Grußwort von Landtagspräsident Heinz-Werner Arens zur Ausstellung im Jüdischen Museum in Rendsburg
D E R L A N D T A G SCHLESWIG - HOLSTEIN 141/2000 Kiel, 9. November 2000 Es gilt das gesprochene Wort ! Landtagspräsident Heinz-Werner Arens: „Jeder ist gefordert, in seinem Lebensumfeld Zivilcourage zu zeigen.“ Kiel (SHL) – Am heutigen Abend wird um 18:00 Uhr im Jüdischen Mu- seum in Rendsburg die Ausstellung „Was aus uns wird, bleibt ein Rät- sel“ eröffnet. Dabei spricht Landtagspräsident Heinz-Werner Arens ein Grußwort, dessen Wortlaut wir im folgenden wiedergeben:„Ich möchte die Chance zu Ihnen sprechen zu dürfen dazu nutzen, einen weiten Bogen zu schlagen - von der Vergangenheit über die Gegenwart und die Debatte über die „deutsche Leitkultur“ in die Zukunft.Ein solcher Bogen wirkt auf den ersten Blick überspannt. Bei einem zweiten, bei einem genauen Blick, ist aber eine klare Linie zu erkennen. Sie beginnt weit vor dem Dritten Reich, führt über das NS-Regime und die beiden deutschen Staaten bis in das wiedervereinigte Deutschland. Einige Historiker sprechen von einem deutschen Sonderweg, der die Gesellschaft bis heute mit prägt und manche De- batte in unserer Berliner Republik erklärt.Wie lässt sich diese Linie, wie lässt sich dieser Sonderweg beschreiben? Die Antworten auf diese Frage füllen ganze Bücher. Ich beschränke mich auf eine grobe Skizze der Sonderlinie. Im Gegensatz zu anderen Ländern war Deutsch- land eine verspätete Nation und das Kaiserreich ab 1871 eine Großmacht ohne Staatsidee. Eine Großmacht ohne demokratische Identität. Eine große Macht, in der Toleranz klein geschrieben wurde. Dies bekamen im Kaiserreich auch die Ju- den zu spüren. Ich denke an den Antisemitismus-Streit vor gut 120 Jahren in Ber- lin. Der „Zeit“-Autor Gustav Seibt nannte diesen Streit eine „künstliche Aufregung über die angeblich fehlende Anpassungsbereitschaft einer winzigen Minderheit“. 2Sie merken: Auch damals gab es in Deutschland schon eine Debatte, die unter dem Motto Leitkultur hätte stehen können.Der deutsche Sonderweg führte über den Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik in das Dritte Reich. Zwangsläufig war das aus meiner Sicht nicht. Ge- schichte ist kein Schicksal. Sie wird von Menschen gemacht. Und sie können auf einem Weg auch umkehren. In Deutschland marschierten viele voran und in die Katastrophe, die nicht vorherbestimmt aber vorgezeichnet war.Ich zitiere erneut Gustav Seibt: „Ohne diese Vorgeschichte hätten die Nationalso- zialisten ihren Kampf gegen die moderne Kunst, die Kirchen und die Juden nicht einmal anfangen können.“ Ich sehe das ähnlich. Deshalb war es mir wichtig, hier zumindest kurz auf die Vorgeschichte einzugehen. Auf die Vorgeschichte dessen, was hier in der Ausstellung zu sehen ist. Auf die Vorgeschichte der Emigration, Vertreibung und Flucht der Juden aus Schleswig-Holstein. Auf die Vorgeschichte des Massenmords und der Vernichtungslager.Aber selbst diese Vorgeschichte kann für mich nicht alles erklären. Die mörderi- sche Konsequenz, mit der wir Schleswig-Holsteiner das jüdische Leben in unse- rer Mitte ausgelöscht haben, ist erschreckend. Ich fühle Trauer. Ich fühle Wut. Und ich bin, obwohl ich mich sehr intensiv gerade mit diesem schrecklichsten Kapitel der Landesgeschichte beschäftigt habe, ich bin immer noch fassungslos.Die Geschichtswissenschaft hilft mir und anderen aber zumindest, das Grauen in größere Zusammenhänge einzuordnen und Linien zu ziehen. Zur Vorgeschichte habe ich etwas gesagt. Was fehlt, dass ist der Bogenschlag in die Gegenwart. Geschichte lässt sich nicht ausradieren, sie ist prägender als manche und gerade manche Deutsche wahrhaben wollen. Der Sonderweg