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15.06.01
10:19 Uhr
Landtag

Rede von Landtagspräsident Heinz-Werner Arens: "Die Bedeutung der Ostseekooperation im Post-Nizza-Prozess"

Die Bedeutung der Ostseekooperation im Post-Nizza-Prozess


Ansprache von Landtagspräsident Heinz-Werner Arens anlässlich des Europapoliti- schen Kongresses der Europa-Union Deutschland am 15. Juni 2001 in Kiel


I. Landtag und Europa-Union als Dialogpartner

Ich freue mich gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Schleswig- Holsteinischen Landtag über die Entscheidung der Europa-Union Deutschland, erneut einen „Kieler Kongress“ durchzuführen. Es gibt Bundeskongresse der Europa-Union, die aus Ihrer traditionellen Verbandsgeschichte nicht fortzudenken sind. Der Kieler Kon- gress von 1978 gehört dazu: 1978 - im Vorfeld der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament, verabschiedeten die Delegierten hier das „Kieler Programm für Europa“. Seine Forderungen waren da- mals richtungweisend und sind heute unverändert aktuell: Ein starkes, demokratisch legitimiertes Europäisches Parlament und eine handlungsfähige europäische Exekutive, föderalistische Grundsätze und vor allem das Bekenntnis zu Bürgerbeteiligung und Bür- gernähe als Leitideen.

Die Europa-Union Deutschland - nach damaligem Selbstverständnis eine „Bürgerinitiative für Europa“ - ist im heutigen Sprachgebrauch eine „NGO“, eine Nicht- Regierungsorganisation, die stets den Schulterschluss mit der parlamentarischen Seite gesucht und gefunden hat. Die zahlreichen Abgeordneten in Ihren Reihen bis hin zur Verbandsspitze verkörpern geradezu die parlamentarische Dimension des europäi- schen Mehrebenensystems. Ich sage das auch mit Blick auf Schleswig-Holstein. Sowohl der Landesverband der Europa-Union als auch die Europäische Bewegung Schleswig-Holstein sind immer wieder gern gesehene und geschätzte Gesprächspartner für unser Parlament und seine Abgeordneten, und ganz besonders für unseren Ausschuss für Europaangelegenheiten und Ostseekooperation. Die große Zahl von Abgeordneten in den eigenen Reihen ist im übrigen eine besonders geschickte und, wie wir wissen, auch sehr erfolgreiche Spielart des Lobbyismus. -2-


Ich sage das voller Anerkennung: Ohne die Europa-Union wäre das europäische Be- wusstsein in unserem Lande nicht so weit entwickelt. Und der über Jahre und inzwi- schen über Jahrzehnte gepflegte Dialog mit der Europa-Union hat seinen Anteil daran, dass ich mit Genugtuung feststellen kann: In seiner auf Europa gerichteten Orientierung, in seinem Bewusstsein von der Notwendigkeit grenzüberschreitender Zusammenarbeit und der Bedeutung transregionaler Kooperation braucht der Schleswig-Holsteinische Landtag keinen Vergleich zu scheuen.


II. Kieler-Woche-Tradition

Bedauerlicherweise verlassen Sie Kiel am morgigen Tag - ein Tag, an dem sich unsere Landeshauptstadt noch europäischer gibt als sonst im Jahr: zur Eröffnung der Kieler Woche. Es ist eine Tradition seit fast drei Jahrzehnten, dass der Schleswig-Holsteinische Landtag anlässlich der Kieler Woche Parlamentarier aus dem Ostseeraum in die Lan- deshauptstadt einlädt. Bis 1990 mussten wir uns bescheiden: Nur die Hälfte der Ost- see-Anrainerstaaten waren vertreten. Die Ostsee war kein Meer des Friedens. Sie war durch eine im wahren Sinne des Wortes mörderische Grenze geteilt. Wenige hundert Meter von hier, im Schifffahrtsmuseum am Ostseekai, ist neben zahlreichen anderen Exponaten ein U-bootähnlicher Eigenbau in Paddelbootgröße zu sehen, mit dem zwei junge Menschen aus Mecklenburg Mitte der achtziger Jahre nach Schleswig-Holstein fliehen wollten. Vergeblich - sie wurden gefasst, verurteilt und gelangten erst nach dem 9. November 1989 wieder in die Freiheit.

