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21.06.04
08:51 Uhr
Landtag

Begrüßung und Einführung von Landtagspräsident Heinz-Werner Arens zu dem Kieler-Woche-Gesrpcäh "Know your neighbpurs - die Nachbarn kennen lernen!" am 21.06.2004 im Landeshaus

84/2004 Kiel, 21. Juni 2004 Sperrfrist: Montag, 21.06.2004, 9.30 Uhr Es gilt das gesprochene Wort!
Begrüßung und Einführung von Landtagspräsident Heinz-Werner Arens zu dem Kieler-Woche Gespräch „Know your neighbours – die Nachbarn kennen lernen!“ am Montag, dem 21. Juni 2004,im Landeshaus

Kiel (SHL) - Ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserem traditionellen Kieler-Woche Gespräch, das sich in diesem Jahr mit dem Thema „Know your neighbours – die Nachbarn kennen lernen!“ befasst.
Ich freue mich, als Referentin Frau Helle Degn, vormals Ministerin in Däne- mark und Beauftragte des Ostseerates für demokratische Entwicklung, begrü- ßen zu können. Ebenso heiße ich Frau Outi Ojala, Abgeordnete des Finni- schen Reichstages und Beauftragte der Ostseeparlamentarierkonferenz für Nicht-Regierungsorganisationen, herzlich willkommen. Sie beide haben sich Respekt und große Anerkennung durch ihr langjähriges Wirken und ihr profes- sionelles Engagement im Ostseeraum erworben. Es ist für den Schleswig- Holsteinischen Landtag Freude und Ehre zugleich, dass wir unsere bewährte Zusammenarbeit in der Ostseeparlamentarierkonferenz und mit dem Ostseerat im Rahmen des diesjährigen Kieler-Woche Gesprächs auf hoher und an- spruchsvoller Ebene fortsetzen.
Noch sind die Erinnerungen an den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten zur Europäischen Union am 1. Mai aktuell und gegenwärtig: Mit Freudenbekun- dungen und bunten Feuerwerken zeitgleich in 25 Hauptstädten haben wir den Anbruch einer neuen Ära in Europa gefeiert:
In Litauen schalteten zehntausende Menschen ihre Lichter in den Wohnungen ein, damit ihr Land auf Satellitenbildern als hellster Punkt erschien. Die Esten pflanzten eine Million Bäume für Europa. Am Brandenburger Tor vermittelten baltische Spezialitäten und Musik aus Tschechien einen Eindruck von der 2


kulturellen Vielfalt der größer gewordenen Gemeinschaft. Und hier, in diesem Plenarsaal, haben wir am polnischen Nationalfeiertag das neue Europa mit An- sprachen und den beschwingten Klängen eines polnischen Vokal-Quartetts gefeiert.
Ich hoffe, dass sich diese Schwingungen fortsetzen und von ihnen neue Impul- se ausgehen. Signale, die die Menschen erreichen – ihre Köpfe und ihre Her- zen – so wie es die vielen phantasievollen Veranstaltungen zumindest in der Beitrittsnacht bewirkt haben.
Der amtierende irische EU-Ratspräsident, Bertie Ahern, hat die Erfolgsformel 15+10 wie folgt aufaddiert: „Aus Krieg haben wir Frieden geschaffen, aus Hass Achtung, aus Teilung Einigung, aus Diktatur und Unterdrückung lebendige und stabile Demokratien, aus Armut Wohlstand.“
Das, meine Damen und Herren, ist wahr. Aber es wird nicht wahrgenommen. Es wird nicht wahrgenommen, weil die „Banalität des Guten“ allemal schwerer zu vermitteln ist als die spektakuläre Negativ-Schlagzeile. Auch sind die Emp- findungen der Bürgerinnen und Bürger trotz der unbestreitbaren Erfolge der europäischen Einigungspolitik nicht frei von Skepsis oder gar Angst. Gewiss, die Menschen erleben und erfahren, dass mit dem EU-Beitritt die unnatürliche Teilung Europas überwunden ist. Auch gibt es berechtigten Stolz angesichts der seit 1989 verwirklichten Reformen in den Beitrittsländern. Andererseits aber empfinden viele der neuen Unionsbürger die Zugehörigkeit zum Europäischen Binnenmarkt auch als Bedrohung, sie fürchten um ihre berufliche und wirt- schaftliche Existenz. Brüssel mahnt Reformen in der Landwirtschaft, bei der Lebensmittelsicherheit und der Einrichtung funktionsfähiger Stellen zur Abwick- lung der EU-Zahlungen an. Gleiches gilt für die Werften, die Stahlindustrie und den Bergbau. Der Kampf gegen die Korruption steht weiterhin als ein zentrales Thema auf der europäischen Tagesordnung.
In den alten EU-Ländern gibt es ebenfalls besorgte Stimmen: Die westlichen Nachbarn fürchten Steuer- und Lohndumping, den Verlust von Arbeitsplätzen und ein starkes Vordringen von Arbeitskräften aus Mittel- und Osteuropa auf die heimischen Märkte.
Die Ängste auf beiden Seiten beruhen eher auf emotionalen als auf rationalen Beweggründen: Wirtschaftlich und rechtlich gesehen, holt der EU-Beitritt formal überwiegend nach, was heute zum großen Teil schon Praxis ist. Die anstehen- den Strukturreformen werden sich mittel- und langfristig als Standortvorteil er- weisen. Übergangsperioden werden durch die Unterstützung aus den Struktur- fonds flankiert, um wirtschaftliche und soziale Brüche zu vermeiden. Insofern dürfen wir selbst auf kurze und mittlere Sicht optimistisch sein, dass das Jahr- hundertereignis EU-Erweiterung gelingt und die künftige Entwicklung auch all jene überzeugt, die heute noch skeptisch sind. 3