endete denn auch nicht mit dem Tag der Befreiung, mit der zunächst angeordneten und erst langsam und spät gelebten Demokratie. Die Normalität, die sich heute in Deutschland auch ei- nige Politiker wünschen, eine solche Normalität kann es deshalb in absehbarer Zeit nicht geben.Der beste Beleg dafür ist der Streit um die deutsche Leitkultur. Die Erfinder tun sich schwer damit, weil dieser Begriff so missverstanden werden kann, dass er auf den Sonderweg und das NS-Regime hinweist und damit als Leitbild nicht taugt. Wie weit wir von einer Normalität entfernt sind, zeigt aber auch die Reaktion der Kritiker. Ihr Leitbild ist das Grundgesetz. Der Verfassungspatriotismus. Und 3damit eben nicht die gelebte sondern die gedruckte Demokratie. Noch deutlicher wird die Sonderlage Deutschlands, wenn man ins Ausland blickt. Nach Däne- mark, wo Toleranz Tradition hat. Nach Holland oder in die Schweiz, wo alte Frei- heitsideale die Nation in die Moderne leiten. Nach Frankreich, wo Revolution, Auf- klärung und Menschenrechte das Selbstverständnis prägen. Ich könnte weitere Beispiele nennen. Denken Sie an England. Oder an die USA. Denken Sie an diese oder andere Länder, die hier in der Ausstellung genannt werden. An Länder, die Juden auch aus Schleswig-Holstein aufnahmen.Ich denke, ich habe den Bogen aus der Vergangenheit in die Gegenwart geschla- gen. Die beiden wichtigsten Fragen sind damit aber noch nicht beantwortet. Ers- tens: Welche Lehren ziehen wir aus unserer besonderen Geschichte für die Zu- kunft? Und zweitens: Wie schaffen wir es, dass diese Lehren nicht nur entwickelt und diskutiert sondern in der Gesellschaft auch gelebt werden?Ich widme mich zunächst der ersten Frage, den Lehren aus der Geschichte. Über sie wird seit langem diskutiert und das oft auch kontrovers. Dabei ist allen eines klar. Die deutsche Geschichte darf sich nicht wiederholen. In den Gründungsjah- ren der Bundesrepublik klang dieses Bekenntnis zur Demokratie nicht immer glaubhaft. Heute ist das anders. In Deutschland hat sich die Demokratie bei aller Kritik am System, an Parteien und an Politikern - in Deutschland hat sich die De- mokratie erstmals in seiner Geschichte wirklich durchgesetzt. Und zwar nachhal- tig - um es modern zu formulieren.Wir Deutschen biegen damit von unserem Sonderweg auf die europäische Hauptstraße ein. Vor uns liegt aber eine Strecke, die gerade für uns ungleich schwieriger wird. Unsere historisch gesehen junge Demokratie wird in einem ra- santen Tempo eingebunden in europäische und sogar globale Strukturen. Der Nationalstaat erodiert und neue Formen staatlichen und gesellschaftlichen Zu- sammenlebens bilden sich heraus.In diesem tiefgreifenden Wandel sehe ich eine der größten Herausforderungen für die Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Wir Deutschen dürfen nicht wieder auf den alten Sonderweg zurückkehren und aus Angst vor der Mo- derne einen nationalen Salto rückwärts einlegen. Ich bin hier zuversichtlich und möchte daran erinnern, dass es jenseits der Debatte um eine deutsche Leitkultur jetzt erstmals ein breite Mehrheit gibt, die Deutschland als Einwanderungsland sieht. 