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10.10.02
14:52 Uhr
Landtag

Arens berichtet im Landtag über die 11. Ostseeparlamentarierkonferenz

D E R L A N D T A G A SCHLESWIG - HOLSTEIN a 136/2002 Kiel, 10. Oktober 2002

S p e r r f r i s t Redebeginn 15:00 Uhr Es gilt das gesprochene Wort!


Landtagspräsident Arens berichtet im Landtag über die 11. Ostseeparlamentarierkonferenz
KIEL (SHL) – In seiner Rede vor dem Schleswig-Holsteinischen Land- tag berichtete Landtagspräsident Heinz-Werner Arens am 10. Oktober über die 11. Konferenz der Ostseeparlamentarier (Baltic Sea Parlia- mentary Conference – BSPC), die vom 30. September bis 1. Oktober 2002 in St. Petersburg stattfand:
1. Die Bedeutung Russlands in der Ostseekooperation
“Als vor 12 Jahren Abgeordnete aus allen Ostseestaaten in Helsinki zusammenkamen, um über die Einberufung einer Konferenz der Par- lamente des Ostseeraumes zu diskutieren, herrschte Unsicherheit darüber, wie sich Russland auf diesen Vorschlag einlassen würde. Gewissheit bestand nur in einem: ohne die Einbeziehung Russland würde die Ostseekooperation ein Torso bleiben.
Russland beteiligte sich von Anbeginn, aber das russische Engage- ment in den ersten Jahren war denkbar zurückhaltend. Heftige Ankla- gen und Angriffe insbesondere aus den jungen Baltischen Republiken gegen die vormalige ungeliebte Schutzmacht prägten die Debatten. Die Furcht, dass es mit der kaum errungenen Freiheit und Selbststän- digkeit schnell wieder vorbei sein könnte, stand im Vordergrund der Debattenbeiträge aus diesem Raum. Die Vertreter Russlands sahen sich ihrerseits entweder auf der Anklagebank oder – in den Folgejah- ren – durch Nichtbeachtung und vielfach auch durch Nichtachtung be- straft. Auch optisch war ihre Existenz lediglich am Rande der Konfe- renz auffällig: Sie saßen gleichsam am Katzentisch oder, in der Spra- che Thomas Manns, am „schlechten Russentisch“.
Ich rufe das in Erinnerung, meine Damen und Herren, weil die Zeit schnelllebig und das politische Gedächtnis erfahrungsgemäß eher das 2

Kurzzeitige liebt. Ich rufe es auch deshalb in Erinnerung, weil wir im- mer wieder gefragt werden: Was haben denn die Kooperation im Ost- seeraum und die Parlamentarier der Ostseeanrainerstaaten seit 1990 erreicht, seit die unnatürliche Teilung dieses alten gemeinsamen Kul- turraumes endlich überwunden werden konnte?
Die 11. Ostseeparlamentarierkonferenz von St. Petersburg hat hierauf eine deutliche Antwort gegeben: Die Furcht und das Misstrauen prä- gen das Konferenzgeschehen nicht mehr. Die Abgeordneten aus Russland und den Baltischen Staaten ebenso wie unsere Kollegen aus Polen und den nordischen Ländern haben zu einem normalen Umgang miteinander gefunden. Es gibt keine Ausgrenzung mehr, man ist miteinander im Gespräch. Die Verhältnisse haben sich stabilisiert, niemand befürchtet Revision und Restauration und den Rückfall in ag- gressive Bedrohungsszenarien. Das ist der größte Erfolg im interparlamentarischen Verkehr und im persönlichen Umgang miteinander. Die Zusammenarbeit der Parla- mente im Ostseeraum hat das nicht allein bewirkt: Aber sie hat einen beachtlichen Anteil daran, wie der Vorsitzende der Staatsduma der Russischen Föderation, Gennady Selesnjow, in seiner Eröffnungsan- sprache betonte.
2. St. Petersburg – Fenster zum Westen
Zum ersten Mal war Russland Gastgeber. Es ist kein Zufall, und es hat eine symbolische Bedeutung, dass St. Petersburg als Ort des Parla- mentariertreffens ausgewählt worden war. Die Newa-Metropole ist seit 300 Jahren Russlands Tor zur Ostsee. UND das „Fenster nach Euro- pa“, was Sergej Mironow, der Vorsitzende des Föderationsrates der Russischen Föderation, im Rahmen der Eröffnungszeremonie hervor- hob.
Ich nenne die Namen dieser beiden russischen Politiker bewusst zu Beginn. Mit dem Präsidenten der Staatsduma und dem Präsidenten des Föderationsrates nahmen die beiden höchsten parlamentarischen Repräsentanten Russlands gemeinsam die Gastgeberrolle wahr. Das war als Signal gedacht, und es wurde auch so verstanden.
Wenn Präsident Putin in einem von seinem Bevollmächtigten verlese- nen Grußwort der parlamentarischen Versammlung bescheinigte, we- sentliches Verdienst daran zu haben, dass der Ostseeraum „eine der stabilsten und sich am dynamischsten entwickelnden Regionen in Eu- ropa“ sei, ist dies natürlich auch eine der schönen Formulierungen, die man bei solchen Gelegenheiten gern verwendet. Aber der hohe dip- lomatische Rang der Wahrnehmung der 11. Ostseeparlamentarierkon- ferenz durch die Politik signalisiert mehr. Er ist auch ein Indikator für den Bedeutungszuwachs, den die noch vor wenigen Jahren eher un- bekannte Konferenz inzwischen gewonnen hat. Mit ihren rund 140 Teilnehmerinnen und Teilnehmern allein aus dem parlamentarischen Bereich hat sich die BSPC, die Baltic Sea Parliamentary Conference, 3

