Kieler-Woche-Gespräch: Die Rolle des Europarates in einer erweiterten Europäischen Union - Rede von Landtagspräsident Arens
85/2003 Kiel, 23. Juni 2003 Es gilt das gesprochene Wort!Kieler-Woche-Gespräch: Die Rolle des Europarates in einer erweiterten Europäischen UnionKiel (SHL) – Zum traditionellen Kieler-Woche-Gespräch begrüßte Land- tagspräsident Heinz-Werner Arens parlamentarische Gäste des Schleswig-Holsteinischen Landtags aus den Ostseeanrainer- und den nordischen Ländern. Als Referenten waren der Leiter der schwedischen Delegation beim Europarat, Botschafter Mats Åberg, sowie Senator Gerard Czaja, Mitglied des Senats der Republik Polen und Mitglied des Ständigen Ausschusses der Ostseeparlamentarierkonferenz, gekom- men. In seiner Rede sagte Arens unter anderem:„Während der Kieler Woche bietet die schleswig-holsteinische Landes- hauptstadt ihren Gästen erstklassigen Segelsport und eine heitere Volksfeststimmung. Gründe zu feiern, gibt es viele. Doch in diesem Jahr erfüllt uns ein historisch herausragendes Ereignis mit ganz besonderer Freude. Mit den Referenden im Mai bzw. Juni dieses Jahres in Litauen und Polen sind wir auf dem Weg zu einem geeinten Europa einen ent- scheidenden Schritt vorangekommen. Die überwältigende Mehrheit der Wähler hat sich für den EU-Beitritt ausgesprochen. Die Erleichterung bei den politisch Verantwortlichen ist groß. Die Menschen konnten dank des Engagements von Politik, Kirche und Gesellschaft pro-europäisch ein- gestimmt werden. Polen und Litauen brauchen die EU, und ebenso braucht die EU Polen und Litauen. Wir gratulieren Ihnen zu Ihrer Entschlossenheit und zu dem Vertrauen, das sie Europa entgegenbringen. Ich bin sicher, dass unsere Freunde in Estland und Lettland diesem Beispiel im September folgen werden.Weshalb widmet der Schleswig-Holsteinische Landtag als Regionalpar- lament das diesjährige Kieler-Woche Gespräch dem Europarat? Schleswig-Holstein ist Ostseeanrainer und Grenzregion. Unser Bundes- land ist zugleich durch die vorübergehende Aufnahme von mehr als ei- 2ner Million Heimatvertriebener und Flüchtlinge nach dem zweiten Welt- krieg geprägt. Diese Ausgangslage konfrontiert uns mit Herausforderun- gen, die der Zielsetzung des Europarates weitestgehend entspricht:Der Europarat ist die älteste und die größte Organisation des zusam- menwachsenden Europa – aber gleichzeitig auch die am wenigsten be- kannte. Bei seiner Gründung am 5. Mai 1949 hatte sich der Europarat zum Ziel gesetzt, durch eine enge Zusammenarbeit der europäischen Völker künftig Kriege auf unserem Kontinent zu verhindern. Dazu hat seine Kraft zwar nicht ausgereicht. Die Vision eines auf den Säulen Menschenrechte und Demokratie aufbauenden Europa besteht dagegen weiterhin.Aber es bedurfte erst der Katastrophe des zweiten Weltkrieges und des Machtverlustes früherer Großmächte, um zu dieser Einsicht zu gelan- gen. Als die Menschen in Europa in ihren zerstörten Städten hungerten und froren, wurde Winston Churchills folgenreiche Rede vor Studenten der Universität Zürich zur Initialzündung. Wenn Europa jemals wieder Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft schöpfen wolle, so der frühere britische Premier im Jahr 1946, müsse bald ‚so etwas wie die Vereinig- ten Staaten von Europa’ entstehen. Diese Idee wurde zum Auslöser für die europäische Integration.Gegenwärtig besteht der Europarat aus 45 Mitgliedstaaten; zuletzt sind Bosnien-Herzegowina im Jahre 2002 sowie Serbien und Montenegro in diesem Jahr dem Europarat beigetreten. Voraussetzung war immer schon die Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonventi- on, die von Anbeginn für die Ziele und Werte des Europarates steht. Sie verbrieft den Schutz der bürgerlichen Rechte und Freiheiten und schließt inzwischen auch die verbindliche Verpflichtung zur Abschaffung der To- desstrafe ein. Die genannten Rechte können beim Europäischen Ge- richtshof für Menschenrechte in Straßburg eingeklagt werden. Auf die- sem Sektor kann er also unmittelbar Recht sprechen.Menschenrechtsschutz heißt auch Minderheitenschutz. Jede siebente Bürgerin bzw. jeder siebente Bürger in Europa gehört einer ethnischen oder nationalen Minderheit an. Minderheiten sind zusammengenommen also Mehrheiten. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass der Europarat in den 1990er Jahren zwei minderheitenrelevante Abkommen angenommen hat, die von einem Großteil der Mitgliedstaaten unter- zeichnet und ratifiziert worden sind: die Europäische Charta der Regio- nal- oder Minderheitensprachen und das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten.Wir als Schleswig-Holsteiner sind im Umgang mit diesen Fragen beson- ders sensibilisiert, denn die Minderheitenpolitik hat als Friedenspolitik nach innen einen herausragenden Stellenwert in unserem Land. Durch die positiven Erfahrungen im deutsch-dänischen Grenzland hat sie An- gebotscharakter für ganz Europa. 