Lars Harms zu TOP 2 & 9 - Kinderschutzgesetz und Änderung des Gesundheitsdienstgesetzes
PresseinformationKiel, den 11.07.2007 Es gilt das gesprochene WortLars HarmsTOP 2 Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst (Drs. 16/1427) TOP 9 Kinderschutzgesetz (Drs. 16/1427)Spektakuläre Schlagzeilen, nüchterne Daten und alltägliche Erfahrungen erinnern uns immerwieder daran: Manche Eltern schaffen es nicht allein, ihren Kindern Geborgenheit zu geben unddie Sprösslinge zu fördern. Im schlimmsten Fall führt dieses zu schwerer Misshandlung. In nochviel mehr Fällen werden die Kleinsten aber auch „nur“ vernachlässigt, weil die Eltern der Aufgabenicht gewachsen sind. Viel zu viele Kinder leiden stumm und fühlen sich von der Erwachsenweltallein gelassen.Gerade weil nicht alle Eltern in der Lage oder willens sind, ihren Kindern das zu geben, was siebrauchen, hat auch die Gesellschaft eine Verantwortung für ihre Kinder. Wenn die Eltern nichtklarkommen, muss die Gesellschaft für sie handeln. Die Tatsachen sprechen aber dafür, dass diebisherigen Hilfen und Eingriffsmöglichkeiten nicht ausreichen. Deshalb begrüßen wir, dass unsjetzt endlich der Entwurf für ein Kinderschutzgesetz vorliegt, den die Sozialministerin ja bereitsim März angekündigt hatte. 2Wer große Erwartungen gehegt hat, sieht sich allerdings enttäuscht. Vieles im neuen Kinder-schutzgesetz der Ministerin ist einfach eine Aneinanderreihung von Bestehendem und vonSelbstverständlichkeiten. Daraus spricht die erklärte Absicht der Ministerin, bestehende Hilfenund Angebote auch in Zeiten der Haushaltskonsolidierung zu erhalten. Aber das ist natürlich zuwenig, gemessen an den Erwartungen, die bestehen – und auch seitens der Ministerin gewecktwurden.Neue Hilfen sind nicht geplant. Durch eine bessere Vernetzung von Behörden, Ärzten,Einrichtungen und Verbänden soll aber eine effektive und zusammenhängendere Politik zumSchutz der Kinder erreicht werden. Dagegen kann niemand etwas einwenden.Der erste Ansatz ist und bleibt die Vorbeugung. Eltern sollen darin unterstützt werden, ihreSache richtig und gut zu machen. Die Information für Eltern wird gestärkt und die Bedeutung derFamilienbildung und Familienberatung wird unterstrichen. Neben der Überforderung istUnwissenheit und Informationsmangel immer noch ein wesentlicher Grund dafür, dass Kindernicht gerecht behandelt werden. Allerdings glaube ich auch, dass diese Informationen mit Blickauf Problemfamilien besser durch mündliche Überlieferung im täglichen Leben – z. B. durchFamilienhebammen – erfolgt, statt durch Broschüren. Denn damit werden vor allem diejenigenEltern erreicht, die ohnehin ein Interesse daran haben, sich über Kinderpflege und Kinder-erziehung zu informieren.Was aber machen, wenn das Kind schon buchstäblich am Rande des Brunnens steht, weil dieEltern nicht aufpassen? Zentrales Element der neuen Kinderschutzpolitik in allen Bundesländernist die Etablierung eines Frühwarnsystems, das Problemfamilien rechtzeitig in den Fokus derBehörden bringt. Denn es gibt viele, denen Probleme auffallen: Geburtskliniken, Hebammen,Jugendhilfe, Gesundheitsämter, Kinder- und Jugendärzte, Beratungsstellen, Schulen, Polizei,Justiz und viele andere. Diese sollen sich in formalisierten Kinderschutz-Netzwerken undKooperationskreisen austauschen und zusammenarbeiten, um gefährdeten Kindern frühzeitigbeistehen zu