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§ 66

Ordnungsruf

(1) Wenn eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter die Ordnung verletzt, wird sie oder er von der Präsidentin oder dem Präsidenten „zur Ordnung“ gerufen. Ist der Präsidentin oder dem Präsidenten eine Ordnungsverletzung entgangen, so kann sie oder er diese Ordnungsverletzung in der nächsten Sitzung erwähnen und gegebenenfalls rügen.

(2) Die oder der Abgeordnete kann hiergegen spätestens bis zum folgenden Werktag bei der Präsidentin oder dem Präsidenten schriftlich Einspruch erheben.

(3) Der Einspruch ist auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung zu setzen. Der Landtag entscheidet ohne Beratung, ob der Ordnungsruf gerechtfertigt war.

Kommentar

Im Rahmen der in §§ 65 bis 70 aufgezählten Ordnungsmaßnahmen nicht erwähnt werden informelle Ermahnungen oder Rügen, deren Zulässigkeit gleichwohl unbestritten ist: Die Ermahnung ist eine gegenüber den förmlichen Ordnungsmitteln mildere, nicht an eine bestimmte Form gebundene Maßnahme, zu der etwa dann gegriffen werden kann, wenn das Verhalten eines Abgeordneten eine der in den §§ 65 ff. genannten Reaktionen noch nicht rechtfertigt (vgl. Blum, in: Morlok/Schliesky/Wie­felspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 21 RN 25).

1. Adressaten eines Ordnungsrufs

Wenn eine Verletzung der Ordnung so schwerwiegend ist, dass sie die Erteilung eines förmlichen Ordnungsrufs rechtfertigt, können Adressaten eines solchen Ordnungsrufs nach dem Wortlaut des Absatz 1 nur Abgeordnete sein. Trotz dieser an sich klaren Begrenzung des Adressatenkreises ergeben sich Probleme dann, wenn es um die Wertung des Verhaltens eines Mitglieds der Landesregierung geht, das zugleich Mitglied des Landtags ist. Ergreift ein solches Mitglied der Landesregierung ausdrücklich in seiner Eigenschaft als Abgeordnete oder Abgeordneter das Wort, so ist davon auszugehen, dass es in dieser Eigenschaft auch der Disziplinargewalt der amtierenden Präsidentin oder des amtierenden Präsidenten unterliegt. Eine andere rechtliche Situation ist gegeben, wenn diese Voraussetzung nicht vorliegt. Gegenüber einem Mitglied der Landesregierung entfaltet die Geschäftsordnung keine Bindungswirkungen mit der Folge, dass auch § 66 insoweit keine Anwendung finden kann. Da indessen auch ein Mitglied der Landesregierung bezogen auf sein Verhalten im Landtag bestimmte rechtliche Grenzen zu beachten hat (vgl. Erl. 1 zu § 65), hat die Präsidentin oder der Präsident in diesem Fall die Möglichkeit, eine Ermahnung auszusprechen. Das kann etwa in der Weise geschehen, dass die Präsidentin oder der Präsident eine Ordnungsverletzung feststellt und darauf hinweist, dass die Äußerung, wäre sie von einer oder einem Abgeordneten gemacht worden, mit einem Ordnungsruf geahndet worden wäre (vgl. hierzu Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis, Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, Vorbem. zu §§ 36-41 GO-BT, Erl. 2. b).

2. Sachliche Voraussetzungen für die Erteilung eines Ordnungsrufs

2.1  Materiell setzt ein Ordnungsruf nach Absatz 1 voraus, dass eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter „die Ordnung verletzt“ (Satz 1). Was darunter zu verstehen ist, sagt die Geschäftsordnung nicht. Unbestritten ist, dass nicht nur verbale Äußerungen erfasst werden; relevant sein können darüber hinaus auch sonstige Verhaltensweisen, wie etwa unparlamentarische Gesten.

