Karl-Martin Hentschel zur Hochbegabtenförderung
PRESSEDIENST Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein Pressesprecherin Es gilt das gesprochene Wort Claudia Jacob Landeshaus TOP 20– Hochbegabtenförderung Düsternbrooker Weg 70 24105 KielDazu sagt der Vorsitzende Telefon: 0431 / 988-1503 Fax: 0431 / 988-1501 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Mobil: 0172 / 541 83 53 Karl-Martin Hentschel: E-Mail: presse@gruene.ltsh.de Internet: www.sh.gruene-fraktion.de Nr. 151.08 / 24.4.2008 Wenn das Genie verkannt wirdZunächst einmal vielen Dank an die CDU-Fraktion für die Fragen und an die Mitarbeiter des Ministeriums für die Antworten.Allerdings muss man leider feststellen, dass die Ergebnisse der Anfrage ausgesprochen dürftig sind. Offensichtlich ist kaum etwas über hochbegabte Kinder in Schleswig- Holstein bekannt und das Ministerium weiß relativ wenig darüber, was tatsächlich in die- sem Bereich an den Schulen stattfindet.Ein kleiner Blick in die einschlägige Literatur ist da wesentlich aufschlussreicher.Ich verzichte deshalb darauf, die Ergebnisse der großen Anfrage ein weiteres Mal zu re- kapitulieren. Stattdessen möchte ich einige Anmerkungen zu dem Thema machen und anschließend ein paar Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.Zunächst mal: Was ist Hochbegabung? In der Literatur spricht man von Hochbegabung ab einem Intelligenzquotienten von 130 Punkten. Der Durchschnitt liegt genau bei 100 Punkten. Nach dieser Definition sind 2,2 Prozent der Bevölkerung hochbegabt.Anmerkung Nr. 1 Oft wird geglaubt, Hochbegabung sei eine erbliche Eigenschaft, die Kinder haben oder nicht haben, und die nur entdeckt werden müsse. Dann müsse man nur die so entdeck- ten Kinder zu Hochbegabtenklassen zusammenfassen und alles ist super.Leider trifft das so nicht zu. Zwar ist Begabung zu einem gewissen Teil erblich. Viele Studien zeigen jedoch, dass der Einfluss des Elternhauses und der frühkindlichen Förde- rung wesentlich wichtiger ist.Ja – sogar die Ernährung von Kindern hat einen großen Einfluss auf den späteren Intelli- genzquotienten. Andere Studien haben herausgefunden, dass auch das Stillen von Kin- dern den IQ um 7 Punkte steigern kann.1/5 Anmerkung 2: Oft findet man die Vorstellung, der Intelligenzquotient eines Menschen sei eine Konstan- te. Auch dies ist falsch. Der Intelligenzquotient kann sich im Laufe der Entwicklung von Kindern durchaus erheblich ändern. Bei besonderer Förderung konnte in Einzelfällen ei- ne Steigerung um über 20 Punkte nachgewiesen werden.So hat man z. B. folgendes herausgefunden: Von einer Gruppe von 10-jährigen Kindern mit gleichem Intelligenzquotienten wurde die eine Hälfte in das Gymnasium und die an- dere Hälfte in die Realschule eingeschult. Nach 5 Jahren hatten die Kinder, die auf das Gymnasium eingeschult wurden, im Durchschnitt einen IQ, der um 11,4 Punkte höher lag als der IQ der Realschüler.Eine kreative Lernumgebung und intellektuelle Anregungen können also den IQ deutlich steigern.Umgekehrt bedeutet das, wenn ich schwache Schüler mit niedrigem IQ in Hauptschulen isoliere, dann senke ich systematisch ihren IQ. Das können dann auch noch so engagier- te Lehrerinnen und Lehrer nicht ausgleichen.Anmerkung 3: In einem Versuch in den USA hat man Lehrern erzählt, ganz bestimmte Kinder seien hochbegabt. In Wirklichkeit hatten diese Kinder aber einen ganz durchschnittlichen IQ und waren nicht besonders aufgefallen.Das Ergebnis war hoch erstaunlich. Innerhalb eines Jahres wurden eine Reihe dieser Kinder tatsächlich viel intelligenter. Woher das kommt, ist bisher nicht abschließend ge- klärt.Man vermutet, dass das Kinder waren, die bislang von den Lehrern eher wenig beachtet worden waren. Nun glaubten die Lehrer, sie hätten sich getäuscht und schenkten gerade diesen Kindern besondere Beachtung. Diesen Effekt nennt man den Pygmalioneffekt.Man kann daraus schließen, dass allein die Erwartungshaltung der Lehrer gegenüber dem Kind und das Vertrauen in seine Leistungsfähigkeit das Kind beflügeln kann und dadurch sein IQ zunimmt.Anmerkung 4: Es gibt nicht einen IQ, sondern viele unterschiedliche. Es gibt Kinder, die sehr einseitig musisch, einseitig sprachlich oder auch einseitig mathematisch begabt sind. Und natür- lich gibt es auch Kinder, die Allroundbegabungen sind.Der Intelligenzquotient oder auch andere Meßmethoden der Begabung bilden also nur einen Durchschnitt – einen Mittelwert von ganz unterschiedlichen Begabungen eines Menschen.Die einseitige Begabung eines Menschen kann im Einzelfall so extrem ausgeprägt sein, dass er ein hochbegabter Musiker oder ein hochbegabter Physiker ist, aber bei einem In- telligenztest den IQ eines Sonderschülers erreicht.Viele Naturwissenschaftler scheiterten bekanntlich in der Schule oder erreichten nur sehr mittelmäßige Ergebnisse, weil sie große Probleme in den Sprachen hatten und oft sogar Legastheniker sind. Einstein beherrschte