Rede der Abgeordneten Outi Ojala (Linksbund), finnisches Parlament und Nordischer Rat anl. des Kieler Woche-Gesprächs 2004
85/2004 Kiel, 21. Juni 2004 Sperrfrist: Montag, 21.06.2004, 9.30 Uhr Es gilt das gesprochene Wort! Kieler Woche-Gespräch 2004: Rede der Abgeordneten Outi Ojala (Linksbund), finnisches Parlament und Nordischer Rat zum Thema „Parlamentarische Zusammenarbeit und Zivilgesellschaft – das Fun- dament der Demokratie im Ostseeraum“Kiel (SHL) - Der Ostseeraum war und ist Mittelpunkt einer gewaltigen Entwicklung und großer Umwälzungen. Die geopolitischen Veränderun- gen zu Beginn des letzten Jahrzehnts, die diesjährige Erweiterung der EU und die Veränderung der sicherheitspolitischen Struktur haben aus der Ostsee binnen kurzer Zeit ein anderes Meer und aus den Anrainerstaaten ein ganz anderes regionales Gebilde gemacht als sie es vor gut einem Jahrzehnt waren. Ein beliebter Ausspruch, der in vielen Kontexten zu hö- ren ist, lautet, dass die Ostsee die Küsten und Anrainerstaaten nicht mehr voneinander trennt, sondern sie verbindet.Hinter uns liegt mehr als ein Jahrzehnt stetig wachsender Zusammenar- beit, und dabei sind in vielen gesellschaftlichen Sektoren neue Kooperati- onsstrukturen entstanden. Nicht ohne Stolz kann ich feststellen, dass der Nordische Rat in sehr zentraler Rolle die Zusammenarbeit im Ostseeraum vorangebracht hat, indem er seinerzeit früher als alle anderen mit Estland, Lettland und Litauen diplomatische Beziehungen anknüpfte, und zwar noch bevor diese Staaten ihre Unabhängigkeit erlangten. Außerdem sei angemerkt, dass neben dem Nordischen Rat auch das finnische Parla- ment und namentlich sein damaliger Präsident, der im Frühjahr verstorbe- ne Kalevi Sorsa, mit einer wegweisenden Initiative die parlamentarische Zusammenarbeit in der Region in Gang brachten, indem sie 1991 die ers- te Parlamentarierkonferenz des Ostseeraums nach Helsinki ins finnische Parlament einberiefen. Die zweite parlamentarische Konferenz trat in Oslo 2zusammen, auf Einladung des Nordischen Rats, und bei der Gelegenheit wurde auch die Ostseeparlamentarierkonferenz ins Leben gerufen. Die Vertreter der Parlamente unternahmen einen Vorstoß zur Einleitung inter- gouvernementaler Zusammenarbeit, und in die gleiche Richtung zielte auch eine gemeinsame Initiative der damaligen Außenminister Däne- marks und Deutschlands, Uffe Ellemann-Jensen und Hans-Dietrich Gen- scher. Der Ostseerat wurde 1992 gegründet. Beide Organisationen haben sich inzwischen fest etabliert, und ich kann mit Genugtuung feststellen, dass sich ihre Zusammenarbeit in letzter Zeit recht vorteilhaft entwickelt hat.Neben der Zusammenarbeit der Parlamente und Regierungen haben sich im Ostseeraum auch zahlreiche andere Kooperationsorganisationen und -strukturen herausgebildet. Beispiele sind die aktive Zusammenarbeit zwi- schen Städten und Regionen und die organisierte Zusammenarbeit von Ar- beitsmarktorganisationen. Es gibt Universitätsnetzwerke, Wirtschaftsforen und lebhafte Jugendkooperationen. Sie alle sowie der Umfang und die Vielgestal- tigkeit der Zusammenarbeit zwischen nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) des Ostseeraums bilden das solide Fundament für die Zusammenarbeit in unserer gesamten Region.Die wirtschaftliche und politische Entwicklung in unserer Region ist intensiv und schnell vorangeschritten. Für die Zukunft und die künftige Entwicklung des Ostseeraums ist es nach meiner Auffassung jetzt wichtig, besondere Aufmerksamkeit auf die Festigung des demokratischen Unterbaus und die Entwicklung der Zivilgesellschaft zu richten. Trotz der schnellen und kräftigen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen ist in unserer Region weiter- hin ein gewisses Defizit an Demokratie und Einflussmöglichkeiten der Bürger festzustellen. Die Entwicklung der Zivilgesellschaft hat nicht immer Schritt mit der übrigen Entwicklung gehalten. Aus diesem Grunde möchte ich im Folgen- den auf zwei der nach meiner Ansicht wichtigsten