Zu berücksichtigen ist, dass Ordnungsrufe und Wortentziehungen regelmäßig einen Eingriff in das verfassungsrechtlich durch Artikel 17 LV verbürgte Rederecht der Abgeordneten darstellen (vgl. LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 17. Mai 2017, Az.: LVerfG 1/17, RN 28, 38). Der Schutzbereich des Rederechts der Abgeordneten umfasst dabei sämtliche Wortbeiträge im Plenum, und zwar unabhängig von deren Einstufung als Debattenbeiträge (§ 56), persönliche Bemerkungen (§ 55) oder Erklärungen zum Abstimmungsverhalten (§ 64 Abs. 2). Auch Zwischenrufe sind vom Rederecht der Abgeordneten gedeckt (vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, Az.: Vf. 35-I-11, RN 23). Das Landesverfassungsgericht betont dabei die „hohe Bedeutung des derart geschützten parlamentarischen Rederechts (…) für die Abgeordneten der Opposition“ (vgl. Artikel 18 Abs. 1 LV). Das dort benannte Recht der Opposition, Vorstellungen und Entscheidungen der die Regierung tragenden Mehrheit öffentlich im Plenum zu beurteilen, zu bewerten und zu kritisieren, wirke sich schutzbereichsverstärkend aus und sei daher bei der Auslegung der Redeordnung besonders zu beachten (LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 17. Mai 2017, Az.: LVerfG 1/17, RN 36).

Da es eines Ausgleichs mit anderen, gleichrangigen Verfassungsgütern, wie insbesondere dem Rederecht der anderen Abgeordneten, der Funktionsfähigkeit des Parlaments und geschützten Rechtsgütern Dritter bedarf, kann das Rederecht der Abgeordneten aus Artikel 17 LV allerdings eingeschränkt werden (LVerfG Schleswig-Holstein, aaO., RN 41). Hierher gehören nach Maßgabe der Geschäftsordnungsautonomie des Landtages auch die Ordnungsbestimmungen aus §§ 66 ff. Eine den Eingriff in das Rederecht der Abgeordneten rechtfertigende Verletzung der Ordnung liegt dann vor, wenn „gegen die parlamentarische Ordnung durch Äußerungen oder Handlungen, die den parlamentarischen Regeln widersprechen und das Ansehen des Parlaments zu schädigen geeignet sind, verstoßen wird“ (LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 23. Januar 2014, Az.: 3/13, RN 32). Dem Begriff unterfallen „nicht nur geschriebene und ungeschriebene Regeln des Parlamentsrechts, sondern auch außerrechtliche Normierungen wie etwa der Parlamentsbrauch“ (LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, aaO., RN 38). Hierher gehört auch die Regel, dass man das Ansehen und die Autorität der Sitzungspräsidentin oder des Sitzungspräsidenten nicht dadurch in Mitleidenschaft zieht, dass man die Verhandlungsführung in einer Plenarsitzung beanstandet (LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, aaO., RN 39; vgl. auch VerfGH Sachsen, Beschluss vom 10. Dezember 2012, Az.: Vf. 85-I-12, RN 20). Daher ist ein Ordnungsruf gegen diejenige oder denjenigen gerechtfertigt, die oder der während einer Plenartagung Kritik am Sitzungspräsidium übt. Die Parlamentsmitglieder sind verpflichtet, Anweisungen der Sitzungspräsidentin oder des Sitzungspräsidenten Folge zu leisten (VerfGH Sachsen, Beschluss vom 22. Juni 2012, Az.: Vf. 58-I-12, RN 34). Augenmaß ist jedoch geboten, wenn die Kritik sachlich und angemessen vorgetragen wird und die parlamentarische Arbeit nicht stört (vgl. VerfGH Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Juli 2019, Az.: 1 GR 1/19, 2/19).

Die Auslegung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe und ihre Anwendung sind in erster Linie Sache der Sitzungspräsidentin oder des Sitzungspräsidenten und des Parlaments. Die Verfassungsrechtsprechung billigt ihnen dabei einen erheblichen, vom Gericht zu respektierenden Beurteilungsspielraum zu (vgl. LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 17. Mai 2017, Az.: LVerfG 1/17, RN 43). Gleichzeitig unterliegen die Sitzungspräsidentinnen und Sitzungspräsidenten bei der Anwendung dieser Ordnungsbestimmungen aber einer strengen parteipolitischen Neutralitätspflicht (LVerfG Schleswig-Holstein, aaO., RN 43).

2.2  Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung legt einen unterschiedlichen Prüfungsmaßstab an, je nachdem, ob sich ein Ordnungsruf auf das Verhalten eines Abgeordneten oder den Inhalt einer Äußerung bezieht. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle durch das Landesverfassungsgericht fällt umso intensiver aus, je deutlicher eine Maßnahme auf den Inhalt einer Äußerung reagiert (LVerfG Schleswig-Holstein, aaO., RN 46).