Für Schleswig-Holstein bedeutete das Ende der kommunistischen Zwangssysteme in Europa zu allererst, dass wir wieder zu unseren unmittelbaren Nachbarn, den Menschen in Mecklenburg und Vorpommern, Verbindung aufnehmen konnten. Vier Jahrzehnte - länger als eine Generation - war diese Verbindung unterbrochen gewesen. Damit rückte Schleswig-Holstein wieder aus seiner unnatürlichen Randlage heraus, die für Grenzge- biete auch immer große wirtschaftliche Nachteile mit sich bringt. Seit elf Jahren ist die- ser Zustand überwunden - nicht nur zwischen den beiden deutschen Bundesländern, sondern im gesamten Ostseeraum.

Das prägt seither auch das Bild der Kieler Woche. Es ist für mich jedes Mal wieder eine beglückende Situation, wenn ich seit 1990 zusätz- lich zu unseren nordischen Freunden Parlamentarier aus den baltischen Staaten, aus -3-

Polen und aus Russland begrüßen kann. Als Ostseeanrainer haben wir eine wache Er- innerung an die Geschehnisse auf der Danziger Werft, die zusammen mit den mutigen Aktionen von Bürgerrechtsgruppen in Prag und Budapest am Anfang der Freiheitsbe- wegungen in Mittel- und Osteuropa standen. Gerade in den Tagen der Kieler Woche wird für viele deutlich, auch für diejenigen, die nicht aktiv an der Ostseekooperation beteiligt sind: Hier im Ostseeraum wächst zu- sammen, was zusammengehört!


III. Osterweiterung und Bürgerwille

Es ist nur folgerichtig, dass in den Jahrzehnten der Teilung immer wieder - auch und insbesondere von der Europa-Union Deutschland - auf die Unvollständigkeit des dama- ligen West-Europa hingewiesen wurde.

Auch das war keine Selbstverständlichkeit. Man hatte sich hier in Westeuropa recht be- quem eingerichtet. Der Ruf nach Wiedervereinigung Deutschlands und ganz Europas gehörte zwar zum politischen Pflichtvokabular, aber das war es denn vielfach auch. Ich sage dies, weil die Bilder von vor Freude und Glück überwältigten Menschen, die sich nach Jahrzehnten der Trennung in den Armen lagen, für viele zwar unvergesslich blei- ben. Aber wir registrieren in zunehmendem Maße Halbherzigkeit und zum Teil auch Ablehnung, wenn es darum geht, die Konsequenzen aus den Geschehnissen zum Ende der achtziger Jahre zu ziehen. Von der Notwendigkeit der Osterweiterung der EU ist gerade einmal die Hälfte der EU-Bevölkerung überzeugt:

Die Iren haben aus den verschiedensten Gründen gegen den Nizza-Vertrag gestimmt. Der Vorgang ist symptomatisch dafür, dass den meisten Europäern die Brüsseler Poli- tik ein Buch mit sieben Siegeln ist. Die Iren haben den Vertrag von Nizza abgelehnt, ohne seinen Inhalt zu kennen, denn die Motive, die nun von Wahlanalysten als Grund für das geplatzte Referendum ausgemacht werden, haben mit den in Nizza ausgehandelten Kompromissen kaum etwas zu tun. Sie haben aber zum Beispiel etwas zu tun mit der Frage, wie es denn die großen - und ich meine damit die bevölkerungsreichen und wirtschaftlich starken - Staaten mit den Kleinen halten. Und da lässt sich schon einiges Kritische sagen. Das haben auch unse- re Nachbarn im Königreich Dänemark mit ihrem Nein zum Euro unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. -4-

Nach der Ernüchterung von Dublin kritisieren einzelne Politiker nun ihr Volk: „Das Er- gebnis zeigt die unglaubliche Ignoranz gegenüber politischen Themen in diesem Land. Es ist eine Ironie, dass das Land, das am meisten von Europa profitiert, den weniger privilegierten Ländern diese Chance verbaut“, wird Brendan McGahon von der größten Oppositionspartei Fine Gael zitiert. Eine solche „Bürgerschelte“ stellt die Dinge auf den Kopf.

