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11.07.07
12:43 Uhr
SSW

Lars Harms zu TOP 2 & 9 - Kinderschutzgesetz und Änderung des Gesundheitsdienstgesetzes

Presseinformation
Kiel, den 11.07.2007 Es gilt das gesprochene Wort



Lars Harms
TOP 2 Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst (Drs. 16/1427) TOP 9 Kinderschutzgesetz (Drs. 16/1427)


Spektakuläre Schlagzeilen, nüchterne Daten und alltägliche Erfahrungen erinnern uns immer
wieder daran: Manche Eltern schaffen es nicht allein, ihren Kindern Geborgenheit zu geben und
die Sprösslinge zu fördern. Im schlimmsten Fall führt dieses zu schwerer Misshandlung. In noch
viel mehr Fällen werden die Kleinsten aber auch „nur“ vernachlässigt, weil die Eltern der Aufgabe
nicht gewachsen sind. Viel zu viele Kinder leiden stumm und fühlen sich von der Erwachsenwelt
allein gelassen.


Gerade weil nicht alle Eltern in der Lage oder willens sind, ihren Kindern das zu geben, was sie
brauchen, hat auch die Gesellschaft eine Verantwortung für ihre Kinder. Wenn die Eltern nicht
klarkommen, muss die Gesellschaft für sie handeln. Die Tatsachen sprechen aber dafür, dass die
bisherigen Hilfen und Eingriffsmöglichkeiten nicht ausreichen. Deshalb begrüßen wir, dass uns
jetzt endlich der Entwurf für ein Kinderschutzgesetz vorliegt, den die Sozialministerin ja bereits
im März angekündigt hatte. 2

Wer große Erwartungen gehegt hat, sieht sich allerdings enttäuscht. Vieles im neuen Kinder-
schutzgesetz der Ministerin ist einfach eine Aneinanderreihung von Bestehendem und von
Selbstverständlichkeiten. Daraus spricht die erklärte Absicht der Ministerin, bestehende Hilfen
und Angebote auch in Zeiten der Haushaltskonsolidierung zu erhalten. Aber das ist natürlich zu
wenig, gemessen an den Erwartungen, die bestehen – und auch seitens der Ministerin geweckt
wurden.


Neue Hilfen sind nicht geplant. Durch eine bessere Vernetzung von Behörden, Ärzten,
Einrichtungen und Verbänden soll aber eine effektive und zusammenhängendere Politik zum
Schutz der Kinder erreicht werden. Dagegen kann niemand etwas einwenden.


Der erste Ansatz ist und bleibt die Vorbeugung. Eltern sollen darin unterstützt werden, ihre
Sache richtig und gut zu machen. Die Information für Eltern wird gestärkt und die Bedeutung der
Familienbildung und Familienberatung wird unterstrichen. Neben der Überforderung ist
Unwissenheit und Informationsmangel immer noch ein wesentlicher Grund dafür, dass Kinder
nicht gerecht behandelt werden. Allerdings glaube ich auch, dass diese Informationen mit Blick
auf Problemfamilien besser durch mündliche Überlieferung im täglichen Leben – z. B. durch
Familienhebammen – erfolgt, statt durch Broschüren. Denn damit werden vor allem diejenigen
Eltern erreicht, die ohnehin ein Interesse daran haben, sich über Kinderpflege und Kinder-
erziehung zu informieren.


Was aber machen, wenn das Kind schon buchstäblich am Rande des Brunnens steht, weil die
Eltern nicht aufpassen? Zentrales Element der neuen Kinderschutzpolitik in allen Bundesländern
ist die Etablierung eines Frühwarnsystems, das Problemfamilien rechtzeitig in den Fokus der
Behörden bringt. Denn es gibt viele, denen Probleme auffallen: Geburtskliniken, Hebammen,
Jugendhilfe, Gesundheitsämter, Kinder- und Jugendärzte, Beratungsstellen, Schulen, Polizei,
Justiz und viele andere. Diese sollen sich in formalisierten Kinderschutz-Netzwerken und
Kooperationskreisen austauschen und zusammenarbeiten, um gefährdeten Kindern frühzeitig
beistehen zu können. Weil es gerade bei der Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure bisher
gehapert hat, sollen künftig die Jugendämter die Verantwortung für die Koordinierung und für
das Handeln bei Kindeswohlgefährdung bekommen. Dies ist ein guter Ansatz. Außerdem sollen 3

die vielen Beteiligten fortgebildet werden, damit Probleme erkannt und gemeinsam bearbeitet
werden können. Auch das ist gut so.


