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Es sind Einzelfälle, doch die Konsequenzen können lebenslange Auswirkungen haben. Die Rede ist vom „Schule-Schwänzen“. Der Bildungsausschuss des Landtages nimmt sich des Problems an und hört zahlreiche Experten an.
Es kann verschiedene Gründe haben, wenn Kinder und Jugendliche nicht mehr zur Schule gehen: Angst vor Mitschülern, Leistungsdruck oder auch Schwierigkeiten im Elternhaus. Der Bildungsausschuss hörte am gestrigen Donnerstag drei Stunden lang Experten an, um sich ein Bild von der Situation zu machen und um Lösungen zu skizzieren. Zwei zentrale Erkenntnisse: Je früher bemerkt wird, dass ein Schulkind dem Unterricht regelmäßig fernbleibt, desto größer die Chance, das Problem zu lösen. Und: Die Schule selbst kann den größten Beitrag leisten: Sie muss ein Ort sein, an dem man sich wohlfühlt.
Sie bekomme es mit drei „Fallgruppen“ zu tun, so Judith Pammler-Klein, Familienrichterin am Amtsgericht Kiel: Vernachlässigung im elterlichen Haushalt, Ängste der Kinder aufgrund von Mobbing oder Depression sowie Eltern, die „das System Schule grundsätzlich ablehnen“, aus religiösen oder politischen Gründen. Der FDP-Abgeordnete Christopher Vogt verwies auf die Reichsbürgerszene und einen Fall aus Ostholstein, wo ein heute 16-Jähriger laut Medienberichten seit 2017 von seinen Eltern nicht mehr zur Schule geschickt wurde. „Der Staat darf sich nicht von Extremisten auf der Nase herumtanzen lassen“, mahnte Vogt.
Dr. Manuel Munz vom Zentrum für Integrative Psychiatrie am UKSH in Kiel nannte Trennungsängste als eine weitere Ursache: „Kinder können sich nicht von ihren Eltern lösen.“ Hinzu komme das „Schwänzen zugunsten vermeintlich attraktiverer Tätigkeiten“ wie Computerspielen, Kriminalität oder Drogenkonsum. Die Lockdowns während der Corona-Pandemie hätten die Lage verschärft, hat Christoph Helms, Leiter des Fachdienstes Jugend/Soziale Dienste beim Kreis Pinneberg, beobachtet: „Viele Eltern hatten große Schwierigkeiten, ihre Kinder danach wieder angstfrei in die Schule zu bringen. Oder sie halten ihre Kinder selbst von der Schule fern.“ Der Weg „von der Unlust bis hin zum dauerhaften Fehlbleiben“ sei ein schleichender Prozess, so Marion Marx vom Städteverband Schleswig-Holstein. Ursache könne auch „Ausgrenzung wegen fehlender Statussymbole“ sein.
Heinrich Ricking, Professor am Institut für Förderpädagogik der Universität Leipzig, verwies auf mehrere Umfragen unter Schülern. Demnach hätten knapp die Hälfte der Befragten innerhalb des vorherigen halben Jahres „Versäumnisse“ bei der Anwesenheit im Unterricht zugegeben. Meist bleibe es bei Einzelfällen, aber bei etwa fünf Prozent der Schülerschaft „verdichten sich die Probleme“ – sie fehlen häufig. „Das sind wahrscheinlich einige 10.000 Kinder und Jugendliche in Schleswig-Holstein“, so der Professor. Jungen und Mädchen seien gleichermaßen betroffen, Schwänzen sei „kein typisches Jungenproblem“, zumal Ängste und Depressionen während der Pubertät bei Mädchen häufiger vorkämen.