Machen wir uns nichts vor: Das Nein ist keine irische oder dänische Spezialität. Für den positiven Ausgang eines Referendums bei uns würde auch niemand seine Hand ins Feuer legen wollen. Dem selbstkritischen Bekenntnis aus den Reihen der EU- Kommission ist zuzustimmen: Viele Bürger fühlen sich im fernen Europa nicht zu Hause. Dem muss vor allem die Politik Rechnung tragen, wenn der Beitritt der Staaten Mittel- und Osteuropas die Gemeinschaft dauerhaft stärken und nicht schwächen soll.


IV. Europa im Post-Nizza-Prozess

Es ist schon bemerkenswert, wie schwer sich Europa mit dem Friedens- und Freiheits- geschenk von 1989 tut: Der Post-Nizza-Prozess soll nun die Antwort geben. Post-Nizza- Prozess - wenn es einen Lehrstuhl für Technokratie gäbe, der Erfinder dieses Wort- monstrums hätte eine Ehren-Professur verdient! Post-Nizza-Prozess, ein solcher semantischer Kracher fordert doch geradezu den ge- sunden Menschenverstand zum Widerstand auf. Und zum Widerspruch gleichermaßen: Wer das Europa der Bürger auf seine Fahnen schreibt, der muss sich auch den Bürge- rinnen und Bürgern verständlich machen können!

Zugegeben: der europäische Einigungsprozess ist ein komplexer Sachverhalt. Aber dass es gelingen kann, auch schwierigste und anspruchsvollste Themen verständlich und begreifbar zu beschreiben, dafür gibt es ja Beispiele. Ich verweise auf die Europäi- sche Zeitung, weit mehr als nur ein Verbandsorgan. Ich nenne ganz bewusst ihr Präsidi- umsmitglied Professor Claus Schöndube, der in seinen Publikationen und in seinen Vorträgen den Verstand und die Herzen seiner Leser und Zuhörer gleichermaßen er- reicht.

Ist es denn wirklich so schwer, unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu sagen, worum es im Vorfeld der nächsten Regierungskonferenz geht? -5-

Es geht um die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union bei Wahrung ihrer Handlungsfähigkeit und um die Gewährleistung ihrer demokratischen Grundlagen. Es geht darum, dass sich die kleineren Staaten nicht von den Größeren über den Tisch gezogen fühlen. Es geht darum, dass den Menschen klar und deutlich gesagt wird, wo- hin die Reise geht und welche Zielvorstellung man mit dem ganzen Europa verbindet.

Wenn wir an dieser Stelle innehalten und den Blick noch einmal zurück auf den Kieler Kongress von 1978 richten, stellen wir fest: Es sind dieselben Grundforderungen, es sind dieselben Ziele wie damals. Sie sind unverändert gültig.

Aber: Vergessen wir auch nicht, was inzwischen alles auf den Weg gebracht worden ist: Die Einheitliche Europäische Akte, der Binnenmarkt, die Verträge von Maastricht und Amsterdam markieren große, markieren unaufhaltsame Fortschritte im europäischen Einigungsprozess. Und auch Nizza soll hier trotz aller berechtigten Kritik als Wegberei- ter der Osterweiterung nicht unerwähnt bleiben. Diese Erfolge, bitte vergessen wir das nicht, sind auch der Grund dafür, weshalb der Beitritt zur Europäischen Union für die anderen Staaten so attraktiv und so erstrebenswert ist. Ich sage das bewusst an die Adresse der Euroskeptiker aller Provenienz und verschiedenster Profession, die der spektakulären Negativmeldung huldigen, dabei aber die Banalität des Guten, die vielen unspektakulären Erfolge europäischer Zusammenarbeit, nicht im Blick haben und gern auch bewusst ignorieren.


v. Die Bedeutung der Ostseekooperation

Wo liegt in diesem Kontext die Bedeutung der Ostseekooperation?

