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14.09.06
10:53 Uhr
B 90/Grüne

Karl-Martin Hentschel zur Regierungserklärung zur Inneren Sicherheit

PRESSEDIENST Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein Pressesprecherin Claudia Jacob Es gilt das gesprochene Wort! Landeshaus Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel TOP 2 – Regierungserklärung zur Inneren Sicherheit Durchwahl: 0431/988-1503 Zentrale: 0431/988-1500 Dazu sagt der Fraktionsvorsitzende Telefax: 0431/988-1501 von Bündnis 90/Die Grünen, Mobil: 0172/541 83 53 Karl-Martin Hentschel: E-Mail: presse@gruene.ltsh.de Internet: www.sh.gruene-fraktion.de

Nr. 374.06 / 14.09.06

Wer demütigt, schafft sich Feinde
Sehr geehrter Herr Präsident , sehr geehrte Damen und Herren,
Die große Koalition in Berlin hat sich letzte Woche auf die Einrichtung von sogenannten Anti-Terror-Dateien geeinigt. Gemäß den Regeln der Arithmetik in einer großen Koalition gibt es nun so viele Anti-Terror-Dateien wie Koalitionspartner.
Nach der Logik der derzeit herrschenden Regierungsmeinung müssten wir damit ja auch doppelt so viel Sicherheit haben wie mit einer Datei.
Die Anti-Terror-Datei ist exemplarisch für die Sicherheitspolitik der letzten Jahre. Ein Bei- spiel dafür, wie Sinn und Nutzen von Maßnahmen immer weniger hinterfragt werden. Ei- ne Evaluierung der Sicherheitsgesetze findet nicht statt. Selbst wenn sie gesetzlich quasi festgelegt ist, wie im Falle der Rasterfahndung, wird die Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit auch bei ausbleibendem Erfolg einfach per Ordre Mufti, in diesem Fall per Ordre Stegner festgestellt.
Es hätte sich bei einer ehrlichen Bewertung gezeigt, dass die Rasterfahndung, die 2002 durchgeführt wurde, eine immense Anzahl von Personalstunden gebunden hat.
Viele Daten führen zwangsläufig bei der Fahndung auch zu Datenmüll, der verarbeitet werden will. Damit wird Polizeikraft gebunden, die gebraucht wird, um konkrete Recher- che und Ermittlung vorzunehmen. Es wird zwar gerne behauptet, der in Kiel festgenom- mene Youssef Mohamad E., wäre durch eine Rasterfahndung im Stil von 2002 ins Netz gegangen. Aber das bezweifele ich.
Auch eine heutige Rasterfahndung hätte viele hundert muslimische StudentInnen aufge- zeigt, von denen einige auch Moscheen besuchen. Die allermeisten von ihnen sind voll- kommen harmlos.
1/4 Das Bundesverfassungsgericht hat daher vor einigen Monaten die Voraussetzungen für eine Rasterung enger gefasst. Es reicht nicht das Vorliegen einer allgemeinen Bedro- hungslage. Es muss eine konkrete Gefahr vorliegen und es muss nach konkreten Ras- tern gesucht werden, die nicht nur allgemeine Merkmale umfasst, die von vielen geteilt werden.
Minister Stegner hat nach den Vorfällen im Rheinland und der Verhaftung in Kiel nun er- neut eine Rasterfahndung in die Diskussion gebracht.
Er konnte aber nicht die Frage beantworten, ob denn von Seiten der Polizei ein konkreter Rastervorschlag vorliegt, über dessen Sinn man überhaupt diskutieren könnte. Daneben darf nicht vergessen werden, dass selbst die beste Rasterfahndung die Radikalisierung nicht verhindert, sondern bestenfalls aufzeigt.
Die Anti-Terror Dateien sollen das Wissen von Polizei und Geheimdiensten miteinander verbinden. Das ist bei politisch motivierter Kriminalität sinnvoll. Jedoch müssen wir dabei zum einen die verfassungsrechtliche Trennung von Polizei und Geheimdiensten beach- ten, die historisch gewachsen ist aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus und der DDR.
Zum Zweiten müssen wir die Arbeitsweise der Geheimdienste berücksichtigen. Ein Ge- heimdienst kann seine wirklich interessanten Informationen nicht in eine Datenbank ein- stellen, wenn er nicht weiß, wer darauf zugreift. Die Gefahr, dass dadurch Informanten auffliegen, wäre zu groß.
