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07.06.07
16:50 Uhr
SSW

Lars Harms zu TOP 22 - Landesausführungsgesetz zum Sozialgesetzbuch XII

Presseinformation Kiel, den 8.6.2007 Es gilt das gesprochene Wort



Lars Harms
TOP 22 Umsetzung des Landesausführungsgesetzes zum Sozialgesetzbuch XII Drs. 16/1409

Die Bürgerbeauftragte hat in ihrem aktuellen Tätigkeitsbericht, den wir bereits in der
letzten Sitzung diskutierten, einige Beispiele erschreckender Willkür im Bereich der
Eingliederungshilfe aufgedeckt. So setzen einige Jugendämter die Stundenzahl für die
Schulbegleitung behinderter Kinder – ich zitiere - „ohne hinreichende Begründung und
gegen die fachliche Empfehlung der Schule“ als zu niedrig an (Seite 28). Die betroffenen
Eltern wehren sich mit Einsprüchen, wenden sich an Rechtsanwälte oder, eben, an die
Bürgerbeauftragte. Dieser nervenaufreibende Aufwand wäre gar nicht nötig, würden sich
die Jugendämter von vornherein an die fachlichen Vorgaben halten. In der
Behindertenhilfe sollten fachliche Belange immer vor finanziellen Belangen rangieren.


Gerade bei behinderten Kindern und Jugendlichen kann eine frühzeitige und umfassende
Unterstützung einer Verschlechterung vorbeugen oder zur weiteren Aktivierung
beitragen. Dabei kommt es darauf an, dass möglichst alle Fachrichtungen Hand in Hand 2
arbeiten. Statt die Eltern zu einer regelrechten Tournee der unterschiedlichen Hilfeleister
zu zwingen, sollte eine koordinierte Unterstützung angeboten werden.


Das, was im stationären Bereich oftmals selbstverständlich ist, nämlich personelle
Kontinuität, ist im ambulanten Bereich nicht immer gegeben. Das hat teilweise die
absurde Folge, dass Eltern verzweifelt zur stationären Hilfe greifen, weil sie die
Bedingungen in der ambulanten Hilfe, die sie eigentlich wollen, aufreibt.


Auch wenn das nicht der Fall ist, führten verteilte Kompetenzen dazu, dass sich die
Menschen mit Behinderungen bzw. deren Angehörige zu einem halben Studium
gezwungen werden: Rechtsvorschriften sind so kompliziert und Antragswege so
verschlungen, dass man nur als Sozialexperte wirklich zu seinem Recht kommt. Das ist
keine Gleichbehandlung der Leistungsbezieher, sondern eine eindeutige Bevorzugung
derjenigen, die in der Lage sind, ihr Anliegen systemgerecht zu formulieren. Gerade viele
Eltern fühlen sich, als ob sie vor einem gigantischen Fahrkartenautomat stünden, der
zwar die richtigen und preisgünstigsten Tickets ausdruckt, aber erst nachdem der Kunde
reihenweise richtige Befehle eingegeben hat. Wenn Klienten die Leistungen teilweise
selbst produzieren müssen, stehen wir vor dem Bankrott eines Systems, das eigentlich die
Benachteiligten in die Lage versetzen soll, gleichberechtigt ihre Interessen umsetzen zu
können; ein System, das ihre Defizite ausgleichen und nicht verstärken soll.


Im Sozialausschuss sind wir letzte Woche auf die Vorteile des Fallmanagements
aufmerksam gemacht worden. Die entsprechenden Folien sind dem Bericht angefügt.
Fallmanagement ist die Organisierung der Hilfen um die Bedürfnisse des Betroffenen
herum. Das ist die Abkehr von der Dominanz der Organisationslogik, die die Fälle so lange 3
zurecht biegt, bis sie der Logik und den Abläufen der Organisation entsprechen.
Vereinfacht gesagt: der Mensch steht im Mittelpunkt. Verbindliche Zusagen schaffen
transparente Abläufe und erhöhen die Kontrollmöglichkeiten. Schließlich variiert das
Erscheinungsbild einer Behinderung erheblich je nach Alter, sozialem Umfeld und
Vorgeschichte des Betroffenen. Dieser Tatsache kann jetzt Rechnung getragen werden.
Das begrüße ich ausdrücklich.


Doch das ist der zweite Schritt vor dem ersten. Vor der Erstellung der Hilfeplanung
müssen zunächst die Ansprüche als berechtigt anerkannt sein. Ohne Anspruch, gibt es
keine Leistung; ohne Anerkennung des Anspruchs kommt man also gar nicht in den
Genuss von fachübergreifender Fallkonferenz und Case-Management. Eigentlich ganz
logisch. Doch gerade mit der Anerkennung der Anspruchsgrundlage tun sich viele
Jugendämter sehr schwer, weil sie wissen, welche Kosten sie damit auslösen. Ist der
Anspruch erst anerkannt, müssen die Leistungen gewährt werden.


Einige Jugendämter zögern die Anspruchsanerkennnung darum heraus. Es ist ein Skandal,
wenn sich Jugendämter wie Versicherungsgesellschaften gerieren, die aus
Kostengründen Erstschreiben zur Schadenregulierungen prinzipiell nicht stattgeben.
Hinhaltetaktik und Verschleppung mögen den Haushälter erfreuen, sie gefährden bei
Menschen mit Behinderungen unter Umständen die Rehabilitation. Im öffentlichen Raum
ist das undenkbar.


Genau das geschieht trotzdem jeden Tag in unserem Land. Wenn man die geschilderten
Fälle der Bürgerbeauftragten hochrechnet, die überdies eine steigende Zahl bei der
Eingliederungshilfe verzeichnet, ist die Entwicklung besorgniserregend. Gerade Eltern 4
behinderter Kinder fühlen sich über die an sich schon beklemmende Situation hinaus
oftmals hilflos und allein gelassen. Eine finanzorientierte Bürokratie verschlimmert das
Leid. Das ist besonders perfide.


Der SSW begrüßt die Initiative von Kreisen und Kommunen, die Eingliederungshilfe
stärker auf den Einzelfall auszurichten und eine Vereinheitlichung des Verfahrens
voranzutreiben. Es darf eben keine Rolle spielen, in welchem Kreis oder welcher Stadt ein
Hilfebedürftiger wohnt.


Trotz der Konzeption ist eine einheitliche Handhabung der Anspruchsanerkennung aber
noch nicht in Sicht. Und eine Vereinheitlichung des Verfahrens ist nur nützlich, wenn auch
landesweit nach einheitlichen Kriterien die Anspruchsberechtigung geprüft wird.
Ansonsten bleibt es beim Ausschluss von Leistungen für die Betroffenen und dann nützt
es einem auch nichts, wenn man ein gut durchstrukturiertes Verfahren hätte erwarten
können, wenn man sich gegen das Amt durchgesetzt hätte. Hier müssen deshalb feste
Regelungen geschaffen werden und diese müssen im Sinne der Betroffenen abgefasst
sein und nicht kurzfristigen finanziellen Überlegungen der der zuständigen Ämter
unterliegen.