Monika Heinold zum Armutsbericht
PRESSEDIENST Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein Pressesprecherin Es gilt das gesprochene Wort! Claudia Jacob Landeshaus TOP 24 – Landesbericht zur Armutsbekämpfung Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel Durchwahl: 0431/988-1503 Zentrale: 0431/988-1500 Dazu sagt die sozialpolitische Sprecherin Telefax: 0431/988-1501 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Mobil: 0172/541 83 53 Monika Heinold: E-Mail: presse@gruene.ltsh.de Internet: www.sh.gruene-fraktion.de Nr. 105.06 / 22.02.06Hungernde Kinder sind für eine reiche Gesellschaft eine SchandeArmut ist auch in Deutschland wieder zum Thema geworden. Die öffentliche Diskussion um Armut macht uns betroffen – insbesondere, wenn es um Kinderarmut geht. Die Armut in Deutschland nimmt zu, von 12,1 Prozent im Jahr 1998 auf 13,5 Prozent im Jahr 2003 – und sie wird immer sichtbarer.Die Schere zwischen Arm und Reich ist in Deutschland weiter auseinander geklafft. Auch die rot-grüne Bundesregierung hat es nicht geschafft, diese Entwicklung zu stoppen.Getrieben von einem fatalen Steuersenkungswettbewerb ist die Frage der gerechten Umverteilung von Vermögen in den letzten Jahren eindeutig zu kurz gekommen. So fal- len immer mehr Menschen, insbesondere Familien mit Kindern, in Armut, während das private Vermögen kräftig wächst.15 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren und 20 Prozent aller Jugendlichen leben heute in Deutschland in Armut. In Schleswig-Holsein wachsen über 60.000 Kinder unter Armuts- bedingungen auf.Was heißt es, wenn man in Deutschland als arm gilt? Die Weltbank definiert einen Men- schen als arm, der weniger als einen Dollar täglich zur Verfügung hat. Das ist existentiel- le Armut.In der Bundesrepublik Deutschland gilt ein Mensch als arm, wenn er weniger als 60 Pro- zent des monatlichen mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat. Das sind - auf der Datenbasis aus dem Jahr 2000 - pro Monat 938 Euro.1/4 Der aktuelle Armutsbericht der Bundesregierung legt diese Definition des Armutsbegrif- fes zu Grunde: Die relative Armut, damit liegen Menschen, die mit Hartz IV durchschnitt- lich zwischen 700 und 800 Euro pro Monat haben, unter der Armutsgrenze.Im Armutsbericht der Bundesregierung geht es um die Einkommensverteilung innerhalb unserer Gesellschaft. Es geht um die Definition eines soziokulturellen Existenzmini- mums, die auch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sicherstellen soll.Es ist wichtig, diese Klarheit herzustellen, um Missverständnissen vorzubeugen, um ge- meinsam Ziele zu setzen und Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut zu entwickeln zu können.Genauso vielschichtig wie die Definition von Armut sind deren Ursache, Ausprägung und Auswirkung. Es bedarf sehr unterschiedlicher Maßnahmen, um die jeweils spezifische Armut zu bekämpfen.Um zu wissen, wer in unserem Land von Armut betroffen ist, haben sowohl die Bundes- als auch die Landesregierung in den letzten Jahren Armutsberichte erstellt. Berichte, die deutlich machen, dass sich Armut verändert.So ist die Altersarmut zwar zurückgegangen, aber aktuelle Zahlen weisen uns darauf hin, dass wir insbesondere in den neuen Bundesländern mit einer neuen Altersarmut rechnen müssen.Das Hauptproblem ist zur Zeit aber, dass immer mehr Einelternfamilien und Familien mit drei oder mehr Kindern in Armut fallen. Dieses ist besonders erschreckend, weil ein ge- ringes Familieneinkommen für Kinder oftmals auch soziale Isolation, eingeschränkte Bil- dungschancen und eine schlechtere Gesundheitsvorsorge bedeutet.Alarmierend ist, dass die Durchlässigkeit zischen den Bevölkerungsgruppen immer schlechter wird und dass sich die soziale Ausgrenzung zunehmend strukturell verfestigt.Inzwischen gibt es die dritte Generation der staatlichen Alimentierung, eine Generation, die nichts anderes als Armut und Arbeitslosigkeit kennt und die keine Bildungschancen hatte. Es ist eine neue Schicht der mehrfach Benachteiligten entstanden.Während das so genannte oberste Zehntel der Bevölkerung 47 Prozent des Vermögens besitzt, besitzt die untere Hälfte der Bevölkerung nur vier Prozent des Vermögens. Nicht die Gesellschaft verarmt, sondern bestimmte Bevölkerungsgruppen.Die Spaltung unserer Gesellschaft ist keine Drohkulisse mehr, sie ist bittere