung in der eu- ropäischen Union. Nach der Ablehnung des Reformvertrags von Lissabon durch die irische Volksabstimmung kann es kein einfaches Zurück zur europapolitischen Ta- gesordnung geben.

Es bleibt also zu fragen: Was können wir daraus lernen und was wollen wir tun? Es geht hier um Grundsatzfragen, die uns auf allen politischen Ebenen betreffen. So lag die Wahlbeteiligung bei der letzten Europawahl noch geringfügig unter der aktuellen Beteiligung bei den Kommunalwahlen vom Mai 2008. Wenn wir nicht glaubhaft zeigen, dass wir etwas ändern können und wollen und dass wir die aktuelle oder zukünftige Lage der Bürgerinnen und Bürger verbessern können, warum sollte jemand wählen gehen, warum sollte jemand dem europäischen Projekt oder der sozialen Marktwirt- schaft oder der Demokratie im allgemeinen zustimmen?

Klar ist: Nur wer Europa gestaltet, wird den deutschen Standard von sozialer Siche- rung erhalten und für die Zukunft sichern können. Unser Ja zu Europa ist deshalb ein Ja zu einem sozialen Europa, zu einem Europa der sozialen Gerechtigkeit, des Frie- dens und Wohlstands, der Vielfalt, der Humanität gegenüber Flüchtlingen und der ökonomischen wie ökologischen Vernunft.

Es geht um die notwendigen Veränderungen mit der Perspektive einer besseren Zu- kunft für die ganz normalen Europäerinnen und Europäer, die mit ihren Familien in Portugal oder Finnland, in Zypern oder Polen oder eben in Deutschland leben. Ich bin in der Tradition der deutschen Sozialdemokratie seit dem Heidelberger Parteitag von 1925 ein überzeugter Europäer: ⇒ Europa befindet sich in einer einzigartigen Phase des Friedens -3-



⇒ Ein vereintes Europa ist die einzige Chance, länderübergreifende Probleme gemeinsam zu regeln und ⇒ eine starke Stimme in der Welt für eine solidarische, friedliche und ökologi- sche Politik zu erheben. Angesichts der Globalisierung, in der sich viele Menschen durch einen, wie Helmut Schmidt sagt, aggressiven weltweiten Raubtierkapitalismus in ihren Zukunftschancen bedroht sehen, stößt der Gestaltungsspielraum nationaler Politik an seine Grenzen. Deshalb ist es gerade jetzt an der Zeit, für die europäische Idee der Solidarität und Freiheit sowie des Friedens neu zu werben. Gerade weil ein Scheitern der europäi- schen Idee vor allem zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ginge, be- kennen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns zu einem demokrati- schen, sozialen, leistungsfähigen und ökonomisch starken Europa. Was also tun? 1. Wir müssen für dieses Europa werben 2. Wir brauchen mehr Demokratie und Transparenz und weniger Bürokratie 3. Wir meinen mit Europa das soziale Europa

1. Werbung für Europa Das ist auch unsere Verantwortung: - keine Verantwortung abschieben à la „die da in Brüssel“ - keine populistischen Versuchungen wie in Österreich oder Polen - Verantwortung wahrnehmen: Wir sind ein großes Land mit 82 Mio Einwohnern und können damit in der EU einiges bewegen, wenn wir es denn wollten – bis- her haben wir eher einiges verhindert! („Autokanzler“, landwirtschaftliche Rege- lungen mit Frankreich) Zum Beispiel die Debatte von gestern Nachmittag zu Tariftreue: Wir wollen, dass die Unternehmen, an die wir öffentliche Aufträge vergeben, Tariflöhne zahlen. Wenn der von uns eingeschlagene Weg EU-rechtlich so nicht möglich ist, dann muss die Politik die Änderungen schaffen, dass das Ergebnis nicht Hungerlöh- -4-



ne, Armutsrenten und Ausbeutung per Staatswirtschaft sind. Das Recht hat hier ei- ne dienende Funktion, keine herrschende. Wir wollen die Gerechtigkeit nicht mit dem Recht betrügen.

Wer über die Folgen von angeblich zu hohen Mindestlöhnen fabuliert, verkennt die gravierenden Konsequenzen von Elendslöhnen. Nähmen wir das so hin, wie das hier gestern von einigen Kollegen gefordert wurde, dann wäre der Europa-Frust verständlich. Deswegen: Wir haben die Verantwortung zu sagen: Was können wir hier machen und was müssen wir in der EU ändern?

2. Demokratie und Transparenz: Dafür bräuchten wir den Vertrag, deswegen ist es wichtig, eine Lösung zu finden, wie die Demokratisierung trotz des irischen Neins weiter gehen kann. Ich warne aller- dings vor einem Europa der zwei Geschwindigkeiten. (Ausgrenzung ist genau so we- nig eine Lösung wie sog. Privilegierte Partnerschaften à la Merkel – das taugt alles nichts, das ist politisch überheblich und nicht zielführend.) Und: Es sind nicht immer nur Vermittlungsprobleme, manchmal geht es auch um eine falsche Politik und berechtigte Kritik. Die konkrete Frage, was die Iren tun sollten, soll- ten wir auch den Iren überlassen – ob nun eine zweite Abstimmung oder Ergänzungen zum Vertrag.

