Navigation und Service des Schleswig-Holsteinischen Landtags

Springe direkt zu:

Diese Webseite verwendet ausschließlich für die Funktionen der Website zwingend erforderliche Cookies.

Datenschutzerklärung

Pressefilter

Zurücksetzen
21.06.04
09:51 Uhr
Landtag

Rede von Helle Degn, Ministerin a.D., ehemalige Beauftragte des Ostseerates (CBSS) für demokratische Entwicklung, Kopenhagen, anl. des Kieler Woche-Gesprächs 2004

86/2004 Kiel, 21. Juni 2004 Sperrfrist: Montag, 21.06.2004, 9.45 Uhr Es gilt das gesprochene Wort!
Kieler Woche-Gespräch 2004: Rede von Helle Degn, Ministerin a. D., ehemalige Beauftragte des Ostseerates (CBSS) für demokratische Entwicklung, Kopenhagen
Kiel (SHL) - Lassen Sie mich zu Beginn unserem Gastgeber, den Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Landtages, dafür danken, dass er unter der Überschrift „Know your Neighbours“ uns und mich hier nach Kiel und in die- ses Parlament eingeladen hat.
Die Demokratien in Europa haben soeben die große Erweiterung der EU- Mitgliedsländer zum 1. Mai 2004 feiern können. Dies war ein großer Tag. Trotz der blutigen Geschichte konnte vollendet werden, was die größte Auf- gabe der Nachkriegsgeneration gewesen ist – die vielen Wunden am europä- ischen Körper und der europäischen Seele zu heilen. Auf diese Weise wird Europa wieder ein großer und guter Mitspieler werden – nicht nur im Fußball, sondern auch in der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie und in der Entwicklung des Respekts vor den Menschenrechten und vor wohlgeord- neten Gesellschaften.
Denn es ist nicht nur der religiöse oder nationale Fanatismus, der immer un- ter der Oberfläche lauert – auch Gier, Kleinlichkeit und Egoismus finden neue Ausdrucksformen. Das Europa „in transition“ ist leider nicht frei von kleinen und großen Korruptionsskandalen. Korruption und Wirtschaftskriminalität sind eine ständig wachsende Bedrohung des Demokratiemodells, auf das viele Menschen gern vertrauen möchten.
In meinen Augen wird es immer wichtiger, einen Einsatz für das „Know your Neighbours“ zu leisten, das ich sowohl als gemeinsame Bestrebung als auch als gemeinsames Bedürfnis annonciert habe – nicht zuletzt durch die reprä- sentativen Führungskräfte, die wir gewählt haben. 2


Wir müssen ein sehr viel tiefgreifenderes Wissen über unsere Nachbarn auf- bauen. Es ist viel zu gefährlich, wenn wir uns nur mit den Überschriften aus den Zeitungen begnügen – zum Beispiel die vielen negativen Geschichten über Korruption und Skandale, mit denen Zeitungen und Medien sich als En- tertainment-Maschinen gern selbst verkaufen wollen.
Deshalb möchte ich gern für diese Gelegenheit danken, mehr darüber zu sprechen, was wir über die Nachbarn wissen und insbesondere worüber wir nicht genug wissen.
Wenn ich mich zum Beispiel der Statistik zuwende, ist es erstaunlich, wie we- nig wir über unsere Nachbarn wissen – darüber, wie viele über einen Internet- zugang oder ein Mobiltelefon verfügen, wie viele sich in einer Ausbildung be- finden oder wie viele Ärzte und Krankenhausbetten den Bürgern zur Verfü- gung stehen. Um gar nicht von der Arbeitslosigkeit, der Lebenserwartung, der Literatur oder dem Liedgut zu sprechen.
Eben diese Unwissenheit bietet dem Populismus einen fruchtbaren Boden, wenn wir wählen gehen. Die Wahlen der letzten Monate in unseren Nachbar- ländern waren alle von Populismus und Nationalismus geprägt. Sie kommen zum Beispiel in Wiederstands- oder Protestbewegungen gegen die Globalisie- rung oder die Europäisierung zum Ausdruck.
Analytiker nennen insbesondere vier Gründe dafür, dass Gegner der EU und der Marktwirtschaft auf dem Vormarsch sind:
1. Nach 15 Jahren mit kostenträchtigen Reformen und ökonomischen Ein- schnitten für große Teile der breiten Bevölkerungsschichten hat eine Re- formmüdigkeit eingesetzt. Eine nostalgische Sehnsucht nach der alten Ord- nung, die sie in den guten alten Tagen noch verstanden, breitet sich aus.
2. Die alten EU-Länder haben beschlossen, die Möglichkeiten der neuen EU- Länder zu begrenzen, wenn es darum geht, ab dem 1. Mai auf der anderen Seite der alten Trennlinien Arbeit zu suchen. Dies hat Populisten reiche Mög- lichkeiten eröffnet, ein Bild in den Medien zu zeichnen, wonach die Neuen in der EU Bürger zweiter Klasse sind.
3. Durch die mehr oder minder findigen Privatisierungslösungen, die gefunden werden mussten, wurde ein Raum für die verbreitete Korruption geschaffen. Das Ergebnis ist: Die Demokratie, die Volksvertreter und jene demokratischen Institutionen, die so dringend erforderlich sind um die Marktwirtschaft und den freien Markt zu bewältigen, haben sich noch immer nicht so etabliert, dass sie die Umstellung so tragen können, wie es die Bürger erwarten.
Die Meinungsumfragen und Untersuchungen zeigen deutlich: Es herrscht das Gefühl vor, dass die Umstellung nur der Elite Vorteile bringt. Deshalb erhal- ten die Populisten in unseren Ländern so viele Proteststimmen. 3


