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Lars Harms: Grenzkontrollen sind nichts anderes als ein Placebo Effekt
Presseinformation Kiel, den 18. September 2015Es gilt das gesprochene WortLars HarmsTOP 1A Regierungserklärung und Anträge zur Flüchtlingssituation in Schleswig-Holstein Drs. 18/3342, 18/3343, 18/3349, 18/3319 „Grenzkontrollen sind nichts anderes als ein Placebo Effekt.“Dieser Sommer hat Deutschland verändert. Dieser Sommer hat Schleswig-Holstein verändert.Was vorher andere betroffen hat, betrifft nun auch uns. Tagtäglich überschlagen sich dieEreignisse. Tagtäglich gilt es, den Herausforderungen gerecht zu werden und dabei möglichsteinen kühlen Kopf zu bewahren. Denn es ist kein Geheimnis, dass der Druck zum jetzigenZeitpunkt enorm groß ist. Und zwar auf allen Ebenen. Keine der staatlichen oderüberstaatlichen Ebenen kann und sollte sich in dieser Situation aus der Verantwortung stehlen.Angesichts der hohen Anzahl an Flüchtlingen, sind wir alle aufeinander angewiesen. DieMeldung der Bundesregierung, die Mittel für die Flüchtlingshilfe zu erhöhen ist ein positivesSignal. Diese Mittel werden auf Länder und Kommunaler Ebene verteilt und können sicherlichzur Entlastung etwas beitragen. Schleswig-Holstein hat in den vergangenen Monatenaußerordentliche Leistungen erbracht und die Kommunen zusätzlich unterstützt. Zudem hat 2das Land bisher die Mittel für die Deutsch-als-Fremdsprache-Kurse erhöht. Gleiches giltübrigens auch für die Gerichte, die sich mehrheitlich mit den Anliegen in Sachen Asylverfahrenbeschäftigen. Ebenso wurde die Unterstützung für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge,sowie die Behandlung traumatisierter Flüchtlinge aufgestockt. Darüber hinaus hat das Landmehr als 200 neue Lehrer eingestellt. Auch das ist ein wichtiger Beitrag für die guteIntegration der Menschen vor Ort.In punkto Unterbringungen besteht seit den letzten Jahren ein enger Austausch, zwischenLand und Kommunen. Die Unterbringung von den Menschen, die zu uns kommen, ist daszentrale Thema auf kommunaler Ebene. Auch diese Woche hat es wieder Gespräche mit Landund Kommunen gegeben und diese würde ich, anders als die Presse, nicht als „Notgipfel“bezeichnen, sondern vielmehr war es ein Gespräch lösungsorientierter Art. Nun geht es darum,flexible Möglichkeiten im Bereich der Wohnsituation zu schaffen. Für gängige Bauplanungen,die normalerweise gerne zwei bis zweieinhalb Jahre in Anspruch nehmen, müssen wir jetztschnellere Möglichkeiten schaffen. Dazu müssen wir jetzt das Landesplanungsgesetz,entsprechende Bauordnungen und ähnliches unter die Lupe nehmen und gucken, wo wiretwas zu beschleunigten Vorgehensweisen beitragen können. Das Land steht, wie in derVergangenheit auch, zu seiner 70-30 Finanzierung. Und das ohne Abzüge und unverzüglich.Unser Bundesland hat nicht nur in diesem Sommer, sondern schon darüber hinaus, enormeVorleistungen erbracht. Mehr als 200 Millionen Euro wurden für Bereiche ausgegeben, wofürdas Land strenggenommen gar nicht zuständig ist. Das ist sicher keine Selbstverständlichkeit.In diesem Punkt hat sich die Landesregierung schon viel früher auf dem Weg gemacht, als esjetzt bei der Bundesregierung der Fall ist. Schleswig-Holstein hat die richtigen Entscheidungengetroffen. Mehr noch, wenn das Geld vom Bund kommt, dann kann das Land noch mehr für dieFlüchtlingshilfe tun. Von daher sind wir bei uns im nördlichsten Bundesland schon ganz gutaufgestellt. Das hat natürlich auch mit der Haushaltspolitik unseres Landes zu tun, für die ichFinanzministerin Monika Heinold herzlich danken möchte. Das gilt natürlich auch für dieregierungstragenden Fraktionen, die in den vorangegangenen Jahren