2.3  Wenn die jeweilige Maßnahme ausschließlich an das Verhalten der oder des Abgeordneten anknüpft, prüft das Landesverfassungsgericht lediglich,

  • ob der Präsidentin oder dem Präsidenten bei der Entscheidung alle relevanten Tatsachen bekannt waren,
  • ob die Bewertung des Verhaltens gemessen an der sonstigen Parlamentspraxis dem Gleichheitssatz genügt,
  • ob die Maßnahme im Übrigen nicht offensichtlich fehlerhaft oder willkürlich erscheint und
  • ob – auf der Rechtsfolgenseite – die von der Präsidentin oder dem Präsidenten vorgenommene Auswahl unter verschiedenen zur Verfügung stehenden Ordnungsmitteln zumindest vertretbar erscheint (LVerfG Schleswig-Holstein, aaO., RN 47).

Ein Verhaltensordnungsruf kann sich auch auf eine Äußerung beziehen, soweit damit nicht der Inhalt der Meinungsäußerung des betroffenen Abgeordneten berührt wird. Denn „(d)as Parlament ist berechtigt, seine Mitglieder durch Verhaltensregeln auch auf die Wahrung der Würde des Landtages im Sinne eines von gegenseitigem Respekt getragenen Diskurses zu verpflichten. Es darf deshalb Verstöße sanktionieren, wo es diese Würde gefährdet oder verletzt sieht, etwa weil das Verhalten eines Abgeordneten erkennen lässt, dass er den für eine sachbezogene Arbeit notwendigen Respekt gegenüber den übrigen Parlamentariern oder der Sitzungsleitung vermissen lässt und damit zwangsläufig auch das Ansehen des Hauses nach außen beschädigt“ (LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 27. Januar 2011, Az.: 4/09, RN 31 – bezogen auf eine von mangelndem Respekt zeugende Anrede der Präsidentin und der übrigen Abgeordneten zu Beginn eines Debattenbeitrags).

An das Verhalten anknüpfende Ordnungsmaßnahmen können, neben der bereits angesprochenen Kritik am Sitzungspräsidium oder der Nichtbefolgung von Anweisungen des Sitzungspräsidiums, u. a. gerechtfertigt sein bei Beleidigungen oder sonstigen strafbaren Handlungen, andauernden Störungen der Beratungen, Werfen von Papierschwalben oder sonstigen die Würde des Parlaments störenden Verhaltensweisen (vgl. auch Ritzel/Bücker/Schreiner, aaO., Vorbem. zu §§ 36-41 GO-BT, Erl. 1. c).

2.4  Bezieht sich die Maßnahme (auch) auf eine inhaltliche Aussage, prüft das Landesverfassungsgericht darüber hinaus, ob tatsächlich gleichrangige Rechtsgüter von Verfassungsrang verletzt oder gefährdet waren, was allein eine Sanktionierung inhaltlicher Aussagen rechtfertigen könnte (LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 17. Mai 2017, Az.: LVerfG 1/17, RN 48). Als gegen das Recht der freien Rede aus Artikel 17 LV abzuwägende Rechtsgüter kommen in Betracht

  • Rechte anderer Verfassungsorgane,
  • Rechte Dritter oder
  • Interessen der Allgemeinheit mit Verfassungsrang.

Was eine auch noch so deutliche Parlamentsmehrheit für politisch akzeptabel hält, ist dagegen nicht maßgeblich für das, was eine Minderheit zur Verteidigung ihres Standpunktes vorbringen darf (vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015, Az.: 10/14, RN 131).

Insbesondere Redebeiträge, die den Tatbestand von Straftaten (bspw. Beleidigung oder Volksverhetzung) oder Ordnungswidrigkeiten erfüllen, können – unabhängig vom Indemnitätsschutz (Artikel 31 Abs. 1 LV) – Ordnungsmaßnahmen durch die Sitzungspräsidentin oder den Sitzungspräsidenten rechtfertigen. Dabei bedarf es einer Abwägung zwischen dem zu schützenden Rechtsgut und dem Recht der oder des Abgeordneten aus Artikel 17 LV im jeweiligen Einzelfall. Je gewichtiger die von der oder dem Abgeordneten thematisierten Fragen für das Parlament und die Öffentlichkeit sind und je intensiver die politische Auseinandersetzung geführt wird, desto eher räumt das Landesverfassungsgericht dem Recht der freien Rede Vorrang ein. Zudem sind in der parlamentarischen Auseinandersetzung überspitzte und polemische Formulierungen in einem gewissen Maße hinzunehmen (LVerfG Schleswig-Holstein, aaO., RN 49).

