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28.02.08
11:20 Uhr
B 90/Grüne

Karl-Martin Hentschel zur Reform der beruflichen Bildung

PRESSEDIENST Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein Pressesprecherin Es gilt das gesprochene Wort! Claudia Jacob Landeshaus TOP 18 – Berufsausbildung Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel
Dazu sagt der Vorsitzende Telefon: 0431 / 988-1503 Fax: 0431 / 988-1501 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Mobil: 0172 / 541 83 53 Karl-Martin Hentschel: E-Mail: presse@gruene.ltsh.de Internet: www.sh.gruene-fraktion.de


Nr. 084.08 / 28.2.2008

Jeder Jugendliche soll eine Berufsausbildung bekommen
Die Kammern und das Ministerium melden Erfolge bei der Zahl der neuen Ausbildungs- verträge. Dies möchte ich ausdrücklich loben und mich bei den dahinter stehenden Ak- quisiteuren und Betrieben bedanken.
Aber die Erfolgszahlen sind nur die halbe Wahrheit über die Situation der Berufsausbil- dung. -> 15 Prozent der Jugendlichen in Deutschland haben bis zu ihrem 30. Lebensjahr keine Berufsausbildung bekommen. -> Bei den ausländischen Jugendlichen bekommen sogar 75 Prozent keine Berufsaus- bildung. -> Das Handelsblatt berichtet, dass das Durchschnittsalter, mit dem Jugendliche ihre Ausbildung beginnen, mittlerweile bei 20 Jahren liegt. Dann haben die Jugendlichen in anderen Ländern ihre Ausbildung meist schon abgeschlossen. -> 500.000 Jugendliche befinden sich in dem so genannten Übergangssystem. Dieses Übergangssystem besteht aus unzähligen, teilweise durchaus sinnvollen, schulischen und praktischen Qualifizierungsmaßnahmen, mit denen die Jugendlichen besser auf eine Bewerbung um einen Ausbildungsplatz vorbereitet werden sollen.
Gemeinsames Merkmal aller dieser Maßnahmen ist, dass es sich de facto um Warte- schleifen handelt, in denen man aber keinen Berufsabschluss erwerben kann. Diese Si- tuation gilt auch für Schleswig-Holstein. In seinem Bericht vom 16. Oktober nennt der Mi- nister die Zahl von 11.000 Altbewerbern.
1/4 Der Anteil der Altbewerber unter den Bewerbern um einen Ausbildungsplatz lag 2006 bei 53 Prozent. Im letzten Jahr stieg diese Zahl sogar auf 57 Prozent. Dieses Übergangssys- tem kostet nicht nur die Jugendlichen Jahre ihres Lebens. Nach Berechnungen des Köl- ner Instituts der deutschen Wirtschaft kostet es auch die Steuerzahler 3,4 Milliarden Euro. Das ist eine sinnlose Verschwendung von Lebenszeit und Steuergeldern.
Wer von Ihnen einmal in einer Hauptschulabschlussklasse gewesen ist, der kennt die Si- tuation. Fast alle Jugendlichen haben über ein Dutzend Bewerbungen geschrieben. Die LehrerInnen machen einen engagierten Job, üben mit den Jugendlichen intensiv Bewer- bungen schreiben und trainieren Vorstellungsgespräche.
Und doch hat dann am Schluss fast keines der Mädchen und Jungen eine Ausbildungs- stelle bekommen. Die Jugendlichen bekommen das Gefühl vermittelt, sie werden von dieser Gesellschaft nicht gebraucht. Das ist demotivierend und frustrierend.
Aber noch schlimmer ist es, wenn sie dann in der Zeitung lesen: Minister und Wirtschaft verkünden wieder mal gemeinsam, alle BewerberInnen seien vermittelt. Es seien Lehr- stellen für alle da.
Es muss etwas passieren, wir dürfen die Augen nicht weiter vor der Realität schließen. Meine Fraktion hat deshalb Eckpunkte für eine Reform der Berufsausbildung erarbeitet.
Dabei geht es uns nicht darum, dass wir das duale System abschaffen wollen. Die Stär- ken des dualen Systems liegen in der praxisnahen Ausbildung und in der guten Integrati- on der Jugendlichen in den Arbeitmarkt. Deswegen wollen wir daran festhalten und be- grüßen das Engagement aller Beteiligten. Das duale System soll aber ergänzt werden.
Die Grüne Landtagsfraktion begrüßt auch das Handlungskonzept Schule und Arbeitswelt der Landesregierung, um den Übergang der Jugendlichen von der Schule in den Ausbil- dungs- und Arbeitsmarkt zu verbessern. Aber angesichts der Problemlage reicht das nicht aus.
Das, was für die allgemeine Schulpflicht gilt, muss auch für die Berufsausbildung gelten. Wir brauchen ein Gesamtsystem, das sicherstellt, dass alle Jugendlichen eine Berufaus- bildung bekommen.
Um dies zu erreichen schlagen wir folgende Eckpunkte vor: 1. Alle Jugendlichen besuchen entweder eine gymnasiale Oberstufe oder machen eine Berufsausbildung. 2. Durch eine Schülerdatei wird sichergestellt, dass alle Jugendlichen nach der 10. Klas- se eine Berufsausbildung durchlaufen.
