Navigation und Service des Schleswig-Holsteinischen Landtags

Springe direkt zu:

Diese Webseite verwendet ausschließlich für die Funktionen der Website zwingend erforderliche Cookies.

Datenschutzerklärung

Pressefilter

Zurücksetzen
31.01.08
10:29 Uhr
B 90/Grüne

Detlef Matthiessen zu den Leukämiefällen in der Elbmarsch

PRESSEDIENST Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein Pressesprecherin Es gilt das gesprochene Wort! Claudia Jacob Landeshaus TOP 18 – Leukämiefälle in der Elbmarsch Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel
Dazu sagt der umweltpolitische Sprecher Telefon: 0431 / 988-1503 Fax: 0431 / 988-1501 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Mobil: 0172 / 541 83 53 Detlef Matthiessen: E-Mail: presse@gruene.ltsh.de Internet: www.sh.gruene-fraktion.de


Nr. 038.08 / 31.1.2008

Leukämiefälle in der Elbmarsch müssen aufgeklärt werden
Wir wollen im Interesse der betroffenen Menschen die Ursachen der gehäuften Krebser- krankungen in der Elbmarsch im Raum Geesthacht aufklären. Das ist nicht einfach. Wir stellen uns dieser Aufgaben jedoch trotz der Schwierigkeiten, auf die ich in meiner Rede eingehen werde.
Zwischen Dezember 1989 und Mai 1991 erkrankten in der näheren Umgebung des A- tomkraftwerkes Krümmel auffällig viele Kinder an Leukämie: Fünf Kinder unter 15 Jahren und ein 21-jähriger. Bis Anfang 2001 stieg diese Zahl im Nahbereich von Krümmel auf neun Fälle. Seitdem wurden zwei weitere Fälle bei Kindern unter 15 Jahren gemeldet.
Die Suche nach den Ursachen erweist sich bisher als äußerst schwierig und langwierig. Zahlreiche Studien und Untersuchungen wurden bisher in Auftrag gegeben, zumeist durch die Bundesländer Schleswig-Holstein und Niedersachsen.
Aufgabe der Expertenkommissionen war es, Empfehlungen für die Durchführung von Maßnahmen, z.B. Untersuchungen von Bodenproben, Messungen, demografische Stu- dien, auszusprechen. Es handelt sich also um Expertenkreise, die die Landesregierun- gen und Ministerien beraten. Die Untersuchungen werden, nach Erteilung des Auftrages durch das verantwortliche Ministerium, von einem externen Institut durchgeführt.
Die ersten beiden Expertenkommissionen Leukämie wurden Anfang der 1990er Jahre von den Bundesländern Niedersachsen und Schleswig-Holstein eingesetzt, nachdem die ersten Kinder-Leukämiefälle aufgetreten waren. Der vollständige Name für diese Kom- missionen lautet „Wissenschaftliche Untersuchungskommissionen zur Ursachenaufklä- rung der Leukämie-Erkrankungen in der Elbmarsch“:
1/4 Die Expertenkommission Leukämie Niedersachsen wurde ab 1990 von Prof. Dr. K. Au- rand, ab Januar 1991 von Prof. Dr. Dr. H.-E. Wichmann geleitet. Die Expertenkommissi- on Leukämie Schleswig-Holstein wurde ab 1992 von Prof. Dr.O.Wassermann geleitet.
Ab 1992 tagten die beiden Gruppen gemeinsam, abwechselnd in Kiel oder Hannover. Neben anderen Empfehlungen war die Durchführung der Norddeutschen Leukämie- und Lymphomstudie (NLL), eine gemeinsame Empfehlung dieser beiden Gruppen.
Der wissenschaftliche Beirat zur NLL-Studie, ein international besetzter epidemiologi- scher Fachbeirat, der ab 1996 eingesetzt wurde und dessen Vorsitz Prof. Dr. K.-H. Jö- ckel innehatte.
Zur Unterstützung der Fachkommissionen wurden Arbeitsgruppen eingesetzt, die sich auf einzelne Aspekte konzentrierten: Arbeitsgruppe Belastungsindikatoren (ab 1993 Umweltministerium Niedersachsen, Leitung: Prof. Dr. E. Greiser), Arbeitsgruppe Tritium (Schleswig-Holstein)