Disziplin geübt haben. So 3wurde ein finanzieller Puffer geschaffen, der uns jetzt die nötige Luft schafft, um die nötigenfinanzpolitischen Maßnahmen in Sachen Flüchtlingshilfe auch anzuschieben. Finanztechnischkönnen wir dieser Aufgabe gerecht werden. Und die Umsetzung ist schon im vollen Gange.So wurden etwa Erstaufnahmeeinrichtungen innerhalb kürzester Zeit eingerichtetbeziehungsweise erweitert. In den nächsten Monaten sollen an insgesamt elf Orten im LandErstaufnahmeeinrichtungen oder entsprechende Übergangslösungen in Betrieb genommenwerden. Die tägliche Arbeit in und rund um die Erstaufnahmeeinrichtungen finden wir als SSWbeeindruckend. Landesbeamte, Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes, Freiwillige und vieleandere Menschen arbeiten Hand in Hand. Ihnen gebührt unser Dank. Unser Dank gilt auchInnenminister Studt und seinem Team, das gemeinsam mit der Landespolizei eineArbeitsgruppe zusammengestellt hat. Diese Arbeitsgruppe leistet hervorragendeorganisatorische und praktische Arbeit an den Erstaufnahmeeinrichtungen und darüberhinaus. Es ist klar, dass diese Arbeit keine Projektarbeit ist, sondern eine Daueraufgabe. Dahermuss man auch einmal darüber nachdenken, wie die derzeit sich entwickelnden Strukturen,längerfristig erhalten oder gar ausgebaut werden könnten; für eine effiziente und stabileInfrastruktur.Auf Bundesebene befindet man sich derzeit im intensiven Gespräch mit Ländern undKommunen. Die Gespräche am vergangenen Montag waren nur ein Anfang. TragbareLösungen müssen jetzt auf den Tisch, gleichzeitig müssen sie auch anpassbar sein. Und klar istauch, dass es immer wieder einen Kompromiss geben wird. Und klar ist auch, dass vielerortsein Umdenken von Nöten ist und Entscheidungen immer wieder modifiziert werden müssen.Wir als SSW sind bereit, uns zu beteiligen und große Lösungen mitzutragen. Was jetzt schonklar ist, dass wir ganz dringend mehr Erstaufnahmeplätze brauchen. 15.000 Plätze sollen es beiuns im Land werden. Das ist fast eine Verdoppelung. Berlin muss deshalb andere Bundesländerdazu animieren, schnell zu handeln, um vor allem Bayern zu entlasten. Zur Erstversorgung undUnterbringung kommt ein weiterer Knackpunkt hinzu, nämlich die Verweildauer der 4Flüchtlinge und Asylsuchenden. Die Verfahren müssen beschleunigt und vereinfacht werdenund dazu ist vor allem eins nötig: Mehr Personal. Das Problem der Verfahrensabhandlung istjedoch sehr vielschichtig und komplex. Denn im Grunde genommen, braucht es eineHarmonisierung der Verfahren auf Europäischer Ebene, gerade vor dem Hintergrund derDiskussion um die Verteilungsquote der Flüchtlinge. An dieser Stelle sei auch gesagt, dass wirals SSW ganz klar eine solidarische Aufnahme der Flüchtlinge innerhalb der EU einfordern.Ohne Extrawürste, ohne Deals und ohne Freikaufoptionen. Die EU wurde alsWirtschaftsgemeinschaft gegründet und agiert leider auch heute noch so. Das macht die Sachenicht einfacher. Wenn man nicht möchte, dass sich die Flüchtlinge ihr neues zu Hause nur ineiner Hand voll Mitgliedsstaaten aussuchen, muss man auf Europäischer Ebene die Ärmelhochkrempeln. Es wird große Diskussionen geben, das ist klar. Wir brauchen eine Quote undwir brauchen vergleichbare Regelungen im Asylrecht. Die Souveränität über das Asylrecht desjeweiligen Landes gehört den Nationalstaaten. Es bildet die Säule vieler Nationalstaaten undist bisweilen sogar in der Verfassung verankert. Wir als Politik dürfen nicht zögern, dieseDiskussion anzugehen, auch wenn es ein eventuelles Ändern der Standards in punktodeutscher Rechtswege mit sich ziehen kann.Die EU-Innenminister haben sich kürzlich auf eine Liste der sicheren Herkunftsstaatenverständigt