Zudem gelte: „Je anspruchsvoller eine Schulform akademisch ausgerichtet ist, desto geringer der Absentismus.“ Die höchste Quote gebe es deutschlandweit „in Klasse 9 der Hauptschule“. Eine wichtige Erkenntnis sei, dass das „Entwickeln der Aversion“ in der Grundschule beginne – dort müsse die Präventionsarbeit ansetzen. Rickling stellte zudem heraus, dass hinter elterlichen Entschuldigungsschreiben und ärztlichen Attesten auch ein „elternbedingtes Zurückhalten“ und eine „Flucht in die Krankheit mit Ärzte-Hopping“ stecken können. Wichtig sei es, früh, die Warnsignale zu erkennen und „Gewöhnungsprozesse“ zu unterbinden: „Nach drei oder vier Monaten Abwesenheit ist es schwer, die Schüler in ihre Stammschule zurückzubringen.“
Am Umgang des Bildungsministeriums mit dem Problem Absentismus gab es scharfe Kritik. „Es werden nur Eltern und Schüler als Ursache in den Blick genommen, nicht aber die Schule selbst“, monierte Irene Johns, Landesvorsitzende des Kinderschutzbundes, mit Blick auf das entsprechende Konzept des Ministeriums. Dies sieht Elterngespräche, Mahnschreiben und das Einschalten des Jugendamts vor. Johns verwies darauf, dass 60 Prozent der Schüler bereits am Ende der Grundschulzeit Angst und Druck erlebten. Das sei ein „alarmierendes Zeichen“. Die Gründe seien eine „unzureichende Qualität des Unterrichts“, ein „abwertendes Verhalten“ von Lehrkräften gegenüber Schülern, mangelnde Beteiligungsmöglichkeiten sowie Ziffernoten.
Torben Albrecht vom Diakonischen Werk Husum machte „Unklarheiten bei der Erfassung der Fehltage“ aus: „Es werden immer noch Klassenbücher geführt, die dann gelegentlich einfach mal für ein paar Wochen verschwinden.“ Es gebe auch „Unterrichtsabsentismus bei physischer Anwesenheit“, merkte Völker Nötzold vom Landeselternbeirat der Grundschulen und Förderzentren an. Claudia Pick vom Landeselternbeirat der Gymnasien forderte die Schulen auf, Absentismuskonzepte in der Schulkonferenz zu beschließen und dabei „die Schüler und die Eltern mitzunehmen“. Landesschülervertreter Kevin Thomsen regte eine „Schule als Wohlfühlort“ an. Schule dürfe nicht nur aus „sitzen und lernen“ bestehen, Schüler wollten „gebraucht und gehört“ werden. Der Ausschussvorsitzende, der SPD-Abgeordnete Martin Habersaat, sah das ähnlich: Unsere Lehrkräfte brauchen Raum für Pädagogik und Zeit, sich dem einzelnen Kind zu widmen.“ Die CDU-Abgeordnete Dagmar Hildebrand: merkte an, dass viele Schulgebäude sanierungsbedürftig seien – das könne einem „Wohlfühlen“ im Wege stehen.
Wer die Schulpflicht ignoriert, begehe eine Ordnungswidrigkeit, stellte Carsten Löbbert, Präsident des Amtsgerichts Lübeck fest. Es drohen Bußgelder bis zu 1.000 Euro sowie die „Anwendung unmittelbaren Zwangs“. Dies sei allerdings nur das allerletzte Mittel: „Ein schreiendes Kind in Handschellen von der Polizei in die Schule bringen zu lassen – das kann dem Kindeswohl nicht förderlich sein.“ Deswegen setzen Schul- und Jugendämter auf Hilfs- und Beratungsangebote. „Jeder Schüler, jede Schülerin ist wichtig in jeder Stunde“, sagte Jürgen Schlüter, Schulrat des Kreises Schleswig-Flensburg. Die Klassenlehrer sollen die Eltern bereits am ersten Fehl-Tag kontaktieren.
Schleswig-Holsteins Kreise haben verschiedene Konzepte erarbeitet. So gibt es im Kreis Pinneberg „Klassenassistenten“, die die Lehrer bei der Betreuung unterstützen, in Lübeck holen Sozialarbeiter gefährdete Kinder morgens ab und begleiten sie zur Schule, und in Nordfriesland gibt es das Projekt „UNO 3.0“. Dort werden Kinder, die mehr als 40 Tage in einem Halbjahr fehlen, in speziellen Klassen außerhalb der Schule auf eine Rückkehr in den Schulalltag vorbereitet. „Der Unterricht findet mit sozialpädagogischer Begleitung statt“, berichtete Sozialarbeiterin Jasmin Kniese. Es gehe darum, Schritt für Schritt Lernerfolge zu erreichen.