Aber wir Politiker müssen uns selbstkritisch fragen, ob genug dafür getan wird,
- dass die Kenntnisse über Europa zunehmen - dass die Wähler sich in der Europapolitik besser zurechtfinden und - dass alle Menschen in den neuen ebenso wie in den alten Mitgliedstaa- ten mehr übereinander wissen und mehr voneinander erfahren.
Die Menschen in dem größer werdenden Europa müssen ins Gespräch kom- men, einander besser kennen lernen und so die Grundlage für mehr Vertrauen aufbauen.
Der heutige Beitrag von Frau Helle Degn wird in diese Richtung weisen, wird zeigen, wie überkommene Vorstellungen beseitigt werden können und wie Ste- reotype über Bord zu werfen sind. Politische Vorgaben - auch die bewährten „politischen Rituale“ auf hoher und höchster Ebene - reichen nicht aus, um das Ziel zu erreichen. Notwendig sind persönliche Kontakte, sind Begegnungen und zwischenmenschliche Beziehungen. Ämter, Titel und Funktionen mit Leben zu erfüllen, ihnen Gesichter zu geben und damit der Aufforderung „Know your neighbours!“ zu entsprechen, darum geht es im Kern!
Die Steigerung der wirtschaftlichen Prosperität wird das Wohlstandsniveau heben und die Lebensqualität in der Europäischen Union verbessern. Doch der europäische Einigungsprozess ist weit mehr als nur das. Es geht um die ge- meinsame europäische Identität, es geht darum, dass psychologische Barrieren zwischen Ost und West fallen. Es geht darum, dass zusammenwächst, was zusammengehört.
Die Europäische Verfassung ist für mich ein Beleg, dass wir auf dem richtigen Weg sind. In vielen Verhandlungsrunden ist um ein für alle Mitgliedstaaten ak- zeptables Kräftegleichgewicht gerungen worden. Teilweise so hartnäckig und insistierend, dass sich der englische Außenminister Jack Straw einmal beklag- te, er werde von Stechmücken angegriffen. Was der deutsche Außenminister Joschka Fischer mit der Bemerkung kommentierte: „Besser pro-europäische Moskitos als Tsetse-Fliegen, die Europa die Schlafkrankheit bringen können.“
Erfreulicherweise sind auf dem Europäischen Rat vor wenigen Tagen sowohl die Moskitos als auch die Tsetse-Fliegen erfolgreich abgewehrt worden. Die Erleichterung ist groß: Der Verfassungsvertrag ist verabschiedet. Jetzt ist der Weg frei für die anstehenden Referenden und Ratifizierungsverfahren. Auch oder gerade in dieser Schlussphase wird es darum gehen, eine intensive öf- fentliche Debatte zu führen. Um die Europäische Verfassung mit Leben zu er- füllen, müssen die Menschen mehr noch als bisher in die Diskussion einbezo- gen werden. Sie müssen informiert sein, müssen aktiv teilhaben an der europä- ischen Integration und stolz darauf sein, als Bürger der Union ihre Rechte und Pflichten ausüben zu können. 4


