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Der Sozialausschuss befragt Experten zur aktuellen Corona-Lage. Kernthema: Wie weit können die Einschränkungen gelockert werden? Tendenz: Die Zeichen stehen auf Entspannung im Umgang mit der Pandemie.
Mit Blick auf leicht zurückgehende Inzidenzwerte, einer stetig gewachsenen Impfbereitschaft sowie der beherrschbaren Situation in den Krankenhäusern halten namhafte Corona-Experten Lockerungen der gegenwärtigen Beschränkungen im gesellschaftlichen Leben nicht nur für möglich, sondern auch für nötig. Dies ergab eine vom Sozialausschuss anberaumte Expertenanhörung zur aktuellen Corona-Situation – „zu einem sehr interessanten Zeitpunkt“ des pandemischen Geschehen, wie der Ausschussvorsitzende Werner Kalinka in der Anmoderation der heutigen Befragung feststellte. Bereits vor Beginn der dreistündigen, gestreamten Veranstaltung, die per Video-Schaltung stattfand, hatten die Abgeordneten 61 Fragen vorgelegt (s. Umdruck 19/7128).
Der an der Kieler Christian-Albrecht Universität (CAU) tätige Virologe Professor Helmut Fickenscher sieht Lockerungen der Corona-Maßnahmen im Norden „in diesem Jahr für ein Muss“. Die Rückkehr zur Normalität müsse spätestens im Sommer, „der aber schon im April beginnen könnte“, greifen, sagte er zum Auftakt der Anhörung. Ähnlich argumentierte der Direktor der Klinik für Infektiologie und Mikrobiologie am Universitätsklinikum, Professor Philip Rosenstiel. Auch er hält „mit Augenmaß“ eingeleitete Lockerungen für „geboten“. Dabei gelte es insbesondere Kinder in den Blick zu nehmen, denn für sie sei Corona ein „Brennglas der emotionalen Entwicklung“.
Dies wurde später von der Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Zentrum für Integrative Psychiatrie am UKSH, Professorin Kamila Jauch-Chara, bestätigt. Sie nannte Corona „ein Vergrößerungsglas“ für die schon länger schwierige ambulante psychologische Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Die Folgen von in jungen Jahren gemachten Erfahrungen würden sich oft auf das ganze Leben auswirken und seien dann nicht selten Ursache für Probleme im Erwachsenalter, sagte Jauch-Chara.
Professor Jan Rupp, Direktor der Klinik für Infektiologie und Mikrobiologie am UKSH in Lübeck, forderte ebenfalls ein neues Denken. Auch er hob die psychischen Belastungen in der Gesellschaft hervor. Dies „dürfe nicht zum Dauerzustand“ werden. Übereinstimmend sprachen sich die Experten auch für eine Neubewertung der Testungen aus. Es gelte, weniger statistisches Material zu erhalten als über „gezielte Testungen gezielte Maßnahmen“ einleiten zu können, sagte Anne Marcic, Leiterin des Referats Infektionsschutz, Infektions- und Krankenhaushygiene, Infektionsepidemiologie und Impfwesen im Sozialministerium. Mit Blick auf die bundesweit niedrigsten Inzidenzwerte in Schleswig-Holstein fragte sie: „Wenn wir nicht mit Lockerungen beginnen, wer dann?“
Die Abgeordneten unterstrichen grundsätzlich die Positionen der Experten, die alle zum Corona-Beratungsteam der Landesregierung gehören. Für Marret Bohn von den Grünen hat sich die Anhörung bereits nach den ersten drei von elf Statements gelohnt, und der CDU-Abgeordnete Hans Hinrich Neve begrüßte es, dass Schleswig-Holstein bei der Corona-Bekämpfung schon immer „Vorreiter“ gewesen sei. Hier widersprachen die SPD-Politiker Birte Pauls und Bernd Heinemann im Detail. Sie monierten eine Vielzahl an „verwirrenden“ und „widersprüchlichen“ Maßnahmen der Landesregierung.
In einer weiteren Themenrunde bestätigte der ärztliche Direktor der LungenClinic Großhansdorf, Professor Klaus Rabe, dass es trotz der Omikron-bedingt hohen Infektionszahlen derzeit keine Überlastung an den Kliniken des Landes gebe. Auch für die Zukunft zeigte er sich optimistisch: „Das Krankheitsgeschehen ist inzwischen sehr gut vorhersehbar“, und auch die Vernetzung der Kliniken habe sich sehr gut entwickelt. Allerdings habe die Corona-Zeit klar aufgezeigt, dass die Personalaufstockung im ärztlichen wie im pflegerischen Bereich eine Zukunftsaufgabe sei und die Ausbildung intensiviert werden müsse.
Die letzte von drei thematischen Befragungsrunden drehten sich vor allem um die mögliche Impfpflicht. Einleitend beschwichtigte der Direktor des „Instituts für Krisenforschung ‒ Krisennavigator“, Frank Roselieb: Er sehe keine Spaltung der Gesellschaft bei dem Thema, sondern „eher eine Abspaltung von Gruppen“. Anschließend plädierte Kerstin von der Decken, geschäftsführende Direktorin des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der CAU, für die Einführung der allgemeinen Impfpflicht.
Auf eine Frage von Wolfgang Baasch (SPD) sagte sie, dass eine Überprüfung des Impfstatus durch die Krankenkassen oder die Ordnungsbehörden ausreichend sei. Denn „Wir brauchen kein Impfregister, es gibt andere Möglichkeiten der Kontrolle“, sagte sie. Dennys Bornhöft (FDP) äußerte Vorbehalte gegenüber einer Impfpflicht. Impfverweigerer könnten eine Patientenverfügung ausstellen, die beispielsweise eine Selbstzahlung der Behandlungskosten gegen Covid-19 beinhalte.
Uta Fölster, ehemalige Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts, stellte in ihrem Statement allgemeine rechtliche Überlegungen zur Prüfung der Rechtmäßigkeit von Grundrechtseingriffen an. Sie kam zu dem Schluss, dass einige rechtliche Beschränkungen bis zum Sommer aufgehoben werden müssen. Und in einem kurzen Beitrag zu ökonomischen Facetten schätzte Professor Stefan Kooths, Direktor des Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum am Institut für Weltwirtschaft in Kiel, die Corona-bedingte Schmälerung der Wirtschaftsleistung auf ein Prozent im ersten Quartal des Jahres.
Die heutige Befragung hatten die Koalitionsfraktionen beantragt, die Zustimmung war in der letzten Ausschusssitzung einhellig ausgefallen. Bereits in den Vorjahren, im Februar 2021 und im November 2020, hatten die Abgeordneten sich Expertisen zu der Corona-Pandemie eingeholt.