Ihr Stellenwert im Post-Nizza-Prozess ist am ehesten wie folgt zu beschreiben: Wenn der Post-Nizza-Prozess mit der Erweiterungsfähigkeit der Union gleichzusetzen ist, so leistet die Ostseekooperation bereits im Vorwege ein Stück Implementierung. Im Ostseeraum, je nach dem, wie groß man ihn gedanklich schneidet, leben rund 100 Millionen Menschen. Ihnen, den Menschen, die hier leben, auch denen und vielleicht ge- rade den Menschen in den Ländern, die noch nicht zur Europäischen Union gehören, schulden wir eine klare Antwort, nach welchen Leitlinien und Ideen sich die Europäische Union entwickeln soll. Diese Diskussion ist ebenso notwendig wie die aktuellen Her- ausforderungen im Zuge der Osterweiterung - der Demokratisierungsprozess, der Auf- bau von Zivilgesellschaften sowie der Abbau des bestehenden West-Ostgefälles hin- sichtlich der Wirtschaftskraft und der sozialen Entwicklungsmöglichkeiten. -6-


Seitens der Europäischen Kommission wurde Ende 1997 aufgrund einer finnischen Initiative das Konzept der „Nördlichen Dimension“ als übergreifender Politikansatz für Nordeuropa vorgestellt. Die Nördliche Dimension ist inzwischen eine offizielle Politikli- nie der Europäischen Union. Insbesondere durch die gleichberechtigte Einbeziehung Russlands sowie der Beitrittsländer Polen, Estland, Lettland und Litauen ist die Initiative von gesamteuropäischer Bedeutung. Dabei wird dem Verhältnis der Europäischen Uni- on zu Russland in Zukunft eine Schlüsselrolle eingeräumt.

Damit spreche ich die aus meiner Sicht wichtigste Aufgabe der Ostseekooperation im Kontext der Osterweiterung an. Im Ostseeraum sind heute vier der Anrainerstaaten Mitglied der Europäischen Union: Deutschland, Dänemark, Schweden und Finnland. Polen, Estland, Lettland und Litauen haben Europa-Abkommen mit der EU unterzeichnet und streben die Mitgliedschaft an. Norwegen ist nicht Mitglied, aber über den Europäischen Wirtschaftsraum mit der EU verbunden. Bei dieser Konstellation wird die Rolle der Kooperation im Ostseeraum deutlich: Sie ist ein Bindeglied zwischen Mitglieds- und Nichtmitgliedsstaaten der Euro- päischen Union, und sie stellt vor allem eine Klammer zwischen Russland und den ande- ren Ostseestaaten dar.

Insoweit hat die Ostseekooperation eine Bedeutung für den Prozess der EU- Erweiterung und weist zum Teil darüber hinaus: In der noch stärkeren Einbeziehung Russlands liegt die größte künftige Herausforderung an die Zusammenarbeit im Ost- seeraum. Ohne sie bliebe die Ostseekooperation ein Torso, und ohne ein abschließend geklärtes Verhältnis der Beziehung zwischen Russland und der EU blieben für die Si- cherheit des europäischen Kontinents und für die wirtschaftliche Entwicklung ganz Eu- ropas zentrale Fragen offen.

Wir sollten das große östliche Nachbarland der erweiterten Europäischen Union nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit betrachten, sondern auch und vor allem mit Blick auf sein großes Wirtschafts-, Handels- und Wissenschaftspotential. Das alles kann aber nur nutzbar gemacht werden, wenn die politischen und gesellschaftlichen Verhält- nisse in Russland stabil und berechenbar bleiben. Die Zusammenarbeit im Ostseeraum hat in dieser Perspektive eine Dimension, die über Wirtschafts- und Handelsbeziehun- gen hinausweist. Sie ist auch eine Grundlage der Vertrauensbildung, die eine größere Annäherung Russlands an seine westlichen und nördlichen Nachbarn ermöglicht. Der immer noch spürbare Hang zur Selbstisolierung in der russischen Politik kann aus mei- ner Sicht am ehesten im Ostseeraum überwunden werden: Hier stehen nicht globale und zum Teil gegenläufige Interessen im Vordergrund, sondern ganz praktische Fragen -7-

der Raumkooperation, die die Lebensverhältnisse der Menschen in der Region spürbar verbessern können.