Kinder werden in den ersten Lebensjahren weitgehend in der Familie betreut. Deshalb sind die
Probleme von außen schwer zu erkennen, wenn die Familie nicht andere Hilfen in Anspruch
nimmt. Aus diesem Grund laufen die meisten Pläne für Frühwarnsysteme in Deutschland darauf
hinaus, die Früherkennungsuntersuchungen beim Kinderarzt zu nutzen. Die Erfahrungen zeigen,
dass diese von gut 5 % der Kinder bzw. Eltern nicht in Anspruch genommen werden und es
besteht die Vermutung, dass dieses gerade diejenigen sind, für die ein besonderes Risiko besteht.
Deshalb haben die Grünen uns auch bereits vor anderthalb Jahren einen Entwurf zur Änderung
des Gesundheitsdienstgesetzes vorgelegt, mit dem die Teilnahme an der „U7“ verbindlich
gemacht werden sollte. Ich habe damals schon deutlich gemacht, dass dem SSW dieser Ansatz zu
eng war. Die Begrenzung auf Zweijährige, die komplizierte Kostenregelung und die
Konzentration auf Kontrolle durch Mediziner erschien uns zu wenig.


Mit ihrem Gesetzentwurf haben die Grünen aber die Grundlage für eine Diskussion geschaffen,
an der alle Fraktionen sich intensiv beteiligt haben. Die gesundheitspolitischen Sprecher haben
sich darauf verständigen können, dass verbindliche Gesundheitsuntersuchungen für alle Kinder
aus gesundheitspolitischer Sicht Sinn machen. Wir waren uns schließlich darin einig, dass es um
alle Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U11 gehen muss, dass diese durch die niedergelas-
senen Kinderärzte durchgeführt werden müssen, dass die Teilnahme von den Gesundheits-
ämtern kontrolliert werden soll und dass es für die Eltern Konsequenzen haben muss, wenn sie
dieser Pflicht nicht nachkommen. Diese langwierige Suche nach Gemeinsamkeiten und Kom-
promissen ist aber hinfällig geworden, seitdem der Entwurf der Ministerin für ein
Kinderschutzgesetz vorliegt.


Dabei finde ich nicht, dass dem Sozialministeriums in diesem Punkt eine bessere Lösung
gelungen ist. Die Landesregierung wählt denselben Ansatz wie das Saarland, das bereits eine
entsprechende Regelung eingeführt hat. Dort berichten die Kinderärzte die Teilnahme an den
Früherkennungsuntersuchungen an eine zentrale „Screeningstelle“, die dann die Daten mit
denen von Meldebehörden abgleicht und so die Kinder ausfindig macht, die nicht teilgenommen 4

haben. In Schleswig-Holstein werden die säumigen Eltern dann ein Schreiben von dieser weithin
unbekannten „zentralen Stelle“ bekommen, die sie zur Teilnahme an der Früherkennung
auffordert. Wer sein Kind dann immer noch nicht zum Kinderarzt bringt, schließt unfreiwillig
Bekanntschaft mit dem örtlichen Jugendamt, ohne aber zur Gesundheitsuntersuchung
verpflichtet werden zu können. Diese Lösung wirkt sehr bürokratisch und stellt den
Kontrollaspekt zu stark in den Vordergrund. Außerdem wäre es sinnvoller gewesen, für den
gesamten Verlauf die bestehenden Strukturen vor Ort zu nutzen. Die Gesundheits-, Sozial- und
Jugendämter sind den Eltern bekannt und haben jetzt schon eine enge Zusammenarbeit und
arbeiten oft unter einem Dach. Da liegt es eigentlich nahe, sich der schon vorhandenen
Strukturen zu bedienen. Statt dessen schafft Frau Trauernicht etwas Neues und verursacht so
noch mehr Bürokratie.


