Lars Harms zu TOP 22 - Landesausführungsgesetz zum Sozialgesetzbuch XII
Presseinformation Kiel, den 8.6.2007 Es gilt das gesprochene WortLars HarmsTOP 22 Umsetzung des Landesausführungsgesetzes zum Sozialgesetzbuch XII Drs. 16/1409Die Bürgerbeauftragte hat in ihrem aktuellen Tätigkeitsbericht, den wir bereits in derletzten Sitzung diskutierten, einige Beispiele erschreckender Willkür im Bereich derEingliederungshilfe aufgedeckt. So setzen einige Jugendämter die Stundenzahl für dieSchulbegleitung behinderter Kinder – ich zitiere - „ohne hinreichende Begründung undgegen die fachliche Empfehlung der Schule“ als zu niedrig an (Seite 28). Die betroffenenEltern wehren sich mit Einsprüchen, wenden sich an Rechtsanwälte oder, eben, an dieBürgerbeauftragte. Dieser nervenaufreibende Aufwand wäre gar nicht nötig, würden sichdie Jugendämter von vornherein an die fachlichen Vorgaben halten. In derBehindertenhilfe sollten fachliche Belange immer vor finanziellen Belangen rangieren.Gerade bei behinderten Kindern und Jugendlichen kann eine frühzeitige und umfassendeUnterstützung einer Verschlechterung vorbeugen oder zur weiteren Aktivierungbeitragen. Dabei kommt es darauf an, dass möglichst alle Fachrichtungen Hand in Hand 2arbeiten. Statt die Eltern zu einer regelrechten Tournee der unterschiedlichen Hilfeleisterzu zwingen, sollte eine koordinierte Unterstützung angeboten werden.Das, was im stationären Bereich oftmals selbstverständlich ist, nämlich personelleKontinuität, ist im ambulanten Bereich nicht immer gegeben. Das hat teilweise dieabsurde Folge, dass Eltern verzweifelt zur stationären Hilfe greifen, weil sie dieBedingungen in der ambulanten Hilfe, die sie eigentlich wollen, aufreibt.Auch wenn das nicht der Fall ist, führten verteilte Kompetenzen dazu, dass sich dieMenschen mit Behinderungen bzw. deren Angehörige zu einem halben Studiumgezwungen werden: Rechtsvorschriften sind so kompliziert und Antragswege soverschlungen, dass man nur als Sozialexperte wirklich zu seinem Recht kommt. Das istkeine Gleichbehandlung der Leistungsbezieher, sondern eine eindeutige Bevorzugungderjenigen, die in der Lage sind, ihr Anliegen systemgerecht zu formulieren. Gerade vieleEltern fühlen sich, als ob sie vor einem gigantischen Fahrkartenautomat stünden, derzwar die richtigen und preisgünstigsten Tickets ausdruckt, aber erst nachdem der Kundereihenweise richtige Befehle eingegeben hat. Wenn Klienten die Leistungen teilweiseselbst produzieren müssen, stehen wir vor dem Bankrott eines Systems, das eigentlich dieBenachteiligten in die Lage versetzen soll, gleichberechtigt ihre Interessen umsetzen zukönnen; ein System, das ihre Defizite ausgleichen und nicht verstärken soll.Im Sozialausschuss sind wir letzte Woche auf die Vorteile des Fallmanagementsaufmerksam gemacht worden. Die entsprechenden Folien sind dem Bericht angefügt.Fallmanagement ist die Organisierung der Hilfen um die Bedürfnisse des Betroffenenherum. Das ist die Abkehr von der Dominanz der Organisationslogik, die die Fälle so lange 3zurecht biegt, bis sie der Logik und den Abläufen der Organisation entsprechen.Vereinfacht gesagt: der Mensch steht im Mittelpunkt. Verbindliche Zusagen schaffentransparente Abläufe und erhöhen die Kontrollmöglichkeiten. Schließlich variiert dasErscheinungsbild einer Behinderung erheblich je nach Alter, sozialem Umfeld undVorgeschichte des Betroffenen. Dieser Tatsache kann jetzt Rechnung getragen werden.Das begrüße ich ausdrücklich.Doch das ist der zweite Schritt vor dem ersten. Vor der Erstellung der Hilfeplanungmüssen zunächst die Ansprüche als berechtigt anerkannt sein. Ohne Anspruch, gibt eskeine Leistung; ohne Anerkennung des Anspruchs kommt man also gar nicht in denGenuss von fachübergreifender Fallkonferenz und Case-Management. Eigentlich ganzlogisch. Doch gerade mit der Anerkennung der Anspruchsgrundlage tun sich vieleJugendämter sehr schwer, weil sie wissen, welche Kosten sie damit auslösen. Ist derAnspruch erst anerkannt, müssen die Leistungen gewährt werden.Einige Jugendämter zögern die Anspruchsanerkennnung darum heraus. Es ist ein Skandal,wenn sich Jugendämter wie Versicherungsgesellschaften gerieren, die ausKostengründen Erstschreiben zur Schadenregulierungen prinzipiell nicht stattgeben.Hinhaltetaktik und Verschleppung mögen den Haushälter erfreuen, sie gefährden beiMenschen mit Behinderungen unter Umständen die Rehabilitation. Im öffentlichen Raumist das undenkbar.Genau das geschieht trotzdem jeden Tag in unserem Land. Wenn man die geschildertenFälle der Bürgerbeauftragten hochrechnet, die überdies eine steigende Zahl bei derEingliederungshilfe verzeichnet, ist die Entwicklung besorgniserregend. Gerade Eltern 4behinderter Kinder fühlen sich über die an sich schon beklemmende Situation hinausoftmals hilflos und allein gelassen. Eine finanzorientierte Bürokratie verschlimmert dasLeid. Das ist besonders perfide.Der SSW begrüßt die Initiative von Kreisen und Kommunen, die Eingliederungshilfestärker auf den Einzelfall auszurichten und eine Vereinheitlichung des Verfahrensvoranzutreiben. Es darf eben keine Rolle spielen, in welchem Kreis oder welcher Stadt einHilfebedürftiger wohnt.Trotz der Konzeption ist eine einheitliche Handhabung der Anspruchsanerkennung abernoch nicht in Sicht. Und eine Vereinheitlichung des Verfahrens ist nur nützlich, wenn auchlandesweit nach einheitlichen Kriterien die Anspruchsberechtigung geprüft wird.Ansonsten bleibt es beim Ausschluss von Leistungen für die Betroffenen und dann nütztes einem auch nichts, wenn man ein gut durchstrukturiertes Verfahren hätte erwartenkönnen, wenn man sich gegen das Amt durchgesetzt hätte. Hier müssen deshalb festeRegelungen geschaffen werden und diese müssen im Sinne der Betroffenen abgefasstsein und nicht kurzfristigen finanziellen Überlegungen der der zuständigen Ämterunterliegen.