Die Grenze wird jedenfalls erreicht, wenn in einem Redebeitrag ein Angriff auf die Menschenwürde zu erblicken ist. Dies ist „(erst) im Falle der Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung oder sonstiger Verhaltensweisen anzunehmen (…), die dem Betroffenen seinen Achtungsanspruch als Mensch absprechen“ (LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015, Az.: 10/14, RN 128). Für das Überschreiten dieser Grenze spricht, wenn Ziel einer Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern allein die Verächtlichmachung eines anderen oder eine bloße Provokation ist (LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 23. Januar 2014, Az.: 4/13, RN 53; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010, Az.: Vf. 77-I-10, RN 36). Bei Redebeiträgen im Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen ist zudem eine Gesamtbetrachtung notwendig, die neben dem verwendeten Begriff auch den Gegenstand der Debatte und den weiteren Zusammenhang der Äußerung berücksichtigt (VerfGH Sachsen, Urteil vom 30. September 2014, Az.: Vf. 48-I-13, RN 34). Eine Ordnungsmaßnahme darf nicht auf eine Deutung gestützt werden, die diese Maßnahme rechtfertigt, wenn auch andere Deutungen möglich sind (VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, Az.: Vf. 30-I-11, RN 32).

Das LVerfG Mecklenburg-Vorpommern sieht Ordnungsmaßnahmen bereits zur Verhinderung der Begehung von Straftaten nach § 130 StGB (Volksverhetzung) als gerechtfertigt an, „(d)a die parlamentarische Ordnungsgewalt die Erhaltung oder Wiederherstellung der Voraussetzungen einer fruchtbaren parlamentarischen Arbeit gerade auch im Sinne einer präventiven Zwecksetzung beinhaltet“, und billigt der Sitzungspräsidentin bzw. dem Sitzungspräsidenten zu, „hierbei eine im Rahmen des ihr eingeräumten Beurteilungsspielraums liegende Prognose über eine Gefährdung zu stellen“ (Beschluss vom 25. März 2010, Az.: 3/09, RN 63).

Die Praxis der Erteilung von Ordnungsrufen im Schleswig-Holsteinischen Landtag hat sich – entsprechend den allgemeinen Sitten – gewandelt. Zur früheren Praxis (bis 1999) wird auf die im Anschluss an Erläuterung 5 abgedruckte Zusammenstellung verwiesen. Gegenwärtig wird abredegemäß so verfahren, dass auch in in heftiger Weise geführte Sachdebatten grundsätzlich nicht eingegriffen wird. Die Erteilung von Ordnungsrufen kommt daher nur noch äußerst selten vor. In aller Regel erweist sich eine Ermahnung oder informelle Rüge der amtierenden Präsidentin oder des amtierenden Präsidenten als ausreichend, um die Ordnung zu wahren.

3. Form und Zeitpunkt des Ordnungsrufs

Der Ordnungsruf muss so formuliert werden, dass er sich eindeutig von einer bloßen Ermahnung unterscheiden lässt. Er muss daher zumindest den Begriff „Ordnung“ enthalten (BVerfGE 60, 374, 381); ist das nicht der Fall, liegt nur eine Rüge oder eine andere nichtförmliche Ermahnung, Beanstandung oder Missbilligung vor (Bücker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 34 RN 24).

Der Ordnungsruf gemäß Absatz 1 Satz 1 ist eine Reaktion, die sich unmittelbar an das ordnungswidrige Verhalten der oder des Abgeordneten anschließt. Durch eine derartige „Sofortmaßnahme“ kann die verletzte Ordnung am ehesten wiederhergestellt und eine Wiederholung der Verletzung vermieden werden (Ritzel/Bücker/ Schreiner, aaO., § 36 GO-BT, Erl. 2. i). Die amtierende Präsidentin oder der amtierende Präsident hat jedoch die Möglichkeit, sich die abschließende Prüfung eines möglicherweise ordnungswidrigen Verhaltens bis zur Verfügbarkeit der stenographischen Aufnahme oder der Aufzeichnung auf Tonträger vorzubehalten (vgl. Troßmann, aaO., § 40 GO-BT, RN 16; Ritzel/Bücker/Schreiner, aaO., § 36 GO-BT, Erl. 2 h, i).