Aus gesundheitspolitischer Sicht halte ich eine verbindliche Teilnahme an den U-Untersuchun-
gen für notwendig. Sie macht auch Sinn, weil der Kinderarzt unmittelbar die Eltern beraten kann,
wenn er gesundheitliche Probleme und Risiken feststellt. Ich glaube allerdings nicht, dass
verbindliche Vorsorgeuntersuchungen eine gute politische Antwort auf Kindesmisshandlung
und -vernachlässigung ist. Es ist zumindest fragwürdig, ob es ausreicht, diese Aufgabe
maßgeblich einem Kinderarzt zu überlassen, der das Kind ein paar Minuten im Rahmen der U-
Untersuchungen sieht. Dabei werden nur jene Kinder auffallen, die körperlich misshandelt
werden. Viele andere werden aber trotz schlechter Lebensbedingungen durchgehen. Außerdem
sind die Abstände zwischen den Terminen von der U7 an so groß, dass ein rechtzeitiges Erkennen
von Risiken kaum möglich ist. Unter welchen Bedingungen ein Kind aufwächst, sieht man letzt-
lich nicht, indem man ihm kurz auf den Körper guckt, sondern indem man nachsieht, unter wel-
chen Umständen es lebt und aufwächst. Dafür sind aber ganz andere Modelle besser geeignet.


Der SSW hat schon häufiger auf das dänische Vorbild verwiesen. Dort gibt es einen gesonderten
Zweig der Krankenpflege – die so genannte Gesundheitspflege – der gerade diese Aufgabe
erfüllt: Kinder und Familien in den ersten Lebensjahren zu begleiten, anzuleiten und bei Bedarf
Förderung und Hilfe zu vermitteln. Der Besuch der Gesundheitspflegerin gehört zum Alltag für
alle Schichten, obwohl kein Zwang besteht. Diese Hilfen haben den großen Vorteil, dass das Kind
in seinem Lebensumfeld gesehen und über einen längeren Zeitraum begleitet wird. So lässt sich 5

klarer erkennen, welche Defizite und welcher Förderbedarf bestehen. Die Akzeptanz der
Beratung durch die Eltern ist groß und die Vermittlung weiterer Hilfen ist niedrigschwellig. Ich
ziehe so ein System vor, weil die Veränderungsbereitschaft der Eltern in einem solchen
Zusammenhang wesentlich stärker gefördert wird.


Denn letztendlich kommen wir nicht umhin, dass der Staat nicht durch Vorsorgeuntersuchungen
oder Eingriffe der Jugendhilfe die Defizite des Elternhauses ausgleichen kann. Es geht darum, die
Familien in die Lage zu versetzen, selbst klarzukommen und Hilfsbedarf von außen frühzeitig zu
erkennen. Das Gesundheitsthema ist nur ein Weg, um die Tür zum Elternhaus zu öffnen. Eben
diese Verkoppelung der gesundheitlichen mit der sozialen Perspektive, dieser Ansatz der
Förderung und des „Empowerment“ liegt ja auch dem „Schutzengel“-Konzept zugrunde, das im
Rahmen des „Kinder- und Jugend-Aktionsplans Schleswig-Holstein“ landesweit ausgedehnt
werden soll. Während dieses aber ausdrücklich auf „sozial benachteiligte Familien“ beschränkt
ist, richtet sich ein anderes bekanntes Beispiel, das ebenfalls vom dänischen Vorbild inspirierte
„Dormagener Modell“, an alle Eltern. Wir meinen, dass eben dies das Ziel sein muss: an alle
Eltern heranzutreten. Denn die klassischen Mittelschichteltern bringen ihre Kinder zwar
zuverlässiger zu den U-Untersuchungen, aber das heißt doch nicht, dass es dort keine
überforderten und hilflosen Eltern gibt.