bekanntlich auch nach vielen Jahren Aufent- halts in den USA immer noch kaum die englische Sprache. Umgekehrt gibt es Menschen, die locker in der Lage sind, Dutzende von Sprachen zu lernen, denen aber mathematisch-räumliches Denken völlig abgeht.Anmerkung 5: Leistung und Begabung sind etwas Verschiedenes. Die Begabung oder Intelligenz sagt deshalb nur begrenzt etwas darüber aus, zu welchen Leistungen ein Menschen fähig ist.So wurde festgestellt, dass Schülerinnen und Schüler, die in der Schule Spitzenleistun- gen bringen, nur zu 15 Prozent hochbegabt sind. 15 Prozent der SpitzenschülerInnen haben sogar einen IQ, der gerade beim Durchschnitt liegt.Begabung ist also nicht der einzige Faktor, der für gute Schulleistungen entscheidend ist. Dazu gehören auch ganz andere Eigenschaften wie Durchsetzungsvermögen, Ausdauer und Selbstbewusstsein.Anmerkung 6: Eines der häufigsten Vorurteile besteht darin, das man glaubt, dass hochbegabte Kinder mehr Probleme mit Ausgrenzung und Mobbing haben als weniger Begabte. Immer wie- der liest man, dass Hochbegabte häufig Probleme haben, mit anderen „normalen“ Kin- dern zurechtzukommen. Das Gegenteil ist der Fall.Hochbegabte Kinder leiden seltener an psychischen Störungen, sind gesünder und sind in der Regel sozial besser integriert als andere Kinder.Aber natürlich gibt es auch hochbegabte Kinder mit Verhaltensstörungen. Diese können dann dazu führen, dass die Kinder für dumm gehalten werden. Dies gilt besonders für die Kinder mit dem Asperger-Syndrom, einer Variante des Autismus.Natürlich kommt es auch vor, dass hochbegabte Kinder unterfordert sind und dadurch auffällig werden. Auch das ist aber – so sagt es die Literatur – sehr selten, da hochbe- gabte Kinder sich in der Regel ihr Futter selber suchen und z. B. extrem viel Lesen.Einseitig mathematisch begabte Schülerinnen und Schüler scheitern häufig, weil sie in zwei Sprachen und möglicherweise Deutsch auf 5 stehen. Umgekehrt ist es mit einer 5 in Mathe und einer 4 Minus in Physik eher möglich durchzukommen, denn in der Oberstufe kann dann als Naturwissenschaft Biologie gewählt werden.Meine Damen und Herren, soweit meine Anmerkungen, die ich der Literatur zum Thema Hochbegabungen ent- nommen habe. Ich denke, daraus kann man einige Konsequenzen ziehen:Erstens: Angesichts der Vielfalt von Begabungen und der dadurch sehr unterschiedlichen Prob- leme macht es keinen Sinn, gesonderte Hochbegabtenklassen einführen, um darin die zukünftigen Spitzenkräfte heranzuzüchten. Diesen Glauben hat übrigens die DDR gehabt und entsprechende Einrichtungen geschaffen. Genützt hat es auch nichts.Zweitens: Wir müssen die Fähigkeit der Lehrerinnen und Lehrer in Fragen der Diagnostik verbes- sern. Der Bericht teilt uns mit, dass in Bayern und Thüringen in jeder Grundschule eine Lehrerin bzw. ein Lehrer Ansprechpartner für Diagnostik ist und eine entsprechende Wei- terbildung gemacht hat. Das sollte auch in Schleswig-Holstein möglich sein.Drittens: Wir müssen mehr als bisher zur Kenntnis nehmen, dass die Schulartenempfehlung im Wesentlichen eine Self-Fulfilling-Prophecy ist. Sie sagt mehr aus über das Elternhaus als über die Potentiale der Schülerinnen und Schüler. Sie sollte deshalb schnell abgeschafft werden.Viertens: Das Hauptproblem sind nicht die allseitig Hochbegabten. Viel mehr Probleme haben Schülerinnen und Schüler, die einseitig begabt oder hochbegabt sind. Vorgestern wurde wieder berichtet, dass uns hunderttausend Ingenieure fehlen.Lehrer müssen wissen, dass ein Schüler oder eine Schülerin, die sich kaum meldet und große Probleme in der Rechtschreibung und Ausdrucksweise hat, später ein hervorra- gender Physiker oder Ingenieur werden kann, wenn man ihr oder ihm die Chance dazu gibt.Fünftens: Die wichtigste Lehre aber ist: Wir müssen die SchülerInnen als Individuen wahrnehmen. Wir müssen die Schule so weiterentwickeln, dass die Schülerinnen und Schüler individu- ell nach ihren jeweiligen Fähigkeiten in den unterschiedlichen Kompetenzbereichen ge- fördert werden.Wir müssen dazu kommen, dass allen Schülerinnen und jeder Schülern Stoff und Aufga- ben auf unterschiedlichen Niveaus angeboten werden, damit sie sich optimal entwickeln können.Es reicht nicht, das an einigen ausgesuchten und super ausgestatteten Sondereinrich- tungen anzubieten, wie das in Sachsen und Baden-Württemberg geschieht. Das muss die normale Pädagogik an allen Schulen des Landes werden.Wenn es stimmt, dass die Intelligenz sich auch während der Schulzeit noch erheblich entwickeln kann, dann muss es unser Ziel sein, nicht nur jede Schülerin und jeden Schü- ler nach seinen Begabungen zu entwickeln, sondern auch die Begabungen, die Intelli- genz selbst während der Schulzeit durch eine optimale Umgebung und vielfältige geistige Anregungen zu steigern.Nur eine Schule, die individuell fördert, kann möglichst vielen Hochbegabten und Spezi- albegabten gerecht werden. Daran sollten wir arbeiten. ***