Pfeiler des demokratischen Unterbaus eingehen, auf die parlamentarische Zusammenarbeit und die Ent- wicklung ihrer Strukturen sowie auf die Sicherung und Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft .Meine Ausführungen über die parlamentarische Zusammenarbeit beginne ich mit der EU-Politik der Nördlichen Dimension, deren Bedeutung für den Ost- seeraum im Zuge der EU-Erweiterung weiter gewachsen ist.Die Nördliche Dimension ist ein zentrales Konzept im Ostseeraum. Der Nörd- lichen Dimension verdanken wir bereits eine ganze Reihe von konkreten Pro- jekten, die für die Entwicklung und das Wohlergehen unserer Region von großer Bedeutung sind. An dieser Stelle möchte ich besonders die Umwelt- partnerschaft der Nördlichen Dimension hervorheben und ihre bemerkenswer- te Bedeutung für die Ökologie der Ostsee und speziell des Finnischen Meer- busens. Ein weiteres Beispiel ist ein im vergangenen Jahr gegründetes, für die Bevölkerung der Region höchst bedeutsames Programm, nämlich die 3Partnerschaft für öffentliche Gesundheit und soziales Wohlergehen im Rah- men der Nördlichen Dimension.Trotz aller bisherigen Erfolge der Politik der Nördlichen Dimension hat ihr von Anfang an eine Dimension gefehlt. Damit diese Politik erfolgreich fortgeführt werden kann, muss die Nördliche Dimension stärker als bisher in den Parla- menten unserer Region und in der parlamentarischen Zusammenarbeit ver- ankert werden. Über eine Weiterentwicklung dieser parlamentarischen Di- mension sowie generell der Rolle und Aufgaben der Parlamente und Parla- mentarier wird schon seit langem diskutiert.Ich habe bei solchen Diskussionen immer wieder den Vorschlag vorgetragen, die Ostseeparlamentarierkonferenz zum parlamentarischen Forum der Nördli- chen Dimension oder gar zu einer Parlamentarischen Versammlung weiter- zuentwickeln. Denn um neue organisatorische Überlappungen zu vermeiden wäre es meines Erachtens angebracht, eine der bereits bestehenden Organi- sationen zur parlamentarischen Dimension der Nördlichen Dimension auszu- bauen. Für die Wahl der Ostseeparlamentarierkonferenz sprechen nach mei- ner Ansicht etliche Faktoren. Zunächst umspannt die Organisation geogra- fisch die wichtigsten Regionen der Nördlichen Dimension, und in ihr sind alle Parlamente dieser Region repräsentiert. Die im vergangenen Jahr im finni- schen Oulu veranstaltete Konferenz forderte in ihrer Resolution den Ständi- gen Ausschuss der Konferenz auf, die Ostseeparlamentarierkonferenz als parlamentarische Dimension des Ostseerats, also der intergouvernementalen Zusammenarbeit, zu stärken.In der Praxis könnte das darauf hinauslaufen, dass die Organisation von einer einmal im Jahr zusammentretenden Konferenz in Richtung einer Parlamenta- rischen Versammlung entwickelt wird. Mit diesen Fragen setzt sich zur Zeit der Ständige Ausschuss auseinander, und sie werden auch in den Diskussio- nen zwischen der Regierungs- und der Parlamentarierseite behandelt. Au- ßerdem stehen sie auf der Agenda der diesjährigen Konferenz, die im August in Bergen stattfindet. Ich meine, dass eine erneuerte Ostseeparlamentarier- konferenz von den existierenden Organisationen die besten Voraussetzungen für die Funktion als parlamentarische Dimension der Nördlichen Dimension böte. Das hier umrissene Modell würde naturgemäß voraussetzen, dass auch das Europäische Parlament an der Tätigkeit der Ostseeparlamentarierkonfe- renz teilnimmt. Die Entwicklung müsste in enger Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und beispielsweise dem von Europarlamentariern unserer Region gebildeten „Ostsee-Club“ erfolgen.In einer Entschließung zum Aktionsplan für die Nördliche Dimension stellte das Europäische Parlament im vergangenen Herbst fest, dass der im Jahre 2001 gefasste Beschluss zur Gründung eines Forums für die Nördliche Di- mension weiterhin unrealisiert ist. Meiner Ansicht nach wäre hier gerade ein parlamentarisches Forum besonders gut geeignet. Ein Vorbild für ein solches parlamentarisches Forum