4. Das politische Leben hat sich in vielen der jungen Demokratien noch nicht konsolidiert. Personen spielen eine größere Rolle als Ideologien. Dies scha- det den farbloseren und sachlichen Parteien, die ansonsten in der politischen Mitte zusammenfinden und tragfähige, langfristige Lösungen etablieren kön- nen.
Wie schon erwähnt melden Analytiker und Diplomaten, dass die Stärkung des Populismus und des Nationalismus die Integration der neuen Mitgliedsländer in der EU und die Etablierung der Marktwirtschaft erschweren wird.
Wohlstand, Geborgenheit und Sicherheit sind die Ziele, die uns vereinen. Ich stimme mit dem Landtagspräsidenten Herrn Arens darin überein, dass dieses nicht ausreicht. Unsere Tradition des „Verantwortung-Übernehmens“, des Aufbaus von kleinen und größeren Gemeinschaften muss mit bedacht wer- den, wenn wir erklären sollen, wie es möglich war, die am besten funk- tionierenden Gesellschaften der Ostsee und des Nordens aufzubauen.
Auch wenn ich Gefahr laufe, undiplomatisch zu werden: Dies ist es, was ich sehe, wenn ich als Beobachterin von außen in die Mittelmeerländer und die ehemaligen Sovietrepubliken reise. Aber ich kann auch beobachten, dass die Dinge mit dem Aufbau der Zivilgesellschaft dabei sind, ihre neue Form anzu- nehmen. Das ist wiederum erfreulich. Es sind viele neue NGOs gegründet worden. Gerade in diesen Jahren geht es auch darum, diese Ressourcen und das dahinter stehende Wissen zu nutzen und in die demokratischen Prozesse einzubeziehen. Dies ist allerdings noch nicht geschehen. Es gibt immer noch Berührungsängste und einen mangelnden Willen, die verhindern, dass die gesetzgebende und die ausführende Macht neue Wege finden, um diese Or- ganisationen mit einzubeziehen.
Wir dürfen die Gunst der Stunde nicht verspielen, in dem wir zwar eine stei- gende NGO-Aktivität haben, aber nicht die Energien besser nutzen, die sie vertreten. Deshalb möchte ich auch diese Gelegenheit nutzen, um den Ost- seerat (CBSS) dazu aufzufordern, das NGO-Forum zu institutionalisieren, das sich über längere Zeit selbst auf die Beine gestellt hat. Sie müssen in die Struktur eingebunden werden und sie müssen Unterstützung bekommen, damit sie sich treffen können. Es kann nicht sein, dass der Nordische Rat das NGO-Netzwerk des Ostseerates finanzieren soll. Hier „verschläft“ jemand die Entwicklung.
Ich möchte gern noch folgendes zur Wahl zum Europaparlament sagen, bei der die Wahlbeteiligung in vielen Ländern unter 50 % lag. Dieses Wahlergeb- nis ist in meinen Augen nicht nur ein demokratisches Defizit. Es ist auch nicht nur eine Problem, für das unsere politischen Führungskräfte eine Lösung fin- den müssen, damit der europäische Raum auch ein Teil des Alltags in unse- ren nationalen Debatten wird. Wir können uns nicht leisten, dass unsere Par- teiführungen die lokale Debatte nicht auf den europäischen Tisch heben. Wenn weiterhin kein Wille hierzu besteht, dann müssen die nationalen Parla- 4


mente – innerhalb ihres jeweiligen Handlungsrahmens – ihre politischen Füh- rungskräfte zu dieser politischen Debatte zwingen.
Darüber hinaus habe ich, als ich mein Buch „Power in Transition“ schrieb, starke Anzeichen für eine sehr traurige Entwicklung in allen 21 Ostseeanrai- nerstaaten gefunden – eine Entwicklung auf die die Bürger reagieren müssen. Ansonsten wird es uns nicht gelingen, den Traum von einem bürgernahen, demokratischen Europa zu verwirklichen.
Als langjährige Abgeordnete habe ich mich selbst häufig im interessanten Spannungsfeld zwischen der Legislative und der Exekutive befunden. Als ich damit befasst war, die Verfassungen und Veränderungsprozesse in allen Ost- seeanrainerländern durchzuarbeiten, fand ich die Drohung durch die Exekuti- ve alarmierend.
Sowohl der frühere EU-Parlamentspräsident Pat Cox, der EU-Kommissar Günter Verheugen und der EU-Kommissar Chris Patten waren so freundlich, mir ihre persönlichen Kommentare für mein Buch zu geben. Auch sie sahen diese konkludierende Problemstellung als aktuell und herausfordern an. In allen unseren Ländern werden die demokratischen Service-Institutionen reformiert. Dies ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, ob die „Operati- on“ glückt. Die Modernisierung und der Aufbau der Verwaltung ist eine unum- gängliche Voraussetzung für das Vertrauen der Bürger in die Demokratie.
Lassen sie mich abschließend nochmals für die Einladung danken und meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass das „Know your Neighbours“ Anlass zum zwischenmenschlich- grenzüberschreitenden Austausch unseres Wissens voneinander und unseres Alltagslebens wird – in Form von Wanderausstel- lungen, Museumsausstellungen, Festivals, Städtepartnerschaften und Hoch- schulaustausch. Wir und Europa brauchen dies!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und gratuliere Ihnen zu dieser Initiative innerhalb der Kieler Woche.