Karl-Martin Hentschel zur Agrarpolitik und Grünlandförderung
PRESSEDIENST Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein Pressesprecherin Claudia Jacob Landeshaus Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel Durchwahl: 0431/988-1503 Zentrale: 0431/988-1500 Telefax: 0431/988-1501 Mobil: 0172/541 83 53 E-Mail: presse@gruene.ltsh.de Internet: www.sh-gruene.de Nr. 172.05 / 04.07.2005Kühe sollen wieder Gras fressen!Zur angekündigten Wende in der schleswig-holsteinischen Agrarpolitik erklären: Karl-Martin Hentschel, Stellvertretender Fraktionsvorsitzender und agrarpolitischer Sprecher der Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen Bernd Voß, konventioneller Landwirt aus Nortorf, Kreis Steinburg, stellvertretender Bun- desvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft und Mitglied im Eu- ropäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss Anke Wille, Landwirtin auf einem Milchviehbetrieb mit ausschließlich Grünland in der Wilstermarsch Redlef Volquardsen, ökologisch arbeitender Grünlandwirt und Milchschafhalter aus Te- tenbüll auf EiderstedtKarl-Martin Hentschel:“ Die alte Agrarpolitik der EU hat dazu geführt, dass die arbeits- extensiven Großbetriebe die höchsten Subventionen empfangen. Die Subventionen pro Arbeitskraft schwanken von 120.000 Euro pro Arbeitskraft auf den Gütern der Queen bis zu gerade mal 1000 Euro für klassische Milchbauern. Solche Subventionen sind gesell- schaftlich nicht akzeptabel.“„Ziel der grünen Agrarpolitik ist dagegen, dass nicht mehr die Produktionsmenge subven- tioniert wird, sondern die bewirtschaftete Fläche, die Arbeitsleistung und die Erhaltung von Landschaft und Natur. Dann wird es sich für die Landwirte auch wieder lohnen, Kühe auf der Weide zu halten, anstatt sie im Stall mit hoch subventioniertem Mais zu füttern!“„Die rot-grüne Landesregierung hatte erste Schritte in diese Richtung getan. Die nun von der CDU in Schleswig-Holstein geplante Rückwende in der Agrarpolitik würde nicht nur das Aus für viele ökologisch wirtschaftende Betriebe bedeuten, sie bedeutet auch eine massive Verschlechterung für die Graslandwirtschaft, die in Schleswig-Holstein auf 40 Prozent der Flächen betrieben wird.“1/5 „Wir befürchten, dass Tausende von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum bei den arbeits- intensiven Milchviehbetrieben und beim ländlichen Handwerk vernichtet werden. Regio- nal wird davon besonders die Westküste betroffen sein.“Nach den bisherigen Äußerungen von Kabinettsmitgliedern ist mit folgenden Änderungen in der Agrarpolitik zu rechnen:1. Aufhebung der Grünlandverordnung. Dies hätte die Folge, dass die Grünlandbetriebe auf ein Drittel ihrer Prämien verzichten müssen (siehe unten).2. Umwidmung von Teilen der von Rot-Grün eingeführten bzw. erhöhten Abgaben auf Grundwasser und Oberflächenwasser: Die CDU wollte diese Abgaben immer ab- schaffen! Nun werden sie zwar nicht abgeschafft, sollen aber nicht mehr für Maß- nahmen des Vertragsnaturschutzes und Umweltschutzes, sondern zur Deckung des allgemeinen Haushaltes eingesetzt werden. Damit würde die für landwirtschaftliche Flächen in NATURA 2000-Gebieten versprochene Ausgleichszahlung von 77 Euro/ha ganz oder teilweise entfallen.3. Zugleich würden damit Vertragsnaturschutzprogramme wegfallen, obwohl die CDU immer versprochen hat, vermehrt auf Vertragsnaturschutz zu setzen.4. Streichung oder Kürzung der Beibehaltungsprämie für ökologisch wirtschaftende Landwirte.Die Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert deshalb, • keine Verschlechterung der Situation der Grünlandbauern vorzunehmen, da diese nach der heutigen Agrarordnung sowieso die geringste Förderung von allen Landwirten bekommen; • keine Streichung der versprochenen Ausgleichzahlungen für NATURA 2000- Gebiete und Weiterentwicklung des Vertragsnaturschutzes unter wissenschaftli- cher Begleitung, um diesen noch stärker auf die regionalen Besonderheiten abzu- stimmen. Dadurch kann sowohl die Akzeptanz der Bäuerinnen und Bauern erhöht als auch die Effekte für den Naturschutz optimiert werden; • keine Kürzung der Beibehaltungsprämie für ökologisch wirtschaftende Betriebe, da dies eine Schlechterstellung der schleswig-holsteinischen Betriebe und in Fol- ge die Aufgabe zahlreicher Ökobetriebe