Der wichtigste Informationsaustausch zwischen den beiden Behörden wird also nach wie vor über persönliche, vertrauensvoll aufgebaute Kontakte und Arbeitsrunden stattfinden.
Handlungsbedarf für unsere Sicherheit besteht auch in Fragen der Kontrolle der Ge- heimdienste. Der Fall al Masri hat das einmal wieder in besonderer Dramatik gezeigt.
Der bisherigen parlamentarischen Kontrolle mangelte es an personellen, organisatori- schen und technischen Ressourcen, an Ermittlungsbefugnissen sowie an Beanstan- dungsmöglichkeiten. Diese Mängel können durch eine/n Geheimdienstbeauftragte/n be- hoben werden. Dessen Organisation, Befugnisse und Arbeitsweise sollten sich an dem bewährten Modell des Datenschutzbeauftragten orientieren.
Eine solcher "Geheimdienstbeauftragte" oder „Beauftragter“ mit eigenem Mitarbeiterstab, die oder der "jederzeit und unangemeldet alle Dienststellen des Bundesnachrichten- dienstes, die oder der Verfassungsschutzbehörden und des MAD besuchen und Akten- einsicht verlangen" kann, wurde 2002 von der damaligen Vorsitzenden des Bundestags- Innenausschusses anlässlich der Kompetenzausweitung der Geheimdienste im Rahmen der Terrorismusgesetzgebung gefordert.
An der Aktualität dieser Forderung hat sich bis heute nichts geändert. Umso bitterer ist es, dass alle Vorschläge der Grünen zur Einrichtung von Strukturreformkommissionen bei Polizei und Verfassungsschutz bisher gescheitert sind.
Die immer wieder geforderte Ausweitung der Videoüberwachung in die öffentlichen Räume ist weder demokratieverträglich noch bringt sie mehr Sicherheit.
Videoüberwachung auf Bahnhöfen, in Flughäfen und Häfen ist längst Realität. Sie zielge- richtet im Bereich der kritischen Infrastrukturen einzusetzen ist nicht strittig. Videoüber- wachung kann mehr Sicherheit schaffen, das hängt von den Voraussetzungen im Einzel- nen ab.
Das Parlament muss in jedem Fall in der Lage sein, die Videoüberwachung zu bewerten und auch zu verbessern. Formulierungen, wie sie der Regierungsentwurf zur Neufassung des Paragrafen 184 Absatz 2 Landesverwaltungsgesetz vorsieht, nehmen der Legislative das Heft aus der Hand.
Solche unklaren Tatbestandsvoraussetzungen machen die Rechtsanwendung unvorher- sehbar und sind mit dem Verfassungsgrundsatz der Normenklarheit nicht zu vereinbaren.
Wir müssen mit einer längerfristig andauernden neuen Bedrohungslage leben, dies er- fordert nachhaltige Konzepte und Strategien.
In den USA arbeiten Universitäten an einer wissenschaftlichen Bewertung der Analyse und der Strategien zur Bekämpfung des neuen transnationalen Terrorismus. Wir brau- chen auch in Deutschland dringend eine Stärkung der sicherheitsbezogenen Wissen- schaft und den Aufbau einer wissenschaftlich fundierten Evaluierung.
Dann würden hier vielleicht Konferenzen stattfinden, wie jene im Mai 2002 in Harvard. Auf einem dortigen Kongress haben sich WissenschaftlerInnen mit der Frage nach den Wurzeln des Terrorismus beschäftigt. Die dort vorgetragenen Analysen zeigen, dass we- der Armut noch Analphabetismus eine Disposition zum Terroristen schaffen. Als ein wichtiger Faktor wurde die Erfahrung von Demütigung ausgemacht. Diese erkläre, wa- rum die Anführer des Terrorismus so erfolgreich in der Rekrutierung einer großen Zahl junger Männer seien. Das veranlasste die ForscherInnen zu der Empfehlung, bei Sicher- heitsmaßnahmen unnötige Demütigungen zu vermeiden. Die Rasterfahndung, die ohne konkreten Verdacht an Hand allgemeiner Suchkriterien vorgeht, dürfte in hohem Maße stigmatisierend und demütigend wirken.
In der arabischen Welt wird sehr genau beobachtet, wie der Westen den Ansprüchen an sich selber gerecht wird, gerade in schwierigen Zeiten. Der Wert der Werte beweist sich erst in der Krise. Wahren wir Freiheit und Menschenrechte? Fühlen wir uns dem christli- chen Erbe verpflichtet, auf das wir uns gerne berufen?
