Landtagsvizepräsidentin Dr. Kötschau: Die Europäische Bewegung ist ein konkreter Schritt auf dem Weg zu einer engen Zusammenarbeit
150/2003 Kiel, 28. November 2003 Sperrfrist: 28. 11. 2003, 19.00 Uhr Es gilt das gesprochene Wort!Landtagsvizepräsidentin Dr. Gabriele Kötschau: Die Europäische Be- wegung ist ein konkreter Schritt auf dem Weg zu einer engen Zusam- menarbeitKiel (SHL) - In ihrem Vortrag „Osterweiterung der Europäischen Union und ihre Auswirkungen auf Kaliningrad“ vor der „Europäischen Bewe- gung“ in Kaliningrad am 28. 11. 2003, erklärte Landtagsvizepräsidentin, Dr. Gabriele Kötschau, MdL, u. a.:Die Idee „Europa in den Köpfen“ ist dann durch die Weltkriege des 20. Jahrhunderts zunächst gründlich zugeschüttet worden, bis sie in Westeuro- pa Anfang der 50er Jahre langsam wieder Leben bekam. Die 1948 als „Or- ganisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit“ gegründete Wirtschaftsunion entwickelte sich schnell zu einer Union, die in allen Berei- chen des Lebens eine neue Zusammenarbeit suchte, von der Außen- und Sicherheitspolitik über den Umweltschutz bis zur Freizügigkeit und zum frei- en Warenverkehr. Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft stand allen euro- päischen Staaten offen, die auf einer demokratischen Verfassung und einer marktwirtschaftlichen Grundordnung basierten. 1958 mit den Römischen Verträgen von sechs Staaten gegründet, haben sich bis heute 15 Mitglieds- staaten in der Union zusammengeschlossenen.Am 1. Mai 2004 wird die Europäische Union mit 25 Mitgliedern und 450 Mil- lionen Einwohnern eine neue Dimension erreichen. Wachstum und Be- schäftigungsmöglichkeiten entwickeln sich in der EU auf der Grundlage ge- meinsamer Werte. Das politische, geografische und wirtschaftliche Gewicht der Union wächst kontinuierlich. Die neue Vielfalt der Kulturen und Traditio- nen wird die Union bereichern. Doch müssen für die jetzt anstehende EU- Erweiterung zunächst administrative Regelungen getroffen werden, um mit diesen Veränderungen in den einzelnen Regionen umzugehen. Die Integra- 2tion der neuen Mitglieder stellt für diese, aber auch für die EU in ihrem bis- herigen Umfang, eine große Herausforderung dar. Die Integration wird muss jetzt schrittweise vertieft werden.Europa wird auf absehbare Zeit nicht eine Union sein, sondern mehrere Staaten oder Staatengruppen umfassen. Hierzu gehören die neuen Nach- barstaaten der erweiterten Union, unter ihnen – neben den Staaten des südlichen Mittelmeerraumes – die Russische Föderation sowie die GUS- Staaten Ukraine, Belarus und Moldau. Die Auswirkungen der EU- Erweiterung werden für die Nachbarn Risiken bedeuten, doch können und werden die „neuen Nachbarn“ auch neue Impulse erfahren. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei der Russischen Föderation zu: sehen wir uns Eu- ropa auf der Karte an, so stellen wir fest, dass ein großer Teil Europas aus Russland besteht. Ein gut nachbarschaftliches Zusammenarbeiten und Zu- sammenleben kann daher nur in unser aller Interesse sein.Mit besonderen Herausforderungen sieht sich die russische Exklave Kali- ningrad konfrontiert, die nur durch ein Drittland vom russischen Mutterland aus zu erreichen ist. Hinzu kommt die zentralistisch ausgerichtete Politik der Russischen Föderation, die ihren Rechtssubjekten nur einen eingeschränk- ten Spielraum für eigene politische Entscheidungen zugesteht.Bereits seit 1991 hat die Europäische Union, vor allem durch das TACIS- Programm, Kaliningrad mit etwa 40 Mio. € unterstützt, etwa in den Berei- chen der Entwicklung der Sonderwirtschaftszone, der Energie, der grenz- überschreitenden Zusammenarbeit und der gemeinsamen Bekämpfung der Organisierten Kriminalität.Im Juli 1996 haben die Mitgliedsstaaten des Ostseerats das Aktionspro- gramm „wirtschaftliche Integration und Wohlstand“ für die Ostseeregion be- schlossen. Verschiedene Kooperationsfelder tragen zur Verbesserung des Investitionsklimas zwischen EU- und Nachbarländern bei. In diesem Bereich liegen auch und gerade für Kaliningrad Chancen, etwa durch die Realisie- rung des Aufbaus eines transeuropäischen Verkehrsnetzes. Hier möchte ich ausdrücklich die Initiative zum Bau der „Via Hanseatica“ nennen, die Wirt- schaft und Tourismus im Ostseeraum von Lübeck bis St. Petersburg ankur- beln könnte. Den russischen Ostseeregionen St. Petersburg und Kalinin- grad käme hierdurch die Rolle zu, eine Aufgabe für die gesamte Russische Föderation zu übernehmen: als ein „Tor nach Westen“ zu agieren.Darüber hinaus gibt es im Ostseeraum bereits ein breites Netz von Koope- rationen, die die russischen Ostseeanrainerregionen für ihr Land wahrneh- men. Hierzu gehören auf formaler Ebene die Zusammenarbeit im - Ostseerat, dem die nationalen Regierungen der Ostseeanrainerstaaten angehören, - Die Ostseeparlamentarierkonferenz, in der auch die Regionen gleichbe- rechtigt vertreten sind, und - Die Konferenz der Subregionen, einer der wichtigsten Partner der Euro- päischen Kommission für EU-Programmaktivitäten im Ostseeraum. 