bedeuten würde • Eintreten der Landesregierung in der Agrarministerkonferenz und gegenüber der EU bei den bevorstehenden Verhandlungen über eine neue Agrarpolitik für ein Prämiensystem, das nur noch folgende Faktoren berücksichtigt: • die bewirtschaftete Fläche, • die Zahl der Arbeitsplätze, • die besonderen Leistungen für die Allgemeinheit (z. B. Natur- und Landschafts- schutz, ökologische Bewirtschaftung, artgerechte Tierhaltung). Zur Grünlandbewirtschaftung:In der Grünlandverordnung (genau: Landesverordnung zur Bestimmung des Wertver- hältnisses für Dauergrünland im Rahmen der Agrarpolitik der Europäischen Union) hat der vorige Landwirtschaftsminister geregelt, dass die Prämien pro Hektar auf Ackerland von durchschnittlich 320 auf 300 Euro gesenkt werden, die Prämien auf Grünland von 80 Euro auf 120 Euro angehoben werden. Damit wurde ein erster Schritt in Richtung mehr Gerechtigkeit getan.Mit den Beschlüssen von Luxemburg zur EU-Agrarreform wird langfristig bis 2013 der Übergang von der Produktionssubvention zur Flächen- und Leistungssubvention be- schritten. Der schrittweise Übergang findet aber erst in den Jahren von 2010 bis 2013 statt.Deutschland hat aber die Möglichkeit wahrgenommen, die Angleichung der Prämien schrittweise vorzuziehen. Die Grünlandverordnung hat dies für Schleswig-Holstein um- gesetzt.Für Schleswig-Holstein hat diese Änderung eine besondere Bedeutung, denn Schleswig- Holstein hat historisch die höchsten Ackerprämien. Es hat aber auch naturbedingt den höchsten Grünlandanteil aller Bundesländer. Somit finden wir hier besonders viele Milch- viehbetriebe mit ausschließlichem oder sehr hohem Anteil an Grünland. Gerade diese Milchviehbetriebe stellen mit zirka 60 Prozent die Mehrzahl der Arbeitsplätze in der Landwirtschaft.Durch die Grünlandverordnung wurde erstmals erreicht, dass die Grünlandbetriebe über- haupt nennenswerte Direktzahlungen bekommen und so die bisherige Wettbewerbsbe- nachteiligung dieser Standorte reduziert wird.Anke Wille, Landwirtin auf einem Milchviehbetrieb mit ausschließlich Grünland in der Wilstermarsch, erläutert: Mit der Umsetzung der Agrarreform in Deutschland fließen erstmals auch Direktzahlungen auf ihren Betrieb. Den Wettbewerbsnachteil des Grases gegenüber einer Milcherzeugung auf Ackerland mit Mais macht sie an folgender Zahlen deutlich: Seit 1992 gibt es Direktzahlungen auf Ackerland. Würde sie auf ihrem Betrieb Ackerbau statt Gründlandwirtschaft betreiben, dann hätte sie seitdem zusätzliche Prä- mienzahlungen von über 250.000 Euro bekommen.Anke Wille: „Mit der Grünlandverordnung der alten Regierung würden zirka 2800 Euro mehr auf unserem Grünlandbetrieb ankommen. Das baut unsere Wettbewerbsbenachtei- ligung zwar nur ein wenig ab, aber es gibt auch Selbstbewusstsein, wenn unsere Prob- leme von der Politik erkannt und Lösungswege wahrgenommen werden.“ Die Rückwen- de der CDU würde bedeuten, dass wir nur knapp 80 Euro/ha anstatt 120 Euro/ha be- kommen. Wären die 70 ha Ackerland, würden wir 15.400 Euro pro Jahr mehr an Prämien erhalten.„Die derzeitig noch gültige Grünlandverordnung der alten Regierung wird somit der öko- nomischen und ökologischen Bedeutung des Grünlandes für die Wirtschaft Schleswig- Holsteins und für viele landwirtschaftliche Betriebe und ihre Arbeitsplätze gerecht.“„Die übergroße Mehrzahl der schleswig-holsteinischen Betriebe war Gewinner der Ver- ordnung der rot-grünen Landesregierung. Verlierer dieses Beschlusses des Carstensen- Kabinetts ist gerade die Westküste.“ Die regionale Bedeutung dieser Änderung erläutert Bernd Voß von der Arbeitsgemein- schaft bäuerliche Landwirtschaft: „Während im Kreis Pinneberg das Weniger an regiona- len Prämienvolumen noch moderate 0,5 Mio. Euro pro Jahr ausmacht, sind es im von Arbeitslosigkeit und Strukturproblemen stark gebeutelten Kreis Steinburg um 1,2 Mio. Euro pro Jahr. In Dithmarschen ist die Summe gleichhoch, im Kreis Nordfriesland sinken die Einnahmen sogar um fast 3 Mio. Euro. Das sind Geld und Umsätze, die gerade auch dem regionalen Handwerk und Handel fehlen werden.