Desweiteren gab es einen runden Tisch vor Ort: Arbeitsgruppe Leukämie in der Elb- marsch
Diese AG diente als Schnittstelle zwischen den Kommissionen und den BürgerInnen im betroffenen Gebiet. Neben VertreterInnen der einzelnen Kommissionen waren auch VertreterInnen der örtlichen Behörden unter den Mitgliedern.
Die Expertenkommission Leukämie Niedersachsen informiert in ihrem Abschlussbericht von November 2004 über die Untersuchung zahlreicher potenzieller Risikofaktoren. Un- tersuchte Risikofaktoren, die nicht mit den Nuklearanlagen in Verbindung stehen, sind bspw.: Örtliches Trinkwasser, Röntgenuntersuchungen bei den betroffenen Kindern, Baumaterial der im Gebiet befindlichen Deiche, durch die Elbe angeschwemmte Schad- stoffe im Uferbereich, elektromagnetische Felder durch Stromleitungen.
Die Ergebnisse bei der Untersuchung solcher Faktoren fielen negativ aus, eine Signifi- kanz in Verbindung mit den Krankheitsfällen konnte bei keinem dieser Faktoren erkannt werden.
Um die ortsansässigen Nuklearbetriebe, also das Kernkraftwerk und das GKSS- Forschungszentrum (Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiff- fahrt), als mögliche Krankheitsverursacher zu untersuchen, wurde die NLL-Studie veran- lasst. Diese Studie befasste sich jedoch schlussendlich nicht mit den Kinderleukämiefäl- len, so dass mangels entsprechender Fragestellung auch hier keine Aussagen möglich waren. Die Expertenkommission Niedersachsen zog als letzte verbleibende Möglichkeit den Zufall (Zufallshypothese) in Betracht.
Ebenfalls im November 2004 beendete die Expertenkommission Leukämie Schleswig- Holstein ihre Arbeit. In ihrem Abschlussbericht, den sechs der acht ExpertInnen unter- zeichneten, heißt es: "Wir haben das Vertrauen in diese Landesregierung verloren." Die WissenschaftlerInnen, unter der Leitung von Prof. Dr. Wassermann, warfen der bis 2005 amtierenden rot-Grünen Landesregierung Schleswig-Holstein und der Staatsanwaltschaft Behinderung ihrer Arbeit und Unwillen zur Aufklärung vor.
Insbesondere der mutmaßliche Brandfall auf dem GKSS-Gelände vom September 1986 und die möglicherweise daraus resultierende Kontaminierung der Umgebung mit Kern- brennstoffen (insb. PAC) sei dringend zu untersuchen. Sie kündigten an, zukünftig mit Nicht-Regierungsinstitutionen wie etwa dem Verein Internationaler Ärzte für die Verhü- tung des Atomkrieges (IPPNW) zusammenzuarbeiten, und legten ihre Mandate aus Pro- test nieder.
Die Landesregierung Schleswig-Holstein bezeichnete die Vorwürfe der Wissenschaftle- rInnen der schleswig-holsteinischen Kommission in einer Pressemitteilung (November 2004) als "abwegig und abstrus", "haltlos und unseriös" und sprach dem Leiter der nie- dersächsischen Fachkommission, Prof. Dr. Dr. H.-Erich Wichmann, das Vertrauen aus.
Nach den offiziellen Abschlussberichten wurde das Thema Leukämie in der Elbmarsch weniger intensiv behandelt. Immerhin konnte von den Grünen nach heftigen Auseinan- dersetzungen in der damaligen Landesregierung erreicht werden, dass Prof. Wolfgang Hoffmann, der die NLL zum Schluss federführend bearbeitet hat, mit einer weiteren ver- tiefenden Untersuchung zu den Leukämie Fällen beauftragt wurde.
Das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) behauptete in einer Anfang April 2006 ausge- strahlten Reportage, dass viele Institute aus Existenzangst keine Bodenproben aus dem Raum Geesthacht untersuchten. Die Laborbetreiber fürchteten, dass sie von den Regie- rungen oder anderen Stellen zukünftig durch Nichtvergabe von Aufträgen abgestraft würden.