Die enge zeitliche Bindung wird durch Absatz 1 Satz 2 für den Fall gelockert, dass der Präsidentin oder dem Präsidenten eine Ordnungsverletzung zunächst entgangen ist; liegt diese Voraussetzung vor, so kann die Ordnungsverletzung auch noch in der nächsten Sitzung erwähnt und gegebenenfalls gerügt werden. Dabei umfasst der Begriff der Rüge in diesem Zusammenhang sowohl die bloße Beanstandung ohne förmlichen Ordnungsruf als auch die Erteilung eines Ordnungsrufs (Troßmann, aaO., § 40 GO-BT, RN 17, und § 120 GO-BT, RN 4; Troßmann/Roll, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, Ergänzungsband, 1981, § 119 GO-BT, RN 3).

4. Entscheidungsspielraum der Präsidentin oder des Präsidenten

Die „Ordnungsverletzung“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der amtierenden Präsidentin oder dem amtierenden Präsidenten einen Beurteilungsspielraum einräumt (Ritzel/Bücker/Schreiner, aaO., § 36 GO-BT, Erl. 2. b). Kommt diese oder dieser zu dem Ergebnis, dass das Verhalten einer oder eines Abgeordneten als Ordnungsverletzung zu qualifizieren ist, so muss ein Ordnungsruf erteilt werden, wenn die Ordnungsverletzung sogleich erkannt worden ist (Absatz 1 Satz 1). Allerdings kommt im Falle einer geringfügigen Ordnungsverletzung auch eine informelle Ermahnung oder Rüge in Betracht.

§ 66 Abs. 1 regelt nicht ausdrücklich, dass ein Ordnungsruf zu begründen wäre. Dies ist indes in jedem Fall angezeigt, auch wenn die Anforderungen an eine solche Begründung in einer laufenden Sitzung nicht überspannt werden dürfen. Die oder der betroffene Abgeordnete muss aber zumindest erkennen können, warum ein Ordnungsruf erteilt wird (vgl. auch VerfGH BW, Urteil vom 30. April 2021, Az.: 1 GR 82/20).

Ist der Sitzungspräsidentin oder dem Sitzungspräsidenten im Falle des Absatzes 1 Satz 2 eine Ordnungsverletzung zunächst entgangen, liegt die Entscheidung über die Ergreifung einer Ordnungsmaßnahme in ihrem oder seinem pflichtgemäßen Ermessen. Sie oder er kann also bei einer Ordnungsverletzung von geringem Gewicht auf eine nachträgliche Reaktion verzichten oder es bei einer nichtförmlichen Ermahnung bewenden lassen.

5. Weitere Behandlung des Ordnungsrufs und Rechtsbehelfe

Obwohl § 66 eine § 36 Satz 3 GO-BT entsprechende Regelung („Der Ordnungsruf und der Anlass hierzu dürfen von den nachfolgenden Rednern nicht behandelt werden.“) nicht enthält, ist davon auszugehen, dass auch im Landtag beim Ordnungsruf eine Diskussion über die erfolgte Beanstandung nicht stattfindet. Für diese Ansicht spricht insbesondere Absatz 2: Wenn dort der oder dem betroffenen Abgeordneten das Recht eingeräumt wird, gegen den Ordnungsruf Einspruch zu erheben, so ist diese Regelung dahin zu verstehen, dass das Einspruchsrecht die einzig zulässige Reaktion auf den Ordnungsruf darstellt. Weder das betroffene Mitglied noch andere Abgeordnete dürfen daher zum Ordnungsruf selbst oder zum Anlass für diese Maßnahme vor dem Plenum Stellung nehmen. Damit wird vermieden, dass während einer laufenden Sitzung Kritik am Sitzungspräsidium geäußert wird. Richtiger Ort für entsprechende Erörterungen ist der Ältestenrat.