können. Weil es gerade bei der Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure bishergehapert hat, sollen künftig die Jugendämter die Verantwortung für die Koordinierung und fürdas Handeln bei Kindeswohlgefährdung bekommen. Dies ist ein guter Ansatz. Außerdem sollen 3die vielen Beteiligten fortgebildet werden, damit Probleme erkannt und gemeinsam bearbeitetwerden können. Auch das ist gut so.Kinder werden in den ersten Lebensjahren weitgehend in der Familie betreut. Deshalb sind dieProbleme von außen schwer zu erkennen, wenn die Familie nicht andere Hilfen in Anspruchnimmt. Aus diesem Grund laufen die meisten Pläne für Frühwarnsysteme in Deutschland daraufhinaus, die Früherkennungsuntersuchungen beim Kinderarzt zu nutzen. Die Erfahrungen zeigen,dass diese von gut 5 % der Kinder bzw. Eltern nicht in Anspruch genommen werden und esbesteht die Vermutung, dass dieses gerade diejenigen sind, für die ein besonderes Risiko besteht.Deshalb haben die Grünen uns auch bereits vor anderthalb Jahren einen Entwurf zur Änderungdes Gesundheitsdienstgesetzes vorgelegt, mit dem die Teilnahme an der „U7“ verbindlichgemacht werden sollte. Ich habe damals schon deutlich gemacht, dass dem SSW dieser Ansatz zueng war. Die Begrenzung auf Zweijährige, die komplizierte Kostenregelung und dieKonzentration auf Kontrolle durch Mediziner erschien uns zu wenig.Mit ihrem Gesetzentwurf haben die Grünen aber die Grundlage für eine Diskussion geschaffen,an der alle Fraktionen sich intensiv beteiligt haben. Die gesundheitspolitischen Sprecher habensich darauf verständigen können, dass verbindliche Gesundheitsuntersuchungen für alle Kinderaus gesundheitspolitischer Sicht Sinn machen. Wir waren uns schließlich darin einig, dass es umalle Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U11 gehen muss, dass diese durch die niedergelas-senen Kinderärzte durchgeführt werden müssen, dass die Teilnahme von den Gesundheits-ämtern kontrolliert werden soll und dass es für die Eltern Konsequenzen haben muss, wenn siedieser Pflicht nicht nachkommen. Diese langwierige Suche nach Gemeinsamkeiten und Kom-promissen ist aber hinfällig geworden, seitdem der Entwurf der Ministerin für einKinderschutzgesetz vorliegt.Dabei finde ich nicht, dass dem Sozialministeriums in diesem Punkt eine bessere Lösunggelungen ist. Die Landesregierung wählt denselben Ansatz wie das Saarland, das bereits eineentsprechende Regelung eingeführt hat. Dort berichten die Kinderärzte die Teilnahme an denFrüherkennungsuntersuchungen an eine zentrale „Screeningstelle“, die dann die Daten mitdenen von Meldebehörden abgleicht und so die Kinder ausfindig macht, die nicht teilgenommen 4haben. In Schleswig-Holstein werden die säumigen Eltern dann ein Schreiben von dieser weithinunbekannten „zentralen Stelle“ bekommen, die sie zur Teilnahme an der Früherkennungauffordert. Wer sein Kind dann immer noch nicht zum Kinderarzt bringt, schließt unfreiwilligBekanntschaft mit dem örtlichen Jugendamt, ohne aber zur Gesundheitsuntersuchungverpflichtet werden zu können. Diese Lösung wirkt sehr bürokratisch und stellt denKontrollaspekt zu stark in den Vordergrund. Außerdem wäre es sinnvoller gewesen, für dengesamten Verlauf die bestehenden Strukturen vor Ort zu nutzen. Die Gesundheits-, Sozial- undJugendämter sind den Eltern bekannt und haben jetzt schon eine enge Zusammenarbeit undarbeiten oft