inzwischen ihren eigenen unverwechselbaren Namen gemacht. Die Sitzungen im Taurischen Palais hatten mehr zu bieten als nur eine äußere schöne Fassade.
3. Minderheitenschutz und die Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen
Es war auffallend, dass alle hochrangigen russischen Vertreter in ihren Beiträgen die Bedeutung des Minderheitenschutzes im Ostseeraum hervorhoben. Die Fragen des Minderheitenschutzes sind und bleiben ein herausragend wichtiges Thema auf der Agenda der Ostseeparla- mentarierkonferenz. Aber diese Frage darf – und schon gar nicht aus russischer Sicht – nur mit Blick auf ihre nordwestlichen Nachbarn the- matisiert werden.
Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass die Föderalistische Uni- on Europäischer Volksgruppen (FUEV) aufgrund einer schleswig- holsteinischen Initiative mit dem Status eines ständigen Beobachters bei der Ostseeparlamentarierkonferenz akkreditiert worden ist. Der Vi- zepräsident der FUEV und Hauptvorsitzende des Bundes deutscher Nordschleswiger, Hans Heinrich Hansen, konnte auf diese Weise in- nerhalb der schleswig-holsteinischen Delegation einen wichtigen Platz finden.
4. Politisierung und Konkretisierung
Die 11. Konferenz war die bisher politischste. Die Gastfreundschaft der russischen Veranstalter und ihr Bemühen um einen „gediegenen Rahmen“, wie man bei uns sagt, waren nur das eine. Das andere wa- ren deutliche Auseinandersetzungen in der Sache. Der Eindruck frü- herer Konferenzen, es eher mit Podiumsdiskussionen zu tun zu ha- ben, kam gar nicht erst zum Tragen. Die Ostseeparlamentarierkonfe- renz hat inzwischen zu ihrem Auftrag gefunden, Handlungsanweisun- gen an die Politik zu formulieren.
Aber es blieb es nicht allein bei politischen Bekundungen. Der bereits in Greifswald auf der 10. Ostseeparlamentarierkonferenz eingeleitete Prozess, zu konkreten Fragen der Zusammenarbeit im Ostseeraum Position zu beziehen, wurde konsequent fortgesetzt: Fragen der Schiffssicherheit im Ostseeraum standen mit gleichem Rang und glei- cher Wichtigkeit neben der politischen Grundsatzdiskussion über We- ge zur Integration und Kooperation im Ostseeraum.
Es ist das große Verdienst des Landtages von Mecklenburg- Vorpommern, zu diesem Thema eine umfangreiche und fachlich quali- fizierte Problemdarstellung gegeben zu haben. Aber damit nicht ge- nug: Die Auseinandersetzung mit Kernfragen des Umweltschutzes in der Arbeitsgruppe Maritime Sicherheit unter der Leitung des Vorsit- zenden des Umweltausschusses des Landtages von Mecklenburg- Vorpommern, Dr. Henning Klostermann, dem ich für seine verdienst- 4