Der Einspruch gegen den Ordnungsruf muss gemäß Absatz 2 schriftlich und spätestens bis zum folgenden Werktag bei der Präsidentin oder dem Präsidenten erhoben werden. „Folgender Werktag“ ist derjenige Werktag, der auf den Tag folgt, an dem der Ordnungsruf erteilt wurde. Die Einspruchsfrist ist eine Ausschlussfrist, d. h. von dem Rechtsbehelf kann nur innerhalb dieser Frist Gebrauch gemacht werden; eine Fristverlängerung oder eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gibt es nicht (vgl. aber auch § 75). Das Gebot der Schriftlichkeit ist jedenfalls dann erfüllt, wenn der Einspruch von der oder dem durch den Ordnungsruf betroffenen Abgeordneten eigenhändig durch Namensunterschrift unterzeichnet worden ist (vgl. § 126 Abs. 1 BGB). Eine Pflicht zur Begründung enthält Absatz 2 – im Gegensatz zu § 39 Satz 1 GO-BT – nicht. Es erscheint indessen zweckmäßig, dem Landtag, der nach Absatz 3 über den Einspruch zu entscheiden hat, diejenigen Erwägungen mitzuteilen, die die betroffene Abgeordnete oder den betroffenen Abgeordneten zur Einlegung des Einspruchs bewogen haben.

Anders als beim Einspruch gegen die Ausschließung von Abgeordneten (vgl. § 68 Abs. 2 Satz 3) sieht die Geschäftsordnung nicht vor, dass die Präsidentin oder der Präsident dem Einspruch gegen einen Ordnungsruf abhelfen kann. Sachliche Gründe für eine insoweit unterschiedliche Behandlung der beiden Fälle sind aber nicht erkennbar. Man wird daher Absatz 3 ergänzend dahin auslegen müssen, dass es einer Entscheidung des Landtags nicht bedarf, wenn die Präsidentin oder der Präsident dem Einspruch stattgibt. Hilft die Präsidentin oder der Präsident einem Einspruch ab und nimmt damit den erteilten Ordnungsruf zurück, so ist sie oder er verpflichtet, dies dem Landtag als dem an sich zur Entscheidung über den Einspruch berufenen Organ in der nächsten Sitzung mitzuteilen.

Der Einspruch, dem nicht abgeholfen wurde, wird als Drucksache verteilt, um die Abgeordneten über den entscheidungsrelevanten Sachverhalt zu unterrichten. Er ist auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung zu setzen (Absatz 3 Satz 1); hierzu ist die Präsidentin oder der Präsident verpflichtet; weder Plenum noch Ältestenrat haben insofern eine Dispositionsbefugnis (Ritzel/Bücker/Schreiner, aaO., § 39 GO-BT, Erl. 3. d). „Nächste Sitzung“ ist die dem Ablauf der Einspruchsfrist folgende Sitzung; über den Einspruch gegen einen am zweiten Sitzungstag einer dreitägigen Tagung erteilten Ordnungsruf ist also in der ersten Sitzung der nächsten Tagung zu entscheiden. Der Landtag trifft seine Entscheidung, ob der Ordnungsruf gerechtfertigt war, ohne Beratung (Absatz 3 Satz 2). Es findet also keine Aussprache, sondern lediglich eine Abstimmung statt. Der Landtag kann dem Einspruch nur stattgeben oder ihn zurückweisen, nicht aber die Ordnungsmaßnahme abändern. Eine Vertagung oder eine Ausschussüberweisung ist ebenfalls unzulässig. Da Absatz 3 lediglich ein Verbot der Beratung über die Zulässigkeit und/oder Zweckmäßigkeit eines Ordnungsrufs normiert, steht einer Geschäftsordnungsdebatte etwa über die Frage, ob der Einspruch fristgemäß eingelegt worden ist, nichts entgegen (Ritzel/Bücker/Schreiner, aaO., § 39 GO-BT, Erl. 3. e; Troßmann, aaO., § 43 GO-BT, RN 10).

Die Erteilung eines Ordnungsrufes kann durch die betroffene Abgeordnete oder den betroffenen Abgeordneten der verfassungsgerichtlichen Überprüfung im Wege eines Organstreitverfahrens nach Artikel 51 Abs. 2 Nr. 1 LV zugeführt werden (vgl. LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 17. Mai 2017, Az.: LVerfG 1/17). Dabei besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur vergleichbaren Rechtslage im Bund das Rechtsschutzbedürfnis für einen solchen Antrag nur dann, wenn zuvor ein Einspruchsverfahren erfolglos durchgeführt worden ist (BVerfGE 152, 35).