Wenn es um den Schutz vor Misshandlung und Vernachlässigung geht, dann macht eine
allgemeine aufsuchende Gesundheitsfürsorge durch Familienhebammen, Sozialarbeiter oder
den öffentlichen Gesundheitsdienst am meisten Sinn. Eine Pflicht zu ärztlichen Früherkennungs-
untersuchungen macht wiederum aus gesundheitpolitischer Sicht Sinn. Die Beratung in
Gesundheitsfragen kann dazu beitragen, den Aspekt der sozialen Kontrolle in den Hintergrund
zu drängen und so die Bereitschaft der Eltern zu Mitarbeit und Veränderung erhöhen. Denn
letztlich vertraut man doch eher der Familienhebamme auf dem Sofa als dem Jugendamts-
mitarbeiter vor der Haustür.
Aber egal wer sich jetzt um die Kinder kümmern soll, die bei U-Untersuchungen fehlen oder
anderweitig auffallen: Aufsuchende und nachsorgende soziale Dienste der Sozial-, Jugend- und
Gesundheitsämter kosten Geld. Auch die Fortbildung der kommunalen Mitarbeiter, die
Koordinierung von formalisierten Netzwerken und die sozialmedizinische Qualifikation der 6

niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte sind nicht zum Nulltarif zu haben. In dieser Hinsicht
macht das Kinderschutzgesetz aber wenig Hoffnung. Es preist die Arbeit der bestehenden
Institutionen, aber macht von vornherein klar, dass die Ausgaben nach Maßgabe des Haushaltes
gestaltet werden. Das ist zwar eigentlich eine Selbstverständlichkeit macht aber auch deutlich,
dass die Landesregierung keine Absichten hegt, die finanziellen Rahmenbedingungen für den
Schutz der Kinder wesentlich zu verändern.


Trotzdem wird der Schleswig-Holsteinische Landtag mit dem Kinderschutzgesetz bundesweit
Maßstäbe setzen, weil es anderswo ein solches oft noch nicht gibt. Allerdings hoffe ich nicht,
dass das Verfahren in Verbindung mit diesem Gesetzentwurf Maßstäbe für den Landtag setzt.
Denn es steht auch für eine schier endlose Kette von unerfreulichen Ereignissen. Die Fraktionen
der Großen Koalition haben die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen vor den Kopf
gestoßen, weil eigentlich vereinbart war, dass wir ausgehend von dem Grünen Entwurf etwas
Gemeinsames erarbeiten. Die SPD-Fraktion hat auch ihrem zuständigen Fraktionsmitglied vor
den Kopf gestoßen, das gemeinsam mit den anderen Fraktionen konstruktiv an einer Lösung auf
Grundlage des Gesundheitsdienstgesetzes gearbeitet hat. Die Sozialministerin und die
Fraktionen von CDU und SPD haben die Kommunalverbände vor dem Kopf gestoßen. In
Anbetracht der Vorgeschichte dieses Gesetzentwurfs glaubt wohl niemand daran, dass es im
Auftrag der Kollegen Geerdts und Baasch geschrieben wurde. Durch die Einbringung des vom
Sozialministerium erarbeiteten Gesetzes durch die Landtagsfraktionen wurde aber eine
Verbandsanhörung des Ministeriums und damit auch die Beteiligung der Betroffenen
umgangen. Und schließlich hat die CDU die SPD vor den Kopf gestoßen, als diese plötzlich
öffentlich eine Kehrtwende bei den Kinderrechten in der Landesverfassung machte, ohne den
Koalitionspartner zu informieren. Auch das gehört zu diesem Gesamtkomplex.


Das Verfahren um dieses Gesetz ist eine Sammlung von parlamentarischen Kopfverletzungen
und sollte den Fraktionen der Großen Koalition zu denken geben. Ich lege es mal so aus, dass die
großen Fraktionen angesichts der Großen Koalition etwas aus der Übung sind, wenn es um die
parlamentarische Arbeit geht. Ich freue mich aber trotzdem auf die Ausschussberatung – in der
Hoffnung, dass es in den weiteren Beratungen wieder etwas gesitteter und parlamentarischer
zugehen wird.