Es wird schon wieder der Gedanke salonfähig, dass Freiheit und Menschenwürde nicht universell zu schützen seien, sondern relativiert werden müssten, das heißt einem tat- sächlichen oder vermeintlichen Feind dieselben nicht zustehen. Guantanamo ist ein Symbol dieser Haltung.
Das christliche Erbe, die Wahrung der Menschenrechte und der Gedanke der Nächsten- liebe stehen aber auch in anderer Hinsicht aktuell hart auf der Probe. Täglich erreichen Flüchtlinge aus Afrika die Küsten der Mittelmeerländer. Europa hat das sich seit Jahren verschärfende Armutsproblem in Afrika bisher erfolgreich verdrängt. Weder die bisherige Asylpolitik, noch die Wirtschaftsaußenpolitik oder die Entwicklungszusammenarbeit ha- ben auf dieses Thema eine Antwort gefunden.
Europa und die westliche Welt dürfen hier nicht einfach mit einer schärferen Grenzüber- wachung reagieren. Wenn Europa auf die Frage keine Antwort findet, hat es nicht nur moralisch versagt, es hat auch seine Glaubwürdigkeit in der gesamten Welt einschließ- lich der islamischen verspielt. In diesen Tagen wurde allenthalben eine Bilanz von fünf Jahren Anti-Terror-Kampf ge- führt. Im Prinzip sind sich alle Fachleute einig, dass der radikale Islamismus heute stär- ker ist als 2001. Der weltpolitische Konflikt, der zur Bildung der islamistischen Terror- netzwerke geführt hat, kann nicht gewonnen werden. Er kann nur durch Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe zu einem friedlichen Miteinander geführt werden. Wir können uns nur zu einem glaubwürdigen Kooperationspartner der islamischen Welt machen, wenn wir klar in allem politischen Handeln zeigen, für welche Werte wir stehen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist auch die Verminderung unserer Abhängigkeit vom Öl. Sie ist nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes notwendig. Die volkswirtschaft- liche Abhängigkeit zwingt zur Kumpanei mit korrupten, menschenverachtenden Regimen eben auch in der islamischen Welt. Sie spült aber auch ununterbrochen Geld in die Hän- de radikaler arabischer Familien, die damit die Sozialprogramme der islamistischen Or- ganisationen finanzieren, die diese so beliebt machen. Wenn wir dem etwas entgegen- setzen wollen, dann muss die westliche Welt sowohl unabhängiger vom Öl werden, als auch eine vergleichbare Entwicklungspolitik leisten anstelle mit Gegenterror und Krieg zu drohen. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hat am Montag, dem fünften Jah- restag der Anschläge im Hinblick auf Terrorismus geäußert; „Der Krieg ist nicht vorbei – und er wird nicht vorbei sein, bis entweder wir oder die Extremisten als Sieger daraus hervorgehen“ Präsident Bush irrte sich seinerzeit in der Frage der iranischen Atomwaffen, er hat sich hinsichtlich der Verbindung von Saddam Hussein zu Al-Qaida geirrt. Und er irrt auch hier: Wenn wir den Kampf gegen religiös motivierten Terrorismus als einen Krieg begreifen, werden wir verlieren. Ein Krieg kann von niemandem gewonnen werden. Ein Krieg führt zu unendlichem Leid und zum Gegenteil dessen, was er zu schützen vorgibt: die Bewah- rung der Menschenrechte. Deutschland und Europa müssen verhindern, dass dieser Irrtum von Herrn Bush zu noch schlimmeren Folgen führt als seine letzten Irrtümer. Die letzten fünf Jahre haben gezeigt, dass durch die westliche Eskalationspolitik und die Kriegsrhetorik der militante Islamismus eher gewonnen hat als dass er geschwächt wur- de. Die Frage der Sicherheit in Deutschland ist in erster Linie die Frage nach einer kohären- ten Außenpolitik. Darüber hinaus ist sie eine Frage der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit und Verhältnis- mäßigkeit im Umgang der BürgerInnen untereinander. Schleswig-Holstein, Deutschland, Europa, die ganze sogenannte westliche Welt muss authentisch mit dem kulturellen Erbe Europas, mit der Bewahrung von Freiheit und Men- schenrechten umgehen. ***