volle Arbeit an dieser Stelle danken möchte, mündete in einen Katalog konkreter Forderungen ein, die einstimmig als Teil II der Schlussreso- lution angenommen wurden.
Es ist bemerkenswert und bezeichnend, dass aufgrund dieses Ar- beitsprozesses, an dem sich alle Parlamente des Ostseeraumes in- tensiv beteiligt haben, die Helsinki-Kommission der Ostseeparlamen- tarierkonferenz einen Beobachterstatus angeboten hat.

5. Die regionale Dimension stärken!
Wo Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten. Die hochrangige Beteili- gung Russlands auf Föderationsebene sollte nicht den Blick dafür ver- stellen, dass sie die Repräsentanten der regionalen Ebene in diesen Schatten gestellt hat. Und es war bezeichnend, dass die Sicht der Re- gionen – sei es Kaliningrad, sei es St. Petersburg oder Karelien – hin- ter dem geballten Auftritt der Zentralmacht in den Hintergrund trat. Auch die Gebietsduma von St. Petersburg, nach den Gepflogenheiten der Ostseeparlamentarierkonferenz immerhin Mit-Gastgeber, konnte kaum in Erscheinung treten.
Es ist eine der großen Besonderheiten der Ostseeparlamentarierkon- ferenz, dass in ihr nationale und regionale Parlamente gleichberechtigt zusammenwirken. Aber in der Realität spielen nicht alle in derselben Klasse, und die ‚Bundesliga’ achtet in Russland noch sehr darauf, die Exklusivität ihres Clublebens zu bewahren. Ich widme diesem Aspekt deshalb breiteren Raum, weil ich gerade hierdurch die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit unserer parlamentarischen Partnerschaften bestä- tigt sehe. Unsere Kooperation mit der Gebietsduma von Kaliningrad ebenso wie mit dem Sejmik der Wojewodschaft Pommern ist geeignet, die regionale Dimension in der parlamentarischen Ostseekooperation insgesamt zu stärken. Dabei kann und sollte – nicht zuletzt mit Blick auf unseren russischen Partner – auch aufgezeigt werden, dass die Regionen keineswegs nur Sprachrohr und Lautverstärker für die föde- rale Ebene sind. Ihre Rolle in der Ostseezusammenarbeit ist eine an- dere: Es ist die regionale Ebene, die näher an den Menschen und nä- her an den Sachproblemen ist. Die Philosophie des ‚Bottom-up- approachs’, der Annäherung und des Wachsens von unten, ist das Fundament, auf dem die Zusammenarbeit im Ostseeraum gründet. Wenn diese Basis nicht überall stabilisiert wird, gerät die ganze Statik ins Wanken.

6. Kaliningrad im Mittelpunkt
Der langjährige Vertreter Russlands im Standing Committee der Ost- seeparlamentarierkonferenz, der frühere Kaliningrader Dumapräsident Wladimir Ustjugow, hat vor wenigen Wochen seinen Rücktritt von al- len politischen Ämtern erklärt. Er begründete seinen Rückzug als Ver- 5