und seine Entwicklung bietet die mediterrane Zu- 4sammenarbeit, für die schon 1998 das Parlamentarische Forum Europa- Mittelmeer geschaffen wurde. Auf Initiative dieses Forums ist nun, wie wir wissen, für den Mittelmeerraum eine eigene Parlamentarische Versammlung gegründet worden.Während ich an dieser Stelle meine Aufforderung wiederhole, ernsthaft die Einrichtung einer parlamentarischen Dimension für die Politik der Nördlichen Dimension auf dem Fundament der Ostseeparlamentarierkonferenz in Erwä- gung zu ziehen, möchte ich zugleich zur Vermeidung von Missverständnissen und Fehlinterpretationen hinzufügen, dass mir keinesfalls eine Lösung vor- schwebt, die zu Lasten einer bestehenden Organisation ginge oder vorhan- dene Kooperationsmodelle überflüssig machte. Ich glaube an eine umfassen- de parlamentarische Zusammenarbeit in der erweiterten Union wie auch in unserer Region. Schon allein aus historischen und kulturhistorischen sowie aus sprachlichen und wertegemeinschaftlichen Gründen benötigen wir eine Vielfalt von Kooperationsstrukturen. Solange die Arbeitsteilung funktioniert und es keine Überschneidungen gibt, stellt die Vielzahl der Kooperationsor- ganisationen einen Reichtum dar. Am Wichtigsten ist es, eine sinnvolle Ar- beitsteilung zwischen den Organisationen zu finden: Welche Organisation ist am besten geeignet, welche Fragen, welche politischen Teilbereiche und wel- che geografischen Gebiete zu übernehmen? Welche Sachbereiche lassen am besten durch Zusammenarbeit mehrerer Organisationen handhaben? Welche Aufgaben können noch zu gründenden Kooperationsstrukturen und Organisa- tionen übertragen werden?Der zweite Pfeiler des demokratischen Unterbaus des Ostseeraums ist die Zivilgesellschaft und die Tätigkeit von nichtstaatlichen Organisationen. Das dritte und sehr umfangreiche (über 400 Mitgliedesorganisationen) NGO- Forum des Ostseeraums, das im letzten Frühjahr im finnischen Turku zu- sammentrat, forderte den Ostseerat und die Ostseeparlamentarierkonferenz auf, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Arbeit der NGOs unter die Lupe zu nehmen, und betonte die Bedeutung der Tätigkeit und Zusammenar- beit der nichtstaatlichen Organisationen im Ostseeraum.Die Ostseeparlamentarierkonferenz kam zu dem Schluss, dass ein Berichter- statter über die NGO-bezogene Gesetzgebung benötigt wird. Mit dieser Auf- gabe wurde ich betraut. Ich werde meine Empfehlungen der 13. Ostseepar- lamentarierkonferenz vortragen, die vom 29.-31. August im norwegischen Bergen tagt.Ich habe NGOs unterschiedlichen Typs in allen Ostseeländern um Einschät- zungen der in ihrem Land bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen und Kooperationsmöglichkeiten für Bürgerorganisationen gebeten. Ich habe die meisten Länder der Region besucht und mich auch um offizielle Informationen über die betreffenden Gesetzgebungen bemüht. Des Weiteren habe ich mit Repräsentanten der Zivilgesellschaft Gespräche am Runden Tisch geführt. 5Außerdem hat eine Reihe von NGOs und staatlichen Amtsträgern in jedem Land des Ostseeraums einen Fragebogen zu diesem Thema beantwortet.Das Spektrum der Bereiche, in den NGOs aktiv sind, ist breit und sehr vielfäl- tig. Im Hinblick auf Größe, Ressourcen, ideologische Ausrichtung und Ziele bestehen zwischen den Organisationen große Unterschiede. Groß sind auch die Unterschiede zwischen den Arbeitsbedingungen, die in den Ländern un- serer Region für NGOs bestehen, und dies hat einen großen Einfluss auf die Funktionsfähigkeit der Zivilgesellschaft. Die Teilnehmer des dritten NGO- Forums formulierten das Ziel, die Bürgerorganisationen zu stärken und güns- tige Rahmenbedingungen für ihre Arbeit schaffen, da das Engagement von Bürgern fundamentale Bedeutung für eine demokratische Gesellschaft habe und durch Gesetz und Rechtsanwendung abgesichert sein sollte.Es ist unübersehbar, dass die einschlägige Gesetzgebung in unserer Region weiterentwickelt wird und dass bereits eine Menge erreicht worden ist. In den meisten