3Die strategische Bedeutung dieser Beziehungen ist nicht zu unterschätzen. Sie ist insbesondere eine Klammer zwischen EU-Staaten und Nicht- Mitgliedsstaaten und ermöglicht Gestaltungen gerade dort, wo EU- Mitgliedsstaaten und ihre Nachbarn aufeinander treffen.Das vorrangige Interesse der Europäischen Union liegt in der Bewahrung ihrer Sicherheit; hierzu gehört die Sicherung ihrer Außengrenzen gegen ne- gative Einflüsse von außen, vor allem illegale Migration, Drogenhandel und organisiertes Verbrechen. Dem gegenüber steht das Interesse Moskaus an der Sicherung seiner territorialen Integrität und Kaliningrads, weiterhin ge- regelten Zugang zu seinen Nachbarn zu haben sowie freien Zugang zwi- schen Kaliningrad und dem russischen Mutterland. Vor dem Hintergrund ist die Frage des Transits sowie des Visaregimes zu sehen, das ich nur kurz behandeln möchte:Von vorrangiger Bedeutung für Kaliningrad ist seine Anbindung an das rus- sische Mutterland, aber auch die Möglichkeit seiner Bewohner, weiterhin in die Nachbarländer Litauen und Polen reisen zu können. Was den Transit Kaliningrad – russisches Mutterland angeht, so fuhren im Jahr 2001 nach russischen Angaben 960.000 Personen per Bahn und 620 000 Personen per Auto in beide Richtungen.Die EU-Kommission fasste in ihrem „Neuen Nachbarschafts“-Dokument vom März 2003 die Ausarbeitung eines effizienten und benutzerfreundli- chen Verfahrens für den kleinen Grenzverkehr ins Auge. So wird in Brüssel überlegt, „wie das Überschreiten der Außengrenzen für Angehörige von Drittstaaten erleichtert werden kann, die im Grenzgebiet leben und bona fide legitime, triftige Gründe für einen regelmäßigen Grenzübertritt haben und kein Sicherheitsrisiko darstellen“. Sofern die entsprechenden Voraus- setzungen erfüllt sind, sollte die EU darüber hinaus „dafür offen sein, die Ausdehnung visafreier Regelungen zu prüfen“, heißt es weiter in dem Do- kument.Die Visapflicht für die russischen Staatsbürger treffen vor allem jene, die bisher ihren Lebensunterhalt mit kleinem Grenzhandel bestreiten. Insge- samt registrieren die Kaliningrader Behörden pro Jahr rund 9 Millionen Grenzübertritte.Das polnische Generalkonsulat in Kaliningrad hat angekündigt, kostenlose Visa für die Kaliningrader Bürgerinnen und Bürger auszustellen. Probleme gibt es noch, was die Erteilung von Visa für Deutschland angeht. Hier ist – nach langen Verhandlungen – eine Besserung in Sicht, durch die Errichtung eines Deutschen Generalkonsulats in Kaliningrad. Die Akkreditierung des designierten deutschen Generalkonsuls in Kaliningrad wird in den nächsten Wochen erwartet; wir hoffen darauf, dass die Ernennung von Dr. Cornelius Sommer und die Aufnahme seiner Dienstgeschäfte spätestens Anfang des nächsten Jahres für die Kaliningrader Bürger Erleichterungen bringen und die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen fördern wird.Präsident Putin hat mehrfach den bemerkenswerten Vorschlag unterbreitet, zwischen Russland und der EU „in einer realistischen Perspektive“ den 4visafreien Personenverkehr zwischen den Partnern einzuführen.“ Thema war dies z. B. auch auf dem Moskauer Treffen von Putin und Kommissi- onspräsident Prodi im März dieses Jahres. Sie einigten sich auf die Einset- zung einer Arbeitsgruppe, die klären soll, welche Bedingungen Russland erfüllen müsse, damit die Visapflicht gelockert und schließlich sogar ganz abgeschafft werden könne. Die Europäische Bewegung, die Sie in diesem Jahr in Kaliningrad gegründet haben - die erste in der Russischen Föderati- on überhaupt -, ist ein konkreter Schritt auf dem Weg einer immer engeren Zusammenarbeit zwischen der Russischen Föderation und ihren Rechts- subjekten einerseits und der Europäischen Union, ihren Mitgliedsländern und ihren Regionen andererseits. Kaliningrad und Schleswig-Holstein über- nehmen als aktive Partner im Ostseeraum eine Vorreiterrolle; die Europäi- sche Bewegung als gesellschaftliche Organisation leistet einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer gemeinsamen Identität in Europa, für das Russland mit seinen Rechtssubjekten ein neuer, interessanter und perspek- tivreicher Partner ist.