unter einem Dach. Da liegt es eigentlich nahe, sich der schon vorhandenenStrukturen zu bedienen. Statt dessen schafft Frau Trauernicht etwas Neues und verursacht sonoch mehr Bürokratie.Aus gesundheitspolitischer Sicht halte ich eine verbindliche Teilnahme an den U-Untersuchun-gen für notwendig. Sie macht auch Sinn, weil der Kinderarzt unmittelbar die Eltern beraten kann,wenn er gesundheitliche Probleme und Risiken feststellt. Ich glaube allerdings nicht, dassverbindliche Vorsorgeuntersuchungen eine gute politische Antwort auf Kindesmisshandlungund -vernachlässigung ist. Es ist zumindest fragwürdig, ob es ausreicht, diese Aufgabemaßgeblich einem Kinderarzt zu überlassen, der das Kind ein paar Minuten im Rahmen der U-Untersuchungen sieht. Dabei werden nur jene Kinder auffallen, die körperlich misshandeltwerden. Viele andere werden aber trotz schlechter Lebensbedingungen durchgehen. Außerdemsind die Abstände zwischen den Terminen von der U7 an so groß, dass ein rechtzeitiges Erkennenvon Risiken kaum möglich ist. Unter welchen Bedingungen ein Kind aufwächst, sieht man letzt-lich nicht, indem man ihm kurz auf den Körper guckt, sondern indem man nachsieht, unter wel-chen Umständen es lebt und aufwächst. Dafür sind aber ganz andere Modelle besser geeignet.Der SSW hat schon häufiger auf das dänische Vorbild verwiesen. Dort gibt es einen gesondertenZweig der Krankenpflege – die so genannte Gesundheitspflege – der gerade diese Aufgabeerfüllt: Kinder und Familien in den ersten Lebensjahren zu begleiten, anzuleiten und bei BedarfFörderung und Hilfe zu vermitteln. Der Besuch der Gesundheitspflegerin gehört zum Alltag füralle Schichten, obwohl kein Zwang besteht. Diese Hilfen haben den großen Vorteil, dass das Kindin seinem Lebensumfeld gesehen und über einen längeren Zeitraum begleitet wird. So lässt sich 5klarer erkennen, welche Defizite und welcher Förderbedarf bestehen. Die Akzeptanz derBeratung durch die Eltern ist groß und die Vermittlung weiterer Hilfen ist niedrigschwellig. Ichziehe so ein System vor, weil die Veränderungsbereitschaft der Eltern in einem solchenZusammenhang wesentlich stärker gefördert wird.Denn letztendlich kommen wir nicht umhin, dass der Staat nicht durch Vorsorgeuntersuchungenoder Eingriffe der Jugendhilfe die Defizite des Elternhauses ausgleichen kann. Es geht darum, dieFamilien in die Lage zu versetzen, selbst klarzukommen und Hilfsbedarf von außen frühzeitig zuerkennen. Das Gesundheitsthema ist nur ein Weg, um die Tür zum Elternhaus zu öffnen. Ebendiese Verkoppelung der gesundheitlichen mit der sozialen Perspektive, dieser Ansatz derFörderung und des „Empowerment“ liegt ja auch dem „Schutzengel“-Konzept zugrunde, das imRahmen des „Kinder- und Jugend-Aktionsplans Schleswig-Holstein“ landesweit ausgedehntwerden soll. Während dieses aber ausdrücklich auf „sozial benachteiligte Familien“ beschränktist, richtet sich ein anderes bekanntes Beispiel, das ebenfalls vom dänischen Vorbild inspirierte„Dormagener Modell“, an alle Eltern. Wir meinen, dass eben dies das Ziel sein muss: an alleEltern heranzutreten. Denn die klassischen Mittelschichteltern bringen ihre Kinder zwarzuverlässiger zu den U-Untersuchungen, aber das heißt doch nicht, dass es dort keineüberforderten und hilflosen Eltern gibt.Wenn es um den Schutz vor Misshandlung und Vernachlässigung geht, dann macht eineallgemeine aufsuchende