und diese erweitert. Es wird sicherlich nicht lange dauern, bis Deutschlandnachzieht und Albanien, den Kosovo sowie Montenegro auch zum sicheren Herkunftslanderklären lässt. Doch was bedeutet eine solche Maßnahme tatsächlich? Ist damit unsereAufgabe getan? Ich glaube nicht. Dazu braucht man sich nur einmal die Zahlen derAsylsuchenden vom Balkan ansehen. Kein Mensch verlässt gerne seine Heimat; lässt Freunde,Nachbarn und Familienmitglieder zurück. Niemand macht sich freiwillig mit nur wenigenHabseligkeiten auf den Weg. Nicht wenige der zu uns kommenden Menschen vom Balkanleben in elenden Lebensumständen. Klar gibt es auch Ausnahmen. Doch für viele Familien sindPappkartons und Wellblechhütten ohne ausreichenden Schutz gegen Wind und Wetter Alltag,denn sie leben dort. Diese Menschen sollen nun schnellstmöglich abgeschoben werden, mit 5dem Hinweis, ihr Herkunftsland sei sicher, es herrsche kein Krieg und sie würden nicht verfolgt.Doch mit der Definition von Sicherheit, Krieg und Verfolgung ist es nicht immer ganz einfach.Vieles liegt im Verborgenen. Nur weil jetzt der westliche Balkan als sicher gilt, dürfen wir nichtnachlassen, uns zu engagieren und Fluchtursachen zu minimieren. Als Land sind wir auf demBalkan vergleichsweise gut aufgestellt. Durch Akteure wie Schüler Helfen Leben, der FUEV unddem ECMI bekommen auch wir als Parlament davon mit, wie es den Menschen im Kosovo undanderswo wirklich geht. Auch wenn rein rechtlich schon vieles in die Wege geleitet wurde, umDiskriminierung und Schikane zu unterbinden, so läuft vieles unter der Hand weiter. Das giltvor allem für die Roma. Jeder, der sich näher mit dem Leben auf dem Balkan beschäftigt hat,kennt die primitiven und vor allem hartnäckigen Vorurteile gegenüber Roma. Mit unserenjahrelang gesammelten Kenntnissen, stünde es uns als Land gut zu Gesicht, in diesem Fall eineVorreiterrolle zu übernehmen und auf Bundesebene den Finger auf die Bekämpfung derFluchtursachen legen und Hilfe für die Roma einzufordern.In Bezug auf die Europäischen Regelungen hat sich insbesondere eine Regelung selbstüberholt, nämlich Dublin III. Damals hat man die Regelung ausgearbeitet und in Kraft gesetztunter ganz anderen Voraussetzungen. Die heutige Ausgangslage hat sich massiv geändert undentspricht einer anderen Wirklichkeit. Schon damals, als Spanien, Italien und Griechenland lautaufgeschrien haben, hätte man sich auf den Weg machen sollen und über die Sinnhaftigkeitund Wirksamkeit dieser Regelung nachzudenken. Mir stößt es jedenfalls sauer auf, dassgerade diejenigen sich jetzt empören, die damals vor allem Spanien und Italien im Regenstehen gelassen haben. Die Ausgangslage auf europäischer Ebene könnte fast zynischer nichtsein. Die EU darf nicht zu einer Gemeinschaft der Neinsager mutieren, sondern es mussendlich wieder „ja“ gesagt werden. Auf dieses „ja“ warten nicht nur Millionen von EU-Bürgern,sondern vor allem auch unzählige Menschen, die zu uns kommen.Die Neinsager dieses Kontinents wollen ihr Nein dieser Tage durch Grenzzäune und Mauernstützen. Die Zäune wachsen nicht nur in Ungarn, sondern auch in Spanien, Frankreich und 6Bulgarien. Als SSW wollen und müssen wir an dieser Stelle ganz klar sagen, dass Stacheldrahtund Kampfhunde bei einer humanitären Aufgabe nichts zu suchen haben! Grenzkontrollensind nichts anderes als ein Placebo Effekt. Dänemark hat den Anfang gemacht, wurde dafürheftig angegriffen und nun tun wir es, genau wie ein bedeutender Teil der EU auch. DasFingerzeig-Prinzip der letzten Tage hat zu nichts geführt. Die EU wird derzeit von einemDominoeffekt überrannt und es werden wahrscheinlich noch mehr Mitgliedsstaaten ihreKontrollen verstärken. Die Flüchtlinