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27.05.04
10:37 Uhr
B 90/Grüne

Karl-Martin Hentschel zur Bahnreform

Fraktion im Landtag PRESSEDIENST Schleswig-Holstein Pressesprecherin Es gilt das gesprochene Wort! Claudia Jacob Landeshaus TOP 2 – Bahnreform Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel
Dazu sagt der Fraktionsvorsitzende Durchwahl: 0431/988-1503 Zentrale: 0431/988-1500 von Bündnis 90/Die Grünen, Telefax: 0431/988-1501 Karl-Martin Hentschel: Mobil: 0172/541 83 53 E-Mail: presse@gruene.ltsh.de Internet: www.gruene-landtag-sh.de

Nr. 198.04 / 27.05.2004


Die Bahnreform konsequent zu Ende führen
Die Bahnreform von 1993/94 hatte zwei Ziele:
1. Reduzierung der Defizite der Bahn mit der Perspektive der Privatisierung und 2. Mehr Verkehr auf der Schiene.
Die Bahnreform war in wesentlichen Punkten erfolgreich: Die Wirtschaftlichkeit der Bahn konnte erheblich erhöht werden und die Regionalisierung des Schienenpersonennahver- kehrs (SPNV) hat für eine neue und innovative Bahnpolitik in den Ländern die Grundlage geschaffen.
In Schleswig-Holstein sind die Möglichkeiten der Regionalisierung konsequent genutzt worden. Schleswig-Holstein ist führend im Wettbewerb und hat die Fahrgastzahlen in vergangenen acht Jahren um fast 30 Prozent steigern können.
Insgesamt sind aber die beiden angestrebten Ziele insgesamt bislang nicht erreicht wor- den. Immer mehr strukturelle Mängel des jetzigen Systems treten zutage.
Der Bundesrechnungshof hat festgestellt, dass eine Infrastrukturpolitik, die rein betriebs- wirtschaftlichen Kriterien der DB AG folgt, nicht geeignet ist, eine Verkehrswende einzu- leiten. Er fordert eine Abkehr von der Priorität des Baus neuer Hochgeschwindigkeits- trassen für den Fernverkehr und eine Konzentration auf die Förderung des Langstre- ckengüterverkehrs sowie des regionalen SPNVs.
Dazu sind vor allem Investitionen zur Beseitigung von Engpässen und zur Optimierung der Betriebsabläufe nötig.
Alle Parteien im Bundestag eint mittlerweile die Einsicht, dass das Schienennetz nicht privatisiert betrieben werden kann und darf. Deswegen wurde eine schnelle Privatisie- rung unter Einbeziehung des Netzes parteiübergreifend abgelehnt.
1/4 Schleswig-Holstein hat in den vergangenen 8 Jahren auf Basis des rot-grünen Koaliti- onsvertrages von 1996 eine grundlegende Reform der SPNV-Politik vorgenommen. Durch eine offensive Ausschreibung von Bahnlinien wurden bereits 49 Prozent des SPNV-Verkehrs an im Wettbewerb mit der DB AG konkurrierende Bahnunternehmen vergeben. Damit liegt Schleswig-Holstein bundesweit an der Spitze aller Bundesländer.
Auf diese Weise konnten bis zu 43 Prozent (Durchschnitt 10-20 Prozent) der Zuschüsse des Landes eingespart werden, die wieder für eine Verbesserung des Angebots einge- setzt wurden. Die genannte Steigerung des Nahverkehrsangebots (gemessen in Zugki- lometern) um fast 30 Prozent ist ein erheblicher Erfolg.
Mit der Wiedereröffnung der Strecke Neumünster-Bad Segeberg und von mittlerweile 16 Bahnhöfen, mit der Einführung des Schleswig-Holstein-Tarifs und des integralen Takt- fahrplans, die nach dem Ausbau der Strecke Kiel-Lübeck 2006 abgeschlossen sein wird, wurden deutliche Signale gesetzt.
Trotzdem lässt die Qualität immer noch erheblich zu wünschen übrig und die Schwach- stellen des jetzigen Systems treten immer deutlich hervor:
Das Land hat kaum Einfluss auf die Infrastrukturinvestitionen in das Schienennetz und die Verkehrsstationen und die DB AG trifft ihre Investitionsentscheidungen vor allem, um die Wirtschaftlichkeit des Fernverkehrs zu erhöhen.
Immer wieder werden vereinbarte Vorhaben von der DB AG einseitig zurückgestellt, so zuletzt der Ausbau und die Elektrifizierung der Strecke Hamburg-Lübeck.
Schnelle flexible Entscheidungen, um Engpässe im Netz zu beseitigen, um Streckenab- schnitte zu beschleunigen, damit der Taktfahrplan umgesetzt werden kann oder um Güteranschlüsse zu ermöglichen, sind kaum möglich. Der Ausbau der Bahnhöfe zieht sich über Jahre hin – die Kommunikation der DB AG mit dem Land und erst recht mit der Kommunalpolitik ist suboptimal.
Deshalb hält meine Partei eine weitere Bahnreform für überfällig. Diese Reform sollte folgende Punkte umfassen:
1.) Wir wollen das Eigentum am Netz von den Transportgesellschaften trennen. Dazu schlagen wir die Bildung einer staatlichen Schieneninfrastrukturgesellschaft des Bundes vor, die Eigner des Netzes für die Fernstrecken wird.
Die regionalen Strecken, auf denen ausschließlich oder überwiegend SPNV oder Güter- verkehr stattfindet, sollen an die Länder übergeben werden. Diese Aufteilung entspricht der bewährten Aufteilung im Straßenbau in Bundestrassen und Landesstraßen.
2.) Der Schienenwegebau sollte nach dem bewährten Muster des Straßenbaus organi- siert werden. Der Bau und Ausbau der Hauptstrecken wird durch den BVWP (Bundes- verkehrswegeplan) geregelt. Baudurchführung, Bauplanung und Pflege sollte in Zukunft nicht mehr durch die DB AG, sondern wie im Straßenverkehr durch die Länder erfolgen. Dabei ist eine angemessene Mittelverteilung unter den Bundesländern sicherzustellen.
3.) Wir wollen eine komplette Privatisierung des rollenden Bahnbetriebes. Dazu sollen al- le Teile der DB AG, die selbst Zugverkehr durchführen (DB Cargo bzw. Railion, DB Reise und Touristik, DB Regio) schrittweise privatisiert werden. Damit wird der gesamte Bahn- betrieb nach und nach in den freien Wettbewerb entlassen.
4.) Wir schlagen vor, eine unabhängigen Trassenvergabeagentur zu gründen: Denn bei der Trassenvergabe handelt es sich um die Verwaltung eines natürlichen Monopols, und das muss neutral durch eine unabhängige Agentur im Auftrag der Infrastrukturgesell- schaften verwaltet werden.
5.) Wir schlagen weiter vor, eine unabhängigen Servicegesellschaft zu bilden: Aufgabe dieser Servicegesellschaft ist der „herstellerneutrale“ Fahrkartenverkauf und der Betrieb eines „herstellerneutralen“ Buchungssystems im Auftrag der Betriebsunternehmen, die Erstellung von Fahrplänen und weitere Informations- und Serviceaufgaben einschließlich einer alle Verkehrsmittel übergreifenden Fahrplanauskunft.
6.) Wir brauchen ein transparentes Tarifsystem. Auf Landesebene – also im Regional- verkehr – sollten wie in Schleswig-Holstein einheitliche Regionaltarife eingeführt werden. Im eigenwirtschaftlichen Fernverkehr sollten die Unternehmen eigene Tarife entwickeln können, müssen aber dann Übergangstarife anbieten, damit stets die gesamte Fahrt ge- bucht werden kann.
7.) Wir wollen die Bahnhöfe kommunalisieren. Denn niemand hat ein so großes Interesse an attraktiven Bahnhöfen wie die Kommunen. Deswegen sollten die Bahnhöfe den Kommunen übereignet werden. Dabei ist zu prüfen, ob für die Finanzierung ein Bahn- hofsinvestitionsprogramm des Bundes erforderlich ist.
8.) Wir schlagen eine Neuordnung der technischen Standards vor: Denn die technischen Standards sind heute ein Hindernis für Effizienz und Entwicklung des Bahnsystems. Für den Fernverkehr soll eine einheitliche neue Eisenbahnbetriebsordnung entwickelt wer- den. Die Länder können im Regionalverkehr eigene Standards in Anlehnung an beste- hende Bestimmungen für NE-Bahnen oder der Betriebsordnung für Straßenbahnen einführen.
9.) Wir fordern eine gesetzliche Regelung der Fahrgastrechte: Denn Fahrgäste müssen unabhängig von der Wahl des Beförderungsmittels und des Verkehrsunternehmens ei- nen einheitlichen gesetzlichen Anspruch bei Verspätungen und bei Zugausfall haben.
10.) Die Regionalisierung des Schienenverkehrs hat zu einer Verbesserung von Qualität und Effizienz des SPNV geführt. Sie hat aber auch Nachteile bei der Abstimmung der Systems, wie z. B. in Hamburg deutlich wird, wo vier verschiedene Tarife aufeinander- treffen.
Deswegen sollen schnell Verhandlungen mit Hamburg über eine gemeinsame Verkehrs- politik, zumindest aber eine gemeinsame Politik für den öffentlichen Verkehr (Bus und Bahn) aufgenommen werden. Ein wichtiger Schritt dafür wäre mittelfristig die Zusammen- legung von Hamburger Verkehrsverbund und landesweiten Verkehrsservicegesellschaft von Schleswig-Holstein.

Ich freue mich, dass wesentliche Teile unseres Reformprogramms sich in dem vorlie- genden Antrag der Koalitionsfraktionen wiederfinden.
Aber ich möchte auch lobend erwähnen, dass die erfolgreiche marktwirtschaftliche Bahnpolitik in Schleswig-Holstein bisher von allen Fraktionen dieses Landtages stets gemeinsam getragen wurde. Denn diese Wettbewerbspolitik gilt bei Experten bundesweit als vorbildlich.
Um so mehr erstaunt es, wenn jetzt Investitionsentscheidungen der DB AG von der CDU zum Anlass genommen werden, die Wettbewerbspolitik des Landes zu kritisieren. Die Behauptung, dies hätte Millionenschäden angerichtet, verkehrt die Tatsachen ins Gegen- teil.
Ohne die Einsparungen durch Wettbewerb in jährlich zweistelliger Millionenhöhe wäre die erhebliche Ausweitung des Betriebes nicht möglich gewesen.
Selbst die kritisierte Entscheidung für die FLEX hat trotz des Konkurses zu Einsparungen von 7,6 Mio. Euro geführt, denn das Angebot der DB AG lag damals fast beim Doppelten des von der FLEX angebotenen Preises.
Herr Carstensen hätte nur einmal den verkehrspolitischen Sprecher seiner Landtagsfrak- tion fragen müssen, der im übrigen die Entscheidung des Landes in auf einer vertrauli- chen Sitzung ausdrücklich gebilligt hat.
Es ist schon ein merkwürdiges Verständnis von Marktwirtschaft, wenn demjenigen, der Wettbewerb praktiziert, „Rambo-Mentalität“ vorgeworfen wird.
Und wenn Herr Carstensen sich für den baldigen Börsengang des Unternehmens DB AG ausspricht, dessen Neuinvestitionen mit zirka 4 Mrd. Euro jährlich fast zu hundert Pro- zent aus der Staatskasse finanziert werden, dann kommt mir das vor wie einen Ausflug nach Absurdistan.
Auf diese Art von staatsmonopolitischem Kapitalismus können wir in Schleswig-Holstein verzichten.

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