Realität. Während Reallöhne in Deutschland nur wenig steigen, wachsen die Unternehmensge- winne kontinuierlich - trotz Wirtschaftflaute.Unternehmen streichen hohe Gewinne ein und entlassen gleichzeitig Tausende von Be- schäftigten statt in den Wirtschaftsstandort Deutschland zu investieren und neue Arbeits- plätze zu schaffen.Statt lautstark zu protestieren beschäftigt sich die Bundesregierung mit der Frage, wie sie das Insolvenzrecht für Privatpersonen einschränken kann. Die Entschuldung hoch ver- schuldeter Privathaushalte wird dem Staat zu teuer. Welch absurde Situation. Global betrachtet ist Deutschland kein armes Land sondern nach wie vor ein Wohlstandsstaat. Umso erschreckender sind die Ergebnisse der PISA-Studie, die uns in aller Deutlichkeit ins Stammbuch geschrieben haben, dass wir in Deutschland im Punkt Chancengleichheit schlecht aufgestellt sind.Wird ein Kind in Deutschland in die so genannte „bildungsferne Schicht“ hinein geboren, so hat es kaum eine Chance auf einen erfolgreichen Bildungsweg. Das ist umso dramati- scher, als dass gerade gute Bildung ein Weg aus der Armutsfalle sein kann. Ohne Bil- dungszugang gehen auch die demokratischen Werte verloren, eine weitere Folge ist die kulturelle Verarmung.Deshalb muss die Politik handeln, wir müssen klären, was in den letzten Jahren schief gelaufen ist. Warum waren die hohen Investitionen des Staates in Bildung und Familien- politik nicht erfolgreich? Welches Ziel wollen wir uns zukünftig stecken, wie können wir es erreichen?Als Grundlage für diese Diskussion beantragt meine Fraktion, dass die Landesregierung eine aktualisierte Armutsberichterstattung vorlegt. Dabei müssen vorhandene Erkennt- nisse aufgegriffen, bestehende Ansätze überprüft, und es muss eine ehrliche Analyse durchgeführt werden.Ein solcher Bericht muss aber auch konkrete Handlungsansätze für eine effektive Ar- mutsbekämpfung in Schleswig-Holstein aufzeigen. Die Initiative der Wohlfahrtsverbände „Gemeinsam gegen Kinderarmut“ hat acht Forderungen aufgestellt:-> Rechte für alle Kinder durchsetzen, -> Grundsicherung für Kinder gegen materielle Armut, -> kommunale Netzwerke zur Armutsprävention, -> Kindertageseinrichtungen ausbauen, -> Bildungschancen für alle Kinder, -> sichere Gesundheitsversorgung für alle Kinder, -> Erziehungsfähigkeit der Eltern stärken, -> Kinderarmut und Migration.Meine Fraktion unterstützt diese Schwerpunktsetzung. Mit unserem heutigen Antrag for- dern wir auch den Landtag auf, diese Initiative zu unterstützen.Erste Regionalkonferenzen haben bereits interessante Ergebnisse gebracht: So schla- gen ErzieherInnen vor, künftig die Kindertagesstätten als soziale Anlaufstellen auszu- bauen: Hier sind die Kinder, die hungrig nach Hause gehen, und die freitags schon auf die nächste warme Mahlzeit - am Montag - warten. Hier sind die Eltern, die Hilfe brau- chen, die Gespräche und Beratung suchen. Hier sind die Familien, die ihre Kinder ab- melden, weil sie die Kindertagesstätte nicht mehr bezahlen können.Die Kindertagesstätte bietet sich also geradezu an, als Kommunikationszentrum vor Ort Hilfsangebote für Familien zu bündeln.In Hamburg hat kürzlich eine Kita einen „7-Tages-Betrieb“ aufgenommen, damit die Kin- der auch am Wochenende genug zu essen bekommen. Alle Kinder erhalten eine kosten- lose Mahlzeit – egal, ob sie in der Kita angemeldet sind oder nicht. Auch in Neumünster hat sich eine Initiative gegründet, die künftig ein ähnliches Angebot bei der Neumünste- raner Tafel ansiedeln will. Diese Beispiele zeigen, dass wir in der Familienpolitik neue Wege gehen müssen, hin zur praktischen Versorgung von Kindern mit einer täglichen warmen Mahlzeit im Kindergar- ten und in der Schule.Hungernde Kinder sind für eine reiche Gesellschaft eine Schande. Und sie sind sozialer Sprengstoff, denn Hunger macht auch aggressiv.Gerade Kinder und Jugendliche spüren sehr genau,-> ob sie einen festen Platz in unserer Gesellschaft haben, -> ob sie akzeptiert und angenommen werden, -> ob sich jemand um sie kümmert.Deshalb möchte mich bei der Arbeiterwohlfahrt, beim Sozialverband, beim Landesju- gendring, beim Kinderschutzbund und bei Heide Simonis als Schirmherrin der UNICEF dafür bedanken, dass sie mit ihrer Initiative „gemeinsam gegen Kinderarmut“ dazu beige- tragen haben, dass sich auch die Politik erneut mit dem Thema Armut beschäftigt. ***