Ländern der Region ist der Großteil der betreffenden Reformen erst in letzter Zeit durchgeführt worden. Es gibt immer noch viel zu tun, um gleichwertige Arbeits- und Kooperationsbedingungen in unserer Region zu schaffen und zu gewährleisten. Probleme entstehen aus Unterschieden in- nerhalb der Länder. Aufgrund der Unterschiede zwischen nationalen Gesetz- gebungen besitzen die NGOs keine gleichen Voraussetzungen zum Ausüben ihrer Aktivitäten. Zwar gibt es keine Beschränkungen für die Gründung sol- cher Organisationen, und die Vereinsfreiheit scheint in allen Ländern der Re- gion respektiert zu werden. Die Probleme stellen sich später ein; sie äußern sich beispielsweise in Ungleichbehandlung von NGOs bei Anträgen auf den Status einer gemeinnützigen Vereinigung.Aus dem zu schließen, was ich bei meinen Rundtischgesprächen und bei den Umfragen erfahren habe, ist eine angespannte finanzielle Lage das Problem Nummer eins für das Funktionieren der NGOs als Organisationen der Zivilge- sellschaft. Weitere Problempunkte sind die Möglichkeiten zum Mitwirken an Entscheidungsprozessen und der Zugang zu Informationen.Zur Zeit kämpfen die meisten NGOs um ihr wirtschaftliches Überleben. Das setzt ihren Aktionen zur Förderung und Gewährleistung der Bürgerpartizipati- on in allen Bereichen des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens gewisse Grenzen. Viele NGOs der Region haben sich an Unterstützung durch internationale Geldgeber gewöhnt, aber bedauerlicherweise fließen diese Gelder immer spärlicher. Und selbst falls die Erweiterung der Europäischen Union neue finanzielle Möglichkeiten schafft, ist es ein ziemlich komplizierter Prozess, an EU-Mittel heranzukommen. Problematisch für die meisten Orga- nisationen ist auch die Forderung nach Mit- oder gar Selbstfinanzierung der eigenen Aktionen.Das zweite große Thema für nichtstaatliche Organisationen ist ihre Möglich- keit, am Beschlussfassungsprozess teilzunehmen. Bei der Untersuchung die- 6ser Frage fielen mir die großen Unterschiede zwischen den Ländern und zwi- schen den verschiedenen Organisationstypen ins Auge.Das dritte große Problem für Bürgerorganisationen ist ihr Zugang zu Informa- tionen. Auch hier konnte ich wieder große Unterschiede zwischen einzelnen Ländern feststellen. Mit dem Zugang zu Informationen ist auch die Sprachen- und Minderheitenproblematik verbunden.Was generell die Zusammenarbeit zwischen NGOs angeht, konnte ich fest- stellen, dass ein ausgeprägter Wunsch besteht, sich zu vernetzten, Partner- schaften zu entwickeln und zusammenzuarbeiten. Leider machen es die Un- terschiede zwischen den Ländern nicht gerade leichter, an die benötigten In- formationen zu kommen. Wie ich die Dinge sehe, stellen auch Unterschiede in elementaren gesetzlichen Regelungen Hürden für die Zusammenarbeit dar. Ich hoffe, dass alles unternommen wird, um die Entwicklung der Zusammen- arbeit zu unterstützen, beispielsweise dadurch, dass den NGOs mehr politi- sche Einflussmöglichkeiten und größerer finanzieller Spielraum geboten wird.Die Tätigkeit und die Zusammenarbeit der vom Volk gewählten Parlamente und der von privaten Bürgern gebildeten Organisationen bilden den demokra- tischen Unterbau des Ostseeraums und sind eine wichtige Voraussetzung für die demokratische Entwicklung des Raums und das Wohlergehen seiner Bür- ger. Wir haben gemeinsam dafür zu sorgen, dass unsere Region an der Spit- ze der Entwicklung marschiert und auch in diesen Bereichen des gesell- schaftlichen Lebens als Vorbild fungiert.Abschließend möchte ich den Veranstaltern der Kieler Woche für die Möglich- keit danken, meine Gedanken vor diesem angesehenen Publikum vorzutra- gen. Mein ganz besonderer Dank gilt dem Gastgeber dieser Veranstaltung, Landtagspräsident Arens. Herr Arens hat die Ostseeparlamentarierkonferenz von ihrer Gründung an mit großem persönlichen Einsatz unterstützt und be- gleitet, und sein beispielloses Engagement für diese wichtige Sache verdient unser aller Dank und Anerkennung.