Diese Verknüpfung, das Denken und Arbeiten in transnationalen Netzwerken, ist die grundlegende Philosophie der Ostseekooperation. Es ist ein ganz pragmatischer Poli- tikansatz, der nur soviel Institutionalisierung anstrebt, wie es zum Funktionieren der in- ternationalen Kooperation erforderlich ist. Die Zusammenarbeit der Parlamente der Ostseeanrainerstaaten ist ein Beispiel dafür:

In der Ostseeparlamentarierkonferenz, Baltic Sea Parlamentary Conference - BSPC-, in der Schleswig-Holstein in diesem Jahr den Vorsitz hat, leisten alle nationalen und regio- nalen Parlamente auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung einen Beitrag dazu, dass der Norden und der Nordosten Europas auf vielen Politikfeldern immer enger zu- sammenarbeiten und konfliktfrei zusammenwachsen. Zu nennen sind die Verkehrsinfra- struktur, Energieversorgung, Informationstechnologie, schonender Umgang mit natürli- chen Ressourcen und der Umweltschutz. In den Küstenländern, und das wird auch von der Bundesebene anerkannt, sind ein erhebliches Wissen und viel Erfahrung über die Ostseeregion vorhanden. Und - ich füge aus eigener Erfahrung hinzu: auch manchmal mehr Interesse, die Dinge voranzubringen, als es auf der zentralstaatlichen Ebene der Fall ist.

Aus unserer Sicht liegt eine ideale Kooperation darin, dass die nationalen und die regi- onalen Ebenen im Ostseeraum intensiv zusammenarbeiten. Dazu gehört auch und vor allem, dass die wachsende Bedeutung der Regionen entsprechend wahrgenommen und respektiert wird. Ich betone dies, weil der Prozess der Regionalisierung kein Phä- nomen der Ostseeregion ist. Und das ist ebenso richtig wie wichtig: Es beklagen sich die Menschen zu Recht, dass Politik vielfach über ihre Köpfe hinweg gemacht wird, dass sie nicht hinreichend einbezogen werden.

Die sinnvolle Verteilung von Kompetenzen zwischen der zentralstaatlichen und der regi- onalen Ebene nach föderalem Muster ist sicher der beste Weg zu mehr Bürgerbeteilung und zu größerer Bürgernähe.


VI. Föderalismus als Leitidee

Bei allen historisch bedingten Gemeinsamkeiten - ich erinnere an die frühe Vision von Björn Engholm von einer neuen Hanse - ist die regionale und kulturelle Vielfalt des Ost- -8-

seeraumes ein verkleinertes Abbild des ganzen Europa. Diese Vielfalt ist ein Wert, den es zu bewahren gilt. Ich sage dies gerade auch mit Blick auf die Skeptiker hier bei uns, insbesondere aber auch bei unseren nördlichen Nachbarn. Ihre Befürchtung, sie würden ihre Identität, sie würden ihre Traditionen und überkommenen Eigenarten in Europa zu Markte tragen müssen, ist völlig unbegründet. Europa heißt Vielfalt, und das vereinte Europa ist ein Garant dieser Vielfalt. Das aber impliziert, das aber setzt voraus, dass sich seine Leitidee durchsetzt - die Leitidee des Föderalismus. Föderalismus ist mehr als ein staatliches Organisationsprinzip. Föderalismus ist auch ein gesellschaftliches Strukturprinzip. Es bedeutet nicht nur Verteilung und Dezentralisation staatlicher Macht auf der Grundlage abgegrenzter Zuständigkeiten. Föderalismus bedeutet ebenso die Solidarität von Groß und Klein, von wirtschaftlich leistungsfähigeren und schwächeren Einheiten, bedeutet Ausgleich regionaler Ungleichgewichte und den Schutz und die Wahrung der Rechte von Minderheiten.