Das ist wichtig. Denn heute wird – wie ich selbst im Bekanntenkreis mehrfach erfahren habe – nicht mal kontrolliert, ob die Jugendlichen überhaupt bis zum 18. Lebensjahr zu Schule gehen – obwohl doch bis 18 in Deutschland offiziell die Schulpflicht gilt. 3. Der Übergang von der Schule in die Ausbildung soll einheitlich nach der 10. Klasse er- folgen.
Die Vorstellung, dass Hauptschüler schon nach neun Schuljahren eine Berufsausbildung beginnen können, ist nicht mehr realistisch. Sie konkurrieren dann mit Realschülern, die ein Jahr älter und reifer und dazu schulisch weiter sind. NRW und Berlin haben deshalb bereits das 10. Pflichtschuljahr für Hauptschüler, die meisten anderen Bundesländer bie- ten es optional an. Das 9. und 10. Schuljahr sollte dann aber auch intensiver als heute auf die Berufsausbildung vorbereiten.
4. Ausbildung und Schule werden modularisiert.
Durch eine solche Modularisierung, wie sie zum Beispiel bei den Bauberufen schon ein- geführt wurde, wird erreicht, dass jeder Ausbildungsabschnitt zu zertifizierten Teilqualifi- kationen führt. Der Vorteil davon ist, dass die erreichten Module nach Abbruch der Aus- bildung oder bei einem Wechsel der Ausbildung später angerechnet werden können und die absolvierte Zeit nicht verloren ist.
5. Die Jugendlichen können sich nach dem 10. Schuljahr für eine der folgende Formen der Ausbildung entscheiden: Entweder: Eine betriebliche Ausbildung im dualen System Oder: Eine staatlich anerkannte Ausbildung an privaten oder staatlichen Einrichtungen, wie es heute schon z. B. in den Gesundheitsberufen, im Verwaltungsdienst oder bei der ErzieherInnenausbildung üblich ist.
Oder: Eine Ausbildung an einer Berufs- oder Produktionsschule. Eine solche Ausbildung muss in Praxis und Theorie mit einer betrieblichen vergleichbar sein. Das Modell der Produktionsschule soll sich an den Modellen in anderen Bundesländern, in Österreich und dem erfolgreichen prämierten System in Dänemark orientieren. Die Grundlage dafür wurde bereits 2005 durch die Änderung des Paragraf 43 des Berufsbildungsgesetzes geschaffen.
Schon heute finden erhebliche Teile der praktischen Ausbildung in vielen Handwerksbe- rufen nicht mehr in den Betrieben, sondern in den überbetrieblichen Ausbildungszentren statt. Diese werden zwar von den Kammern getragen, die Investitionen erfolgen aber mit erheblichen Zuschüssen des Landes. Und natürlich soll die Möglichkeit bestehen, zwi- schen dualer Ausbildung und Produktionsschule zu wechseln.
Es hat mich natürlich gefreut, dass letzte Woche eine solche Produktionsschule nach dänischem Vorbild in Malente eingerichtet worden ist. Aber – Herr Minister – das macht natürlich nur Sinn, wenn an dieser Schule dann auch ein anerkannter Berufsabschluss erworben werden kann. - Als vierte Möglichkeit der Ausbildung schlagen wir eine polyvalente vierjährige Oberstufe vor. Diese soll einerseits eine duale Berufsausbildung beinhalten, andererseits soll sie aber auch zur allgemeinen Hochschulreife – also zum Abitur führen.
Mit der polyvalente Ausbildung kann vermieden werden, dass so viele Jugendliche nach dem Abitur noch eine Berufsausbildung machen und danach doch noch ein Studium er- greifen.
Wir erheben nicht den Anspruch, dass wir bereits alle Fragen zu Ende gedacht zu haben. Wir wollen mit unseren Eckpunkten eine Diskussion anstoßen. Das gilt auch für die Fi- nanzierung des Systems.
Nach Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft können, wenn es gelingt, das Milliarden teure Übergangssystem in eine solches Berufsausbildungssystem zu überfüh- ren, evtl. sogar Gelder eingespart werden. Ob das stimmt, wissen wir nicht.
Wir schlagen darüber hinaus vor, zu prüfen, ob nach dem Modell der Bauwirtschaft in den Branchen, in denen unter Bedarf ausgebildet wird, Betriebe, die nicht ausbilden, zu einer Abgabe herangezogen werden können. So würden sie ihre zukünftigen Gesellen zumindest anteilmäßig mitzufinanzieren.
Ich freue mich auf einen gemeinsamen konstruktiven Beratungsprozess im Ausschuss und wünsche mir, dass vielleicht Schleswig-Holstein auch im Bereich der Berufsausbil- dung eines Tages Vorreiter sein wird.

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