3. und am wichtigsten: Soziales Europa Für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist Europa weit mehr als nur Markt und Wettbewerb. Europa muss vor allem sein soziales Gesicht deutlich zeigen. Nicht Lohn- und Sozialdumping, sondern gute Arbeit, fairer Lohn, ein hoher Arbeitnehmer- schutz und Chancengleichheit zählen zu den Grundprinzipien des sozialen Europas. Wir wollen keine Freihandelszone und wir glauben immer noch, dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht umgekehrt. -5-



Was heißt das konkret?

1. Wir brauchen verbindliche Mindestlöhne in Deutschland und Europa. Lohn- dumping ist keine zukunftsweisende Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Wir wollen angemessene Mindestlöhne und faire Arbeitsbedin- gungen überall in der EU verwirklichen. Deutschland ist einer der wenigen Staa- ten, die keine mindestlohn- oder mindestlohnähnliche Regelung hat. Um Deutschland europafit zu machen, brauchen wir Mindestlöhne und für allge- meinverbindlich erklärte Tarifverträge. Die Horrormeldungen, das, was überall in Europa funktioniert – nämlich Mindestlöhne – vernichte in Deutschland Arbeits- plätze, sind interessengeleiteter Unfug und das zeigt nur die bedauerliche Macht von Lobbyeinflüssen im liberal-konservativen Spektrum von Politik und Medienwelt.

2. Wir wollen europaweit höchstmögliche Sozialstandards. Deshalb setzen wir uns für eine rechtsverbindliche Sozialklausel als Ergänzung zum Lissabonver- trag ein. Sie wäre dann auch für die Rechtsprechung des Europäischen Ge- richtshofes bindend. Es muss Schluss damit sein, dass die Dienstleistungsfrei- heit über den Arbeitnehmerschutz gestellt wird und das Streikrecht zum Teil ausgehebelt werden kann. Ja, ich wiederhole es, europäische Urteile, in deren Begründung Grundrechte auf Augenhöhe mit Wirtschaftsinteressen abgewogen werden, sind reaktionär. Grundrechte müssen Priorität haben!

3. Wir brauchen handlungsfähige Europäische Betriebsräte in einem integrier- ten europäischen Binnenmarkt mit zunehmend transnational operierenden Un- ternehmen. Nur so kann verhindert werden, dass Belegschaften in unterschied- lichen Ländern "gegeneinander ausgespielt werden", statt gemeinsam ihre Inte- ressen gegenüber den Unternehmen zur Geltung bringen zu können. Daher muss die europäische Tarifautonomie weiterentwickelt werden. -6-



Das Recht der Tarifparteien, grenzüberschreitend Tarifverträge auszuhandeln, abzuschließen und diese durchzusetzen sowie kollektive Maßnahmen zu ergrei- fen, muss genauso wie die sonstigen wirtschaftlichen Grundfreiheiten von der EU gewährleistet werden. Starke Arbeitnehmervertretungen und Gewerk- schaften sind kein Hindernis, sondern konstruktive Partner für qualitatives Wachstum in Europa. Sie sind übrigens auch die Basis des Wohlstands in Deutschland.

4. Wir wollen die öffentliche Daseinsvorsorge im europäischen Binnenmarkt festschreiben. Vor allem Gesundheits- und Pflegedienstleistungen dürfen auch in Zukunft nicht dem freien Wettbewerb ausgesetzt werden. Hierfür werden wir uns, wie schon bei der Dienstleistungsrichtlinie, einsetzen. Wir wollen es Kom- munen ermöglichen, Träger dieser Dienstleistungen zu bleiben. Insbesondere muss Europarecht die Weiterentwicklung von öffentlichen und gemeinwohlori- entierten Leistungen unterstützen. Dies gilt besonders bei der Rekommunalisie- rung von Aufgaben dort, wo der Markt keine Versorgung zu bezahlbaren Prei- sen und sozialen Bedingungen erzielen kann. Es geht hier um Menschen, nicht um neoliberale Wirtschaftstheorien und Managementseminare. Das europäische Haus funktioniert nur mit handlungsfähigen und sozialen Mit- gliedsstaaten.