Sie werden morgen mit einem der schönen Schiffe, die unsere Landeshauptstadt mit den Städten des Nordens verbinden, nach Göteborg fahren, dem Ort des unmittelbar bevorstehenden EU-Gipfels unter der schwedischen Ratspräsidentschaft. Zu dieser überlegten Regie und Strategie kann ich sie nur beglückwünschen. Als erfahrene Euro- pa-Kämpfer wissen Sie selbst, und unsere schleswig-holsteinischen Europafreunde haben hier ganz besondere Erfahrungen, wie schwer es ist, nordische Herzen für föde- ralistisches Gedankengut zu erwärmen. Historisch belastet sei dieser Begriff, heißt es. Die Union von Kalmar wird gern als Negativ-Beispiel genannt. Es ist kein semantisches, es ist ein historisches Missverständnis, dass im skandinavi- schen und im britischen Bewusstsein und Sprachgebrauch Föderalismus mit Zentralis- mus gleichgesetzt und abgelehnt wird.

Wenn aber Konsens darüber besteht, dass man keine zentralistische Machtausübung in Europa will, wenn die Stärkung des regionalen Elements, wenn sinnvolle Kompetenz- verteilung zwischen europäischer, nationaler und regionaler Ebene offensichtlich ganz oben auf der Wunschliste der Völker Europas stehen, so muss endlich mit diesem Missverständnis aufgeräumt werden.

Es ist ein großes Verdienst der Europa-Union Schleswig-Holstein und seit zehn Jahren auch ihrer Schwesterbewegung in Mecklenburg-Vorpommern, mit den früher Skandina- visch-Westeuropäischen, heute Nordeuropäischen Gesprächen in mehr als 30 Jahren die intellektuelle Auseinandersetzung und den Gedankenaustausch gerade auf diesem Gebiet im Ostseeraum gefördert zu haben. -9-

Ich kann Sie nur ermuntern, diesen Weg entschlossen weiterzugehen. Und scheuen Sie sich auch bei aller Rücksichtnahme auf Traditionen und Befindlichkeiten nicht, für Ihre europapolitische Position einzustehen: In allen Staaten der Gemeinschaft, aber ebenso in den Staaten, die über ihren Beitritt zur EU verhandeln, muss das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer europäischen Verfassungsdebatte geweckt werden. Es ist ja wahr, was Kommissionspräsident Romano Prodi sagt: Dem europäischen Einigungsprozess ist der Rote Faden abhanden gekommen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, bei der Erweiterungsdebatte ginge es lediglich um eine Reform der Strukturen und Institutionen der Gemeinschaft. Im Kern der Auseinandersetzung um die künftige Gestalt Europas steht vielmehr die Frage nach der europäischen Identität. Nur wer die Frage nach den eigentlichen Grundlagen der Zusammenarbeit, nach dem europäischen Selbstverständ- nis, beantwortet hat, kann auch Auskunft geben, was wir Europäer in Zukunft gemein- sam tun und wie wir unsere Zusammenarbeit organisieren wollen.

Das, meine Damen und Herren, ist der Kern des Post-Nizza-Prozesses: die Frage, wie Europa künftig verfasst sein soll.

Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, ich danke der Europa-Union Deutschland, dass Sie sich als Wegbereiter für die Anwendung dieser Prinzipien seit Jahrzehnten engagieren. Ihre Arbeit hat Früchte getragen. Aber - daran kann kein Zweifel sein: Es ist noch viel zu tun. Darum brauchen wir die Europa-Union als Bürgerinitiative, als NGO heute ebenso wie zur Zeit des ersten Kieler Kongresses. Sie können, meine Damen und Herren, auf diesem Weg mit der Unterstützung des Schleswig-Holsteinischen Landtages auch in Zukunft rechnen.