“Obwohl selber auch Mitglied im Bauernverband fügt Bernd Voß hinzu: „Hier werden die Vorstellungen der Spitze des Landesbauernverbandes 1:1 von der Landesregierung um- gesetzt. Das ist schlecht für die ländliche Wirtschaftsentwicklung in unserem Land. Wenn Bauernpräsident und Nordfriese Steensen gerne von der neuen Macht des Grünen Kreml (Geschäftstelle des Landesbauernverbandes) in Rendsburg spricht, sollte auch mal daran erinnert werden, wie viele unsinnige Entscheidungen in diesem Machtzentrum gefällt wurden.“„Viele politische Gruppierungen und Organisationen sprechen sich seit Jahren mit Nach- druck dafür aus, die Bewirtschaftung von Grünland im Rahmen der agrarpolitischen In- strumente zu stärken.“Zum Ökolandbau und Vertragsnaturschutz:Sollten die Überlegungen der Landesregierung - die Beibehaltungshilfe für die nach den Richtlinien des Ökolandbaus wirtschaftenden Betriebe von derzeit 160 EURO/ha wegfal- len zu lassen oder zu kürzen - umgesetzt werden, dann wäre das ein schwerer Rück- schlag für diesen besonders innovativen Bereich der Landwirtschaft. Die Zahlungen sind einfach begründet in der über die normale Marktleistung hinaus gehende öffentliche Leis- tung der Ökoproduktion für Umwelt, Biodiversität und Ernährung.Redlef Volquardsen, Grünlandwirt und Milchschafhalter aus Tetenbüll auf Eiderstedt, hat seinen Betrieb auf Ökolandbau umgestellt. Er rechnet vor, dass ihm auf seinem 70- ha-Betrieb so jährlich über 11.000 Euro Ökoförderung fehlen werden. Wenn Schleswig- Holstein als einziges Land diese Förderung streichen würde, sieht er zusätzlich eine dramatische Wettbewerbsbenachteiligung gegenüber Betrieben in anderen Bundeslän- dern.„Eine solche Politik wird zahlreiche Ökobetriebe in Schleswig-Holstein in die Rückumstel- lung oder Aufgabe treiben. Dabei zeigen die Untersuchungen über Existenzgründungen im ländlichen Raum, dass die überwiegende Mehrzahl der neuen Existenzen in der Landwirtschaft und der handwerklichen Lebensmittelverarbeitung und in der Vermark- tung Biobetriebe sind. Hier gibt es einen Motor für ländliche Wirtschaftsentwicklung.“Auch der Betrieb Volquardsen ist eine Betriebsneugründung.Bäuerinnen und Bauern in NATURA 2000-Regionen wie Eiderstedt treibt noch eine an- dere Sorge um. Nach den unendlichen symbolbeladenen Diskussionen um die Auswei- sung von NATURA 2000-Gebieten haben sich viele Grünlandwirte in der Bewirtschaftung entsprechend eingerichtet. Eingeplant sind dafür aber auch die 77 Euro/ha Grundaus- gleichszahlung in NATURA-2000-Gebieten.„Die inzwischen große, standortangepasste Vielfalt der Naturschutzprogramme im Ag- rarbereich, deren Anfänge noch aus der Zeit der CDU-Landwirtschaftsminister vor 1988 stammen, scheint durch die Haushaltspläne der Landesregierung gefährdet. Rolle rück- wärts gleich um Jahrzehnte“, merkt Karl-Martin Hentschel an.Zur Diskussion um die neue Agrarpolitik in der EU:Bernd Voß, zugleich Mitglied im Europäischem Wirtschafts- und Sozialausschuss, erläu- tert: „Die europaweite Diskussionen um die finanzielle Vorausschau der EU macht bei 5 Mio. Arbeitslosen in Deutschland und 20 Mio. in Europa deutlich, dass nach der Arbeits- marktwirkung bei der Verteilung der Ausgleichszahlungen gefragt werden muss. Das Konzept der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, die Zahlungen in Zukunft an das Vorhandensein von Arbeitplätzen in den Betrieben zu binden, und so einen wirt- schaftlich innovativen ländlichen Raum zu fördern, findet erneut in Vorschlägen, die in Brüssel diskutiert werden, seine Bestätigung.“„Wenn der Agrarhaushalt der EU 40 Prozent des Haushaltes ausmacht, dann ist das na- türlich ein Grund dafür, dass er der Einzige voll integrierte Politikbereich Europas ist. A- ber jährliche Direktzahlungen, die von 120.000 Euro pro Arbeitskraft bis hin zu teilweise gerade mal 1000 Euro schwanken, sind gesellschaftlich nicht vertretbar.“„Ohne plausible Alternativen wird in der bevorstehenden Reform der EU den Agrarindust- rielobbyisten wie Chirac einerseits, und einem populistischen Freihändler wie Blair ande- rerseits das Feld überlassen. Tony Blair hat keine Alternative zu bieten: Noch bei der Zwischenbewertung der EU-Agrarreform im Jahr 2003 war Blair Seite an Seite mit Frank- reich aktiver Gegner der Reformen, um der Königin, seinen Lords und Prinzen die hohen Zahlungen für ihre riesigen arbeitsextensiven Güter zu sichern.“„Das macht es um so nötiger, akzeptable Alternativen für die Landwirtschaftspolitik zu formulieren.“ ***