Zu weiteren möglichen Folgen von Ordnungsverletzungen vgl. §§ 67, 68 GO-LT.

 

Anhang zu § 66

Anlässe für Ordnungsrufe im Schleswig-Holsteinischen Landtag

(Stand: 27. September 1999)

1. Äußerungen, Zwischenrufe etc.

„Dazu gehören Sie anscheinend auch!“ (bezogen auf „Gegner der demokratischen Staatsordnung“)

„Das ist eine glatte Lüge!“

„Unverschämtheit“

„Wenn hier einer dumm ist, dann sind Sie es, Herr Ministerpräsident!“

„Nachtwächter“

„Alles, was hier hoch ist, scheint die Decke zu sein.“

„Eine infame Unterstellung, die dem Charakter des sprechenden Abgeordneten angemessen ist.“

„Widerlicher Beckmesser!“

„Fieser und mieser Lümmel!“

„Verleumder“

„Womit Herr Barschel dann ein Schwein ist.“

„Dreckiger Verleumder!“

„Barschel lügt.“

„Dummdreistes Verhalten“

„Unverschämtheit! Flegelhaft! Flegel!“

„Soviel Dummheit, die nicht einmal lesen kann, bin ich höchstens bereit, dem Abgeordneten Friedrich zuzugestehen.“

„Politischer Fäkalarbeiter“

„Lüge“

„Der ist noch blau, der muss mal rülpsen!“

„Wie bei den Nazis!“

„Verleumder“

„Da hat er recht!“ (bezogen auf „Verleumder“)

„Sie lügen!“

„Ich pflege keine Kontakte zu führenden Mitgliedern autoritärer Parteien - egal, ob es sich um die DKP oder die CDU handelt.“

„Er lügt, dass sich die Balken biegen!“

„Fälscher!“

„Ich glaube, Kollege Bendixen ist ein ganz großer Flegel.“

„Richtig!“ (bezogen auf „ganz großer Flegel“)

„Sie sind ein ganz übler Demagoge und Verleumder, mein lieber Freund!“

„Heuchler“

„Feigling“

„Sie sind wie immer schnoddrig!“

Bezeichnung eines Gesetzes als „Schmutz und Schund“

„Aus der Feder von Karl-Eduard von Schnitzler“

„Schiebung und Korruption bei Politikern“

Vergleich der „Hetze“ anderer Fraktionen gegen die DVU mit dem Vorgehen der „NS-Machthaber 1933 gegen Demokraten“

„NS-Vokabular“

„Kanonenbootpolitik“

„Auf den Schlachtfeldern verbluten“

„Manipulation des Grundgesetztes“

Vergleich der deutschen Justiz mit der des Stalin-Regimes

„Nazis!“

„Schweinische Angriffe“

„Gelogen hat er!“

„Das ist eine Lüge!“

Zuweisung der Verantwortung für Anschläge auf Ausländer an die Regierenden

„Skandale hier in diesem Landtag“

„Arroganter Schnösel!“

Behauptung, der Kommunismus sei aus der Sozialdemokratie entstanden

Bezeichnung der SPD als „Wegbereiter des Nationalsozialismus“

„Schwein!“

„Hetze“

„Kommunistengeschwätz“

„Verhetzer“

„Sie haben den geistigen Minirock noch nicht ausgezogen!“

„Schweinekampagne“

„Wirrköpfe“

„Blödmann“

„Schwarze Brandstifter“

„Sie sind nur noch gedopt!“

„Klugscheißer“

„Verarscht“

„Sie sind wohl nicht ganz dicht!“

„Oberrealokasper“

2. Verhalten

Kritik am Sitzungspräsidenten

Unterbrechung des Sitzungspräsidenten

Erwiderung auf einen Ordnungsruf

Nichtbeachtung eines ersten Ordnungsrufs

Überschreitung der Redezeit

Rede „zur Sache“ statt zur Dringlichkeit

Frage nach der Begründung für den Ausschluss einer anderen Abgeordneten von der Sitzung

Störende Zwischenrufe

Gesten eines Abgeordneten

Beleidigung von Personen

Zeigen eines „Vogels“

Werfen einer Papierschwalbe

Kommentar zur Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages

Stand: 11. April 2023

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