Anne Lütkes zur Migrationsforschung
PRESSEDIENST Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein Pressesprecherin Es gilt das gesprochene Wort! Claudia Jacob Landeshaus TOP 31 – Migrationsforschung Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel Durchwahl: 0431/988-1503 Zentrale: 0431/988-1500 Dazu sagt die Fraktionsvorsitzende Telefax: 0431/988-1501 von Bündnis 90/Die Grünen, Mobil: 0172/541 83 53 Anne Lütkes: E-Mail: presse@gruene.ltsh.de Internet: www.sh.gruene-fraktion.de Nr. 220.06 / 03.05.06Der Bericht könnte der Anfang für eine differenzierte politische Debatte seinInnenminister Stegner stellte seiner Pressekonferenz vom 27. April die Forderung voran: Die De- batte zur Integration versachlichen. Willkommen im Club, möchte ich da rufen. Versachlichung kann am besten dann stattfinden, wenn alle Erfahrungen – Positivbeispiele wie Negativbeispiele – zusammengefasst und wissenschaftlich ausgewertet werden.Die Bundesrepublik Deutschland hat in der Integrationspolitik viel versäumt, was nachgeholt wer- den muss. Dabei muss auch mal geschaut werden, ob bisherige Mittel der Integrationsarbeit viel- leicht versagt haben. Hierfür sind neutrale Bewertungen notwendig.Eine Evaluation der Praxis in den Sprachkursen beispielsweise wäre geboten. Oft hört man von Betroffenen, die Sprachkurse seien nicht nach den Vorkenntnissen der TeilnehmerInnen diffe- renziert. So sitzen dort nicht selten AkademikerInnen mit AnalphabetInnen zusammen. Wenn frühzeitig vernünftige Erkenntnisse über den Bildungshintergrund der MigrantInnen erhoben wer- den, könnten Sprachkurse besser auf den Hintergrund der Betroffenen abgestimmt werden.Wir müssen in der Integrationspolitik nicht nur mehr vom bisherigen machen, sondern die bishe- rigen Mittel auch korrigieren und uns neue Ideen erschließen. Wir beklagen alle den niedrigen Bildungsstand unter MigrantInnen, und hier insbesondere den Anteil derjenigen, die keine Be- rufsausbildung abgeschlossen haben. Auch hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Ist eine Geschlechterdifferenz auszumachen? Was für eine Rolle spielt die häusliche Situation: Liegt es tatsächlich oft an der banalen Tatsache, dass männliche Jugendliche in muslimisch geprägten Haushalten nachmittags zur Hausaufgabenzeit aus dem Haus geschickt werden, weil das Haus dann den Frauen gehört? Welche Rolle spielen Imame oder Migrantenorganisationen im Leben der Jugendlichen? Können hier Multiplikatoren gewonnen werden? Gibt es Modellbeispiele, die übernommen werden können?Wir brauchen neue Ideen und wir müssen diese Ideen bewerten und gegebenenfalls allen nutz- bar machen. Letztendlich leben wir auch in Zeiten knapper Kassen und sind schon aus diesem Grund auf die Effizienz der eingesetzten Mittel angewiesen.1/2 Wir brauchen die Wissenschaftlichkeit aber vor allem auch, um die öffentliche Debatte sachlich zu führen. Spektakuläre Einzelschicksale heizen die Diskussionen auf und verzerren das Bild. Niemand konnte eine halbwegs belastbare Zahl zu Zwangsheiraten in Deutschland nennen – gleichwohl wurde ein Gesetzentwurf für einen Sonderstraftatbestand eingebracht.Durch die integrationspolitische öffentliche Debatte geistert immer wieder unausgesprochen „der Migrant“. Er ist männlich, türkischer Abstammung, seit 20 Jahren in Deutschland, lebt im Ghetto einer Großstadt, ist aufgrund schlechter