4Das ist ein erster Schritt. Und um die Frage nach den Lehren aus der Geschichte aus meiner Sicht zu beantworten. Wir müssen den Grundkonsens in unserer Ge- sellschaft, dass sich die deutsche Geschichte nicht wiederholen darf, endlich po- sitiv formulieren. Wir müssen also darüber diskutieren, wie wir mit den anderen demokratischen Staaten unseren gemeinsamen Weg abstecken und wie wir alle Menschen auf dieser Reise mitnehmen. Diese Lehre ziehe ich aus der deutschen Geschichte.Offen ist jetzt noch die zweite wichtige Frage, die der Umsetzung der Lehren. Ich muss nicht weit ausholen, sondern kann auf die Ausstellung hier verweisen. Sie rüttelt auf und jede ihrer 35 Etappen beleuchtet zum Teil erstmals einen ganz be- stimmten Abschnitt des deutschen Sonderweges. Und zwar nicht anonym - son- dern mit Blick auf das persönliche Schicksal von Juden in Schleswig-Holstein.Ich halte das Konzept für richtig. Aufgrund des Ausmaßes des nationalsozialisti- schen Terror-Regimes übersteigen die Mordzahlen das menschlichen Fassungs- vermögen. Sie erleichtern damit die Flucht in die Unverbindlichkeit und tragen da- zu bei, das wichtigste zu vergessen - dass hinter jeder anonymen Zahl ein Mensch steht, der hier in Schleswig-Holstein lebte. Ich glaube, das die Ausstellung dank dieser Konzeption sehr viele Besucher erreicht und sie zum Nachdenken angeregt. Auch zum Nachdenken über Lehren aus der Geschichte.Warum das heute in besonderem Maß nötig ist, muss ich Ihnen nicht erklären. Die widerliche Serie rechtsextremistischer Gewalttaten reißt nicht ab. Und es fällt mir schwer, dies hier am 9. November und damit dem 62. Jahrestag der Pogrom- nacht hier zu sagen. Aber es ist keine zwei Monate her, dass an zwei Samstagen jeweils mehrere hundert Neo-Nazis durch Neumünster marschierten und ihre Pa- rolen grölten. Das war widerlich. Um so erfreulicher war es, dass an den gleichen Tagen mehr Menschen gegen den braunen Spuk demonstrierten. Und - da kann man gewiss geteilter Meinung sein - ich werte es auch als Erfolg, dass der Rechtsstaat in Neumünster keine Sonderrechte gegen Rechtsextremisten zuge- lassen hat. Für mich ist das ein weiterer Beleg, dass unsere Demokratie gefestigt ist.Ausstellungen wie diese hier werden kaum einen der Skinheads von ihrem hirnlo- sen Treiben abbringen. Aber ich bin sicher, dass die Bilder und Berichte hier im Jüdischen Museum so manchem Schüler, der mitläuft oder dabei steht, einen An- 5stoß geben. So wie es in Neustadt gelang. Dort wurde im Juli eine Wanderaus- stellung zur Räumung des KZ Neuengamme eröffnet. Auch dieser schreckliche Abschnitt des Sonderweges lag bis dahin im Dunkeln.Ich könnte jetzt noch eine Reihe weiterer Ausstellungen und vor allem viele Schü- ler-Initiativen zur regionalen NS-Geschichte vorstellen. Ich belasse es bei der er- freulichen Feststellung, dass die nach der Befreiung mancherorts verdrängte Mit- verantwortung und Mitschuld für die Verbrechen gerade in den vergangenen Jah- ren verstärkt aufgearbeitet werden. Das lässt hoffen - auch für die Zukunft. Gefor- dert sind aber nicht nur die Historiker. Gefordert ist die gesamte Gesellschaft, der Arbeitgeber ebenso wie der Arbeitnehmer, der Vorsitzende des Sportvereins e- benso wie der Ausbilder bei der Bundeswehr, die Eltern ebenso wie die Schule und die Politik. Jeder ist gefordert, seine Lehre aus der Geschichte zu ziehen, sie für sich umzusetzen und in seinem Lebensumfeld Zivilcourage zu zeigen. Und zwar dann, wenn Menschen wegen ihres Glaubens, ihrer Hautfarbe oder aus ir- gendeinem anderen Grund ausgegrenzt oder sogar bedroht werden.Die Ausstellung eröffnen und meine Rede beschließen möchte ich mit zwei Sät- zen aus einer Resolution, die der Landtag vor kurzem einstimmig verabschiedet hat. Ich zitiere: „Toleranz gegenüber Andersdenkenden ist ein zentraler Bestand- teil unserer Demokratie. Toleranz gegenüber Intoleranz darf und wird es nicht ge- ben.““Herausgeber: Pressestelle des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Düsternbrooker Weg 70, 24105 Kiel, Postf. 7121, 24171 Kiel, Tel.: (0431) 988- Durchwahl -1163, -1121, -1120, -1117, -1116, Fax: (0431) 988-1119 V.i.S.d.P.: Dr. Joachim Köhler, E-Mail: Joachim.Koehler@ltsh.landsh.de. Internet: http://www.sh-landtag.de