5. Wir fordern eine europäische Steuerpolitik. Eine Abstimmung der nationalen Steuerpolitiken und eine einheitlichere Bemessungsgrundlage würden den Spielraum für eine bessere Finanzpolitik vergrößern. Nur so ist der schädliche Wettbewerb um die niedrigsten Steuersätze zu beenden. Den asozialen Steu- eroasen, die uns in eine Negativspirale handlungsunfähiger Staaten zwingen, muss der Kampf angesagt werden. Die Liechtenstein-Connection muss ein En- de haben. -7-



6. Ein soziales Europa muss auch eine Antwort auf die hohen Energiepreise fin- den. Dort wie hier kann die Antwort aber nur lauten: Im Rahmen einer gemein- samen nachhaltigen Energiepolitik müssen Energieeinsparungen und Ener- gieeffizienz verbessert und die Forschung, Entwicklung und Innovation in Rich- tung erneuerbare Energien gestärkt werden. Wir wollen kein Europa, in dem die Konzerne die Politik am Nasenring durch die Manege führen. Wir wollen ein Eu- ropa, in dem die Politik und die Parlamente solche Konzerne in die Schranken weisen. Gemeinnutz geht vor Eigennutz!

7. Zu einem sozialen Europa gehört auch der Verbraucherschutz, der wirksam nur durch einheitliche europäische Gesetze gewährleistet werden kann. Hier kann sich die EU sehen lassen:
a. die übliche Garantiezeit für fehlerhafte Produkte des täglichen Gebrauchs wurde dank europäischer Gesetzgebung in Deutschland von nur sechs Monaten auf zwei Jahre heraufgesetzt
b. bei Verspätungen oder Überbuchungen stehen Flugreisenden finanzielle Entschädigungen zu, die Flugticketendpreise müssen inzwischen alle bekannten Steuern, Gebühren, Zuschläge und Entgelte enthalten
c. Zusatzstoffen wie Enzyme oder künstliche Aromen werden künftig ganz aus Nahrungsmitteln für Babys und Kleinkinder verbannt
d. für die Handy-Nutzung außerhalb des eigenen Heimatlandes hat die EU einen Höchstpreis gesetzt, der weiter sinken wird; der für SMS wird fol- gen.

8. Zu einem sozialen Europa gehört ganz besonders die Förderung von Bildung, Kinderbetreuung und Forschung. Wissen ist heute die Schlüsselqualifikation schlechthin – es liegt auch in der Verantwortung eines sozialen Europas hier für -8-



gleiche Zugangschancen, Durchlässigkeit der Systeme und für eine hochwerti- ge Förderung zu sorgen. Aufstieg durch Bildung heißt in Europa, dass Deutschland nicht mit Österreich um die rote Laterne in der Bildungspolitik wetteifert, sondern dass längeres ge- meinsames Lernen in Gemeinschaftsschulen – wie in Schleswig-Holstein – im wahrsten Sinne des Wortes Schule macht.

Moderne Regierungen müssen gleichen Zugang und gleiche Chancen für alle gewährleisten, wenn unsere Gesellschaften und Bürger gut gerüstet sein sollen, um die Herausforderungen der Welt von heute angehen zu können. Die Bil- dungsbarrieren müssen weg – von den Kitas bis zum Studium!

Die SPD bleibt die Europapartei im Bund und im Land. Für uns gilt dabei: Landespoli- tik ist auch Europapolitik – und Europapolitik ist Landespolitik. Seit Björn Engholm und Gerd Walter und von Heide Simonis über Willy Piecyk bis zu Uwe Döring gilt: Rund um die Ostsee und überall sonst werden wir weiterhin die europäischen Chan- cen für Schleswig-Holstein nutzen und dessen Interessen selbstbewusst in Europa vertreten.

Zentrales Zukunftsprojekt der Sozialdemokratie für Europa ist eine "echte europäi- sche Sozialunion". Es geht uns um Wettbewerb, der stimuliert, Zusammenarbeit, die stärkt und Solidarität, die vereint. Wirtschaftliches Wachstum im europäischen Bin- nenmarkt darf kein Selbstzweck sein. Die Europäische Union ist kein Marktplatz für soziales Dumping. Wenn wir das nicht beherzigen, verlieren wir den Kampf gegen Eu- ropaverdrossenheit und Wahlenthaltung und - schlimmer noch: gegen den Einzug der Feinde der Demokratie in die europäischen Parlamente. Schon heute sind die Neofa- schisten in Italien und Spanien oder in Osteuropa und Frankreich ebenso wenig erträg- lich wie die Nazis in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern. -9-



Die soziale Gerechtigkeit muss in den Vordergrund, nicht die Marktradikalität. Wenn wir den Sozialstaat abbauen, wenden sich die Menschen von Europa ab. Es geht vielmehr darum zu garantieren, dass ökonomischer Fortschritt zu sozialer Sicherheit führt. Wir müssen den Menschen das Gefühl zurückgeben, dass der ökonomische Fortschritt nicht nur bei den Banken, Hedgefonds und Versicherungen ankommt, son- dern bei den Menschen. Hier ist der Vertrag von Lissabon Teil der Lösung und nicht Teil des Problems!

George Bush hat einmal vom „alten Europa“ gesprochen, als es um die Koalition „der Willigen“ ging. Und Europa sieht wirklich alt aus, wenn wir das soziale Europa nicht schaffen. Aber unsere Chancen sind besser als irgendwo sonst in der Welt und Bush ist zum Glück bald passé. Der Vertreter des neuen Amerika würde wohl sagen: Yes, we can.