Die am 13. Juni abgeschlossenen Wahlen zum Europäischen Parlament ha- ben einmal mehr gezeigt, dass dies alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Obwohl das Europäische Parlament immer wichtiger wird, ist die Wahlbetei- ligung erneut europaweit dramatisch gesunken. Weit weniger als die Hälfte der stimmberechtigten Europäer haben ihr Wahlrecht wahrgenommen. Sie wissen überwiegend nicht, was sie tun, wenn sie auf ihre Mitwirkungsrechte verzichten: Bei 80 Prozent der Gesetze, die den Binnenmarkt, die Umwelt-, Wirtschafts-, Gesundheits- oder Verkehrspolitik betreffen, ist das EU-Parlament inzwischen als Gesetzgeber beteiligt. Wenn die Abgeordneten höhere Recyclingquoten, längere Garantiezeiten für Elektrogeräte oder geringere Nachweisgrenzen für genveränderte Substanzen durchsetzen, hat das unmittelbare Auswirkungen auf Hersteller und Verbraucher. Aber es ist nach wie vor schwer zu vermitteln, dass Europa und sein Parlament keine abstrakten und fernen Gebilde sind, sondern mit ihren Entscheidungen in das Leben und in den Alltag jedes einzel- nen hineinwirken.
Seit Jahren ist immer wieder von Enttäuschungen die Rede, von Politikverdros- senheit, gar von einer Krise der Demokratie. Es wäre eine unerträgliche Ironie der Geschichte, wenn gerade jetzt, nach der Überwindung der Spaltung und dem großartigen Sieg der Demokratie in ganz Europa, immer mehr Menschen ihr Vertrauen in die Demokratie verlören und ihre Bereitschaft zur politischen Mitgestaltung nachließe.
Der scheidende Präsident des Europäischen Parlaments, Pat Cox, hat die Eu- ropäer anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Karlspreis 2004 zu einer leb- haften Debatte über die Zukunft Europas aufgefordert: Wenn, so sagte er, „wir beispielsweise unterschiedliche Ansichten über den Stabilitätspakt haben, füh- ren wir die Diskussion! Demokratie ist kein Porzellan. Sie besteht nicht aus zer- brechlichen Gegenständen, die unter der Spannung der öffentlichen Meinung zerbrechen.“
Demokratie verlangt nach Teilhabe der Bürger, nach einer Bewegung von un- ten. Nichtregierungsorganisationen spielen dabei als kritische zivilgesell- schaftliche Instanz eine immer wichtigere Rolle. Sie sind es, die den politischen Entscheidungsträgern mit fachspezifischer politiknaher Beratung zur Seite ste- hen und neue oder auch verdrängte Themen auf die politische Agenda trans- portieren. Die Nichtregierungsorganisationen sind aber nicht nur Berater und Impulsgeber. Sie stellen auch eine kritische Öffentlichkeit her. Sie werden damit – gleichsam in Verlängerung der parlamentarischen Dimension – zu Mit- Akteuren der repräsentativ verfassten europäischen Demokratie und zu wichti- gen Bestandteilen unseres europäischen Gesellschaftsmodells. Folglich muss es auch im parlamentarischen Interesse sein, die rechtlichen Rahmenbedin- gungen so zu gestalten, dass sich Nichtregierungsorganisationen bilden, sie finanzielle Quellen erschließen und frei agieren können. Frau Kollegin Outi Ojala wird in ihrem Referat eine kritische Bestandsaufnahme der bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen und deren Bewertung vornehmen. Auch Ih- rem Vortrag, liebe Frau Ojala, sehen wir erwartungsvoll entgegen. 5


Das Jahr 2004 wird als das Jahr der Erweiterung und Vertiefung in die Ge- schichte der Europäische Union eingehen. Die Teilung Europas ist geografisch und politisch überwunden. Jetzt geht es darum, dass die Menschen in Europa mit Herz und Verstand aufeinander zugehen.
Die Parlamente und die Regierungen im Ostseeraum bewegen sich hier glück- licherweise nicht auf unbekanntem Gelände. Das Politikverständnis der Ost- seekooperation ist das Wachsen von unten, ist der „bottom-up-approach“. Wenn beides seit langem rund um die Ostsee keine Leerformeln sind, sondern mit Leben erfüllte Politikansätze, so ist dies auch ein Erfolg, für den Frau Helle Degn in ihrem langjährigen Wirken als CBSS-Kommissarin den Grund bereitet hat. Sie sind im Ostseeraum aus gutem Grund bekannt. Und deshalb bekennen wir uns gern zu Ihrer programmatischen Aufforderung „Know your neighbours!“
Ich darf nun Ihnen, verehrte Frau Degn, das Wort erteilen.