Zur Wahrung der Objektivität sind die Bodenproben deshalb von Professor Vladislav Mi- ronov an der Internationalen Sacharow-Umwelt-Universität in Minsk ohne Mitteilung des Fundortes untersucht worden. Die Ergebnisse wurden am 11. und 12. April 2007 in einer Anhörung dem Ausschusses für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit des Nieder- sächsischen Landtags präsentiert. An der Sitzung nahmen auch Abgeordnete des Schleswig-Holsteinischen Landtags und der Hamburgischen Bürgerschaft teil, darunter auch meine Person.
Die Untersuchung der im Boden der Elbmarsch gefundenen Kügelchen ergab keine Hin- weise auf natürliche Produkte wie Harztropfen, sie stammen nicht von atmosphärischen Atomwaffentests, sie wurden nicht durch die Katastrophe von Tschernobyl freigesetzt und stammen auch nicht aus einem herkömmlichen Kernkraftwerk. Sie enthalten Spuren von angereichertem Uran, Plutonium, Thorium, aber auch Tritium.
Am 12. September1986 wurde im Kernkraftwerk Krümmel an mehreren Messpunkten ein um 1-10 Bq/m3 gegenüber dem Normalbetrieb erhöhter Wert für die Summenaktivität ra- dioaktiver Edelgase gemessen. Im Außenbereich wurden in Bodennähe deutlich erhöhte Aktivitätswerte (knapp 300 Bq/m³) gemessen. Als Ursache der Strahlung wurden die Zer- fallsprodukte von Radon bestimmt. Kraftwerksbetreiber und Aufsichtsbehörde interpre- tierten die aufgetretenen Werte als Folge einer örtlichen Inversionslage.
Den Untersuchungen in Minsk stehen die Ergebnisse der Untersuchungen am Mineralo- gischen Institut in Frankfurt gegenüber, ebenfalls von der BI Elbmarsch beauftragt. Diese Untersuchungen haben keinerlei Hinweise auf einen nuklearen Störfall ergeben, wurden aber weder von der BI noch vom ZDF veröffentlicht.
Zahlreiche WissenschaftlerInnen, VertreterInnen der Politik und der Aufsichtsbehörden halten die Unfall-Theorie für abwegig und widerlegt. Die Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch, einige von ihr beauftragte oder an den Untersuchungen beteiligte Wis- senschafterInnen sowie einige Medien sprechen jedoch von einer Behinderung ihrer Un- tersuchungen durch öffentliche Stellen und sehen sich bei solchen Aussagen der Politi- kerInnen in ihrer Befürchtung bestärkt, ein Vorfall im GKSS solle vertuscht werden.
Die Grüne Landtagsfraktion in Niedersachsen hat nun die Initiative ergriffen und einen in- terfraktionellen Landtagsbeschluss im Dezember 2007 erreicht. Der Landtag von Nieder- sachsen hat sich an das Bundesamt für Strahlenschutz mit der Bitte gewandt, die Mode- ration eines weiteren, an die besagte Anhörung anknüpfenden Gespräches mit einzelnen ExpertInnen zu übernehmen. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat seine Bereitschaft hierzu erklärt und vorgeschlagen, dass Expertengespräch mittels eines klar strukturierten Fragenkataloges, der unserem Landtagsantrag als Anlage beigefügt ist, durchzuführen.
Der Landtag von Schleswig-Holstein sollte sich der Initiative aus Niedersachsen an- schließen. Auch wir tragen Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung der betrof- fenen Region. Wir sollten alles unternehmen, um endlich die Ursachen für das Leukämie- Cluster in der Elbmarsch zu ergründen.
Wir finden es sinnvoll, die widersprüchlichen Ergebnisse der Expertenanhörung durch ei- nen extern und fachlich erarbeiteten Fragenkatalog zu überprüfen. Insofern wundern wir uns, dass die große Koalition mit einem eigenen Antrag kommt und nicht das Gespräch zu einem gemeinsamen Antrag gesucht hat.

***