3Wie sehr die Aktivitäten des Europarates auf dem Gebiet nationaler Minderheiten von Bedeutung sind und das politische Bewusstsein für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen, zeigt sich an der Frage der Abgrenzung nationaler Minderheiten von den so genannten ‚neuen’ Minderheiten und den ethnischen Volksgruppen. Hierauf eine politisch tragbare Antwort zu finden, wird ohne Unterstützung und Positi- onierung des Europarates kaum möglich sein. Umso mehr gehe ich da- von aus, dass der Europarat auch zukünftig einen wichtigen Einfluss auf die Weiterentwicklung der Minderheitenpolitik in Europa ausüben wird.Einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zur europäischen Integration hat der Europarat mit der Europäischen Charta der lokalen und regiona- len Selbstverwaltung gesetzt. In einem Europa, in dem die Grenzen mehr und mehr den Charakter des Trennenden verlieren, erlangen die Regionen eine immer größere Bedeutung. Doch auch in einem Europa der Regionen sind die europäischen Gesellschaften noch auf dem Weg zu ihren selbst gesteckten Zielsetzungen. Das ist Herausforderung ge- nug für eine Organisation, deren Dreh- und Angelpunkt die Sorge für die Menschen- und Bürgerrechte in Europa ist. Es gibt immer noch Miss- stände im Polizei- und Justizsystem und im Strafvollzug in einigen Mit- gliedstaaten. Zu denken ist auch an unzureichende demokratische Standards bei Wahlen, an Eingriffe in die Freiheit der Presse und an mangelnde demokratische Mitwirkungsrechte auf der kommunalen und der regionalen Ebene.Das Engagement des Europarates ebenso wie das hohe moralische An- sehen dieser Institution können hier eine wertvolle Vorbildfunktion ein- nehmen. Der Europarat hat sich immer als Vordenker und Wegbereiter europäischer Entwicklungen verstanden. Seine Aktivitäten beherrschen nicht die Schlagzeilen europäischer Medien. Aber sie haben dennoch erhebliche Auswirkungen auf die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten.Andere Organisationen wie die Europäische Union, mit denen der Euro- parat auf verschiedenen Gebieten eng zusammen arbeitet, profitieren erheblich von seinen gut 50 Jahre langen Erfahrungen und seinem Know-how. So werden Ideen und Anregungen des Europarates nicht selten von der Europäischen Union übernommen und von ihr als dem finanziell leistungsfähigeren System auf den Weg gebracht. Die vom Europarat verabschiedete Charta zur Förderung der Regional- und Min- derheitensprachen und das geplante Aktionsprogramm der Europäi- schen Kommission zur Förderung der Sprachenvielfalt und des Spra- chenlernens – Regional- und Minderheitensprachen eingeschlossen – sind aktuelle Beispiele dafür.Auch wären die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Vorarbeit des Europarates im Demokratisierungsprozess nicht so erfolg- reich vorangekommen. Der Europarat ist in vielen Bereichen Wegberei- ter und Schrittmacher für den Prozess der europäischen Integration.Wie wird es nun mit dem Europarat weitergehen? Die Erweiterung der Europäischen Union um zehn weitere Staaten macht diese Einrichtung 4keineswegs überflüssig. Im Gegenteil: Seine moralische Autorität, die in ihm gebündelte Erfahrung und die Schwerpunkte seines rechtsstaatlich fundierten Engagements sind in dem Erweiterungsprozess der EU mehr denn je gefordert.Aber es erscheint mir auch wichtig, dass – ebenso wie die EU – auch der Europarat seine Entscheidungsfähigkeit verbessert. Und er sollte vielleicht auch seine Rolle im Konzert der internationalen Organisationen überprüfen und gegebenenfalls neu definieren. Dabei ist er nicht nur auf die Unterstützung von Regierungen und Parlamenten, sondern in zu- nehmendem Maße auch auf die verstärkte Einbeziehung der europäi- schen Zivilgesellschaft angewiesen. Nur wenn es ihm gelingt, seine Ak- tivitäten, seine Zielsetzungen und seine Werte im Bewusstsein einer breiten europäischen Öffentlichkeit zu verankern, wird er sich langfristig den notwendigen Rückhalt für seine zukunftgerichtete Arbeit sichern können.Gerade weil die Werte des Europarates so aktuell sind wie noch nie, will ich zum Schluss meiner kurzen Einführung den Haager Kongress der Europäischen Bewegung von 1948 und seine Botschaft mit folgendem Zitat in Erinnerung rufen: ‚Die höchste Errungenschaft ist die Men- schenwürde, und ihre wahre Kraft liegt in der Freiheit. Und das ist das eigentlich lohnende Ziel unseres Kampfes. Um unsere erworbene Frei- heit zu erhalten, aber auch um sie allen Menschen zugänglich zu ma- chen, wollen wir die Einigung unseres Kontinents’.“