Deutschkenntnisse und mangelhafter Bildung entweder in einer Döner-Bude oder gar nicht beschäftigt, seine Kinder gehen auf die Rütli-Schule in Neu- kölln. Dieses Bild wird unbewusst – und vielleicht oft sogar ungewollt – von Medien und Politik transportiert und leistet einer effektiven Integrationspolitik Bärendienste.Eine breite Differenzierung ist notwendig. Dazu müssen wir von beschlagenen Fachleuten genau hinschauen lassen: Welche Personengruppe hat genau welche Probleme mit und in dieser Ge- sellschaft und wie lassen sie sich beheben.Der hier vorliegende Bericht ist ein Anfang für eine Differenzierung in der politischen Debatte, der mich aber noch nicht in Gänze zufrieden stellt. Zunächst einmal ist es gut zu sehen, dass auch an schleswig-holsteinischen Hochschulen Forschungsvorhaben zu Migrationsthemen laufen. Dennoch hätte ich gerne auch darüber gelesen, in welchen Bereichen mehr und in welchen Be- reichen gerade weniger neue Erkenntnisse in das Integrationskonzept einfließen, welche Quellen sich in besonderem Maße dafür eignen, und vor allem auch, in welchen Bereichen die Landesre- gierung ggf. einen Mangel an sozialwissenschaftlicher Forschung sieht.Neulich im Innen- und Rechtsausschuss wurde die auf meine Anregung gemeinsam beschlosse- ne Anhörung zur Zwangsprostitution erörtert. Mein Oppositionsführer fragte, wie denn der Stand der wissenschaftlichen Erörterung zu dieser Problematik sei. Zurück in meiner Fraktion schaute ich frohgemut die Landtagsunterlagen durch, erwartete ich doch einen Aufschluss durch diesen Bericht der Landesregierung: zum Thema Wissenschaftlichkeit in der Migrationspolitik.Nun ja , meine Damen und Herren, ich war lange Strafverteidigerin, habe also fragen gelernt, ha- be aber im vorliegenden Fall vielleicht doch falsch gefragt. Wir hatten ja einen Berichtsantrag ge- stellt und keine Kleine Anfrage eingereicht. Insofern war ich davon ausgegangen, dass wir eine eigenständige Denkleistung, quasi das Herunterbrechen des Zuwanderungsgesetzes auf Schleswig-Holstein erhalten würden.Stattdessen ist die Regierung so freundlich und nummeriert eine Internet-Recherche für uns durch und so meine Damen und Herren dürfen wir erkennen, dass es fast 100 Einrichtungen in der BRD gibt, die Migrationsforschung betreiben! Danke soweit, aber wie wäre es denn wenn sie mal beispielhaft Titel, Forschungsvorhaben, Fragestellung etc., heruntergebrochen auf schles- wig-holsteinische Verhältnisse vorgetragen hätten.Wir wüssten dann jetzt, lieber Herr Kollege Kubicki, z.B. mehr zur Forschung zum Verhältnis von Scharia und Grundgesetz und der Alltäglichkeit des islamischen Familienrechts, zu Zwangspros- titution und Frauenhandel. Stattdessen lesen wir, dass es „eine Forschungsarbeit“ gibt, die auch was zu Zwangsheiraten sagt. Dies erstaunt um so mehr, als Integration doch eines der Haupt- themen bei der Innenministerkonferenz ist.Meine Damen und Herren, lassen sie mich trotz der schwachen Vorlage erläutern, warum der Bericht von hoher Bedeutung hätte seien können. Die oft ideologisierte Debatte um Migration, In- tegration, Einbürgerung, wie wir sie kennen, bedarf der Versachlichung - durch Thesen wie die des Innenministers, aber auch durch eine Verwissenschaftlichung. Das bedeutet Wissen über den oder die Andere. Als Beispiel sei der Koran und seine Auffassung von Geschlechtergerech- tigkeit genannt. ***