treter Kaliningrads im Föderationsrat und sein damit verbundenes Ausscheiden als amtierender Vorsitzender des Standing Committee der Ostseeparlamentarierkonferenz in einem am 28. September veröf- fentlichten Zeitungsinterview mit folgenden Worten: „Der Hauptgrund für meinen Rücktritt ist, dass ich nicht bereit bin, Teil des Fiaskos zu sein, am 30. September der Ostseeparlamentarierkonferenz vorzusit- zen, auf deren Tagesordnung unter anderem das Kaliningrad-Problem steht. Wie könnte ich eine Konferenz leiten, wenn meine Lösungsvor- stellungen vollkommen anders sind als die der Regierung?“
In dem Interview nennt es Ustjugow einen gravierenden Fehler, das Kaliningrad-Problem auf einen einzigen Aspekt zu reduzieren, nämlich den visafreien Zugang. Die wichtigste Aufgabe, auf föderaler Ebene ein Entwicklungsprogramm für die Region Kaliningrad zu verabschie- den, sei noch nicht einmal in Ansätzen erfolgt. Moskau müsse seine eigene Politik gegenüber dem Kaliningrader Gebiet überhaupt erst einmal definieren und ihm einen legalen Status geben. Kaliningrad sei ideal geeignet, als Modell für die Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU zu dienen. Kaliningrad hätte unter diesen Bedingungen die Möglichkeit einer Sonderbehandlung nicht nur durch Russland, son- dern gleichermaßen durch die Europäische Union. Dies würde auch zu Lösungswegen im Zusammenhang mit Visa- und Transportfragen führen.
Meine Damen und Herren, ich zitiere aus dieser Auseinandersetzung deshalb ausführlicher, weil sie zum einen die Konfliktsituation zwi- schen der regionalen Ebene und der Zentralmacht in Russland auf- zeigt. Zum anderen beherrschte die Kaliningrad-Frage auch das The- ma der 11. Ostseeparlamentarierkonferenz über weite Strecken. Zu dem Entwurf der Schlussresolution, der auf einer schleswig- holsteinischen Vorlage an das Standing Committee basierte, hatte der Stellvertretende Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses der Russischen Duma, Konstantin Kosatschow, namens der russischen Delegation zahlreiche und gravierende Änderungsanträge einge- bracht. Im Kern ging es der russischen Seite darum, in dem die Kali- ningradfrage betreffenden Teil der Resolution lediglich die jüngste Ini- tiative von Präsident Putin hervorzuheben, einen visafreien Personen- und Güterverkehr zwischen Russland und der EU insgesamt einzufüh- ren. Alle anderen Verhandlungsschritte, darunter das von der EU- Kommission vorgeschlagene erleichterte Transitvisum für Kaliningrad, sollten keine Erwähnung finden. Dementsprechend las sich der russi- sche Änderungsvorschlag wie eine einzige Schuldzuweisung an die angebliche Verstocktheit der EU, nicht auf die russischen Vorstellun- gen einzugehen.
Die ruhige Bestimmtheit und Klarheit, mit der der Vertreter der amtie- renden EU-Ratsmacht, der dänische Botschafter Lars Vissing, diese Position zurechtrückte, waren beeindruckend. Ebenso erfreulich war die Geschlossenheit, mit der die Vertreter aller anderen Delegationen 6

im Redaktionskomitee die russischen Vorstellungen zurückwiesen.
7. Konsensualer Ausgang
Erfreulich war auch, dass durch Vermittlung der schleswig- holsteinischen Delegation eine Kompromissformulierung gefunden werden konnte – aber beileibe kein Formelkompromiss. Es wird Auf- gabe des EU-Russland-Gipfels im November in Kopenhagen sein, ei- ne Lösung zu finden, die neue Trennungslinien im Ostseeraum ver- hindert, darauf drängt in ihrer einstimmig verabschiedeten Schlussre- solution auch die BSPC. Das Fazit von St. Petersburg, meine Damen und Herren: Russland ist dabei. Die parlamentarische Zusammenarbeit im Ostseeraum ist kein Torso.
8. Ein Stück Geschichte
Kopenhagen wird demgemäß gleich zweimal im Mittelpunkt unseres Interesses stehen: Im November anlässlich des erwähnten EU- Russland-Gipfels, und einen Monat später, wenn der Europäische Rat in der dänischen Hauptstadt zusammentritt, um über die Erweiterung der Europäischen Union zu entscheiden. Auch wenn ich mich sonst eher einer unpathetischen Sprache bedie- ne, steht für mich fest: Bei diesen Treffen wird Geschichte geschrie- ben. Und wenn ich eingedenk des bekannten Goethe-Wortes hinzufü- ge, wir sind dabei gewesen, so ist das nicht einmal übertrieben.“



Herausgeber: Pressestelle des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Düsternbrooker Weg 70, 24105 Kiel, Postf. 7121, 24171 Kiel, Tel.: (0431) 988- Durchwahl -1163, -1121, -1120, -1117, -1116, Fax: (0431) 988-1119 V.i.S.d.P.: Dr. Joachim Köhler, Annette Wiese-Krukowska, E-Mail: Joachim.Koehler@landtag.ltsh.de Internet: www.sh-landtag.de – Presseinformationen per E-Mail abonnieren unter www.parlanet.de/presseticker