Gesundheitsfürsorge durch Familienhebammen, Sozialarbeiter oderden öffentlichen Gesundheitsdienst am meisten Sinn. Eine Pflicht zu ärztlichen Früherkennungs-untersuchungen macht wiederum aus gesundheitpolitischer Sicht Sinn. Die Beratung inGesundheitsfragen kann dazu beitragen, den Aspekt der sozialen Kontrolle in den Hintergrundzu drängen und so die Bereitschaft der Eltern zu Mitarbeit und Veränderung erhöhen. Dennletztlich vertraut man doch eher der Familienhebamme auf dem Sofa als dem Jugendamts-mitarbeiter vor der Haustür.Aber egal wer sich jetzt um die Kinder kümmern soll, die bei U-Untersuchungen fehlen oderanderweitig auffallen: Aufsuchende und nachsorgende soziale Dienste der Sozial-, Jugend- undGesundheitsämter kosten Geld. Auch die Fortbildung der kommunalen Mitarbeiter, dieKoordinierung von formalisierten Netzwerken und die sozialmedizinische Qualifikation der 6niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte sind nicht zum Nulltarif zu haben. In dieser Hinsichtmacht das Kinderschutzgesetz aber wenig Hoffnung. Es preist die Arbeit der bestehendenInstitutionen, aber macht von vornherein klar, dass die Ausgaben nach Maßgabe des Haushaltesgestaltet werden. Das ist zwar eigentlich eine Selbstverständlichkeit macht aber auch deutlich,dass die Landesregierung keine Absichten hegt, die finanziellen Rahmenbedingungen für denSchutz der Kinder wesentlich zu verändern.Trotzdem wird der Schleswig-Holsteinische Landtag mit dem Kinderschutzgesetz bundesweitMaßstäbe setzen, weil es anderswo ein solches oft noch nicht gibt. Allerdings hoffe ich nicht,dass das Verfahren in Verbindung mit diesem Gesetzentwurf Maßstäbe für den Landtag setzt.Denn es steht auch für eine schier endlose Kette von unerfreulichen Ereignissen. Die Fraktionender Großen Koalition haben die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen vor den Kopfgestoßen, weil eigentlich vereinbart war, dass wir ausgehend von dem Grünen Entwurf etwasGemeinsames erarbeiten. Die SPD-Fraktion hat auch ihrem zuständigen Fraktionsmitglied vorden Kopf gestoßen, das gemeinsam mit den anderen Fraktionen konstruktiv an einer Lösung aufGrundlage des Gesundheitsdienstgesetzes gearbeitet hat. Die Sozialministerin und dieFraktionen von CDU und SPD haben die Kommunalverbände vor dem Kopf gestoßen. InAnbetracht der Vorgeschichte dieses Gesetzentwurfs glaubt wohl niemand daran, dass es imAuftrag der Kollegen Geerdts und Baasch geschrieben wurde. Durch die Einbringung des vomSozialministerium erarbeiteten Gesetzes durch die Landtagsfraktionen wurde aber eineVerbandsanhörung des Ministeriums und damit auch die Beteiligung der Betroffenenumgangen. Und schließlich hat die CDU die SPD vor den Kopf gestoßen, als diese plötzlichöffentlich eine Kehrtwende bei den Kinderrechten in der Landesverfassung machte, ohne denKoalitionspartner zu informieren. Auch das gehört zu diesem Gesamtkomplex.Das Verfahren um dieses Gesetz ist eine Sammlung von parlamentarischen Kopfverletzungenund sollte den Fraktionen der Großen Koalition zu denken geben. Ich lege es mal so aus, dass diegroßen Fraktionen angesichts der Großen Koalition etwas aus der Übung sind, wenn es um dieparlamentarische Arbeit geht. Ich freue mich aber trotzdem auf die Ausschussberatung – in derHoffnung, dass es in den weiteren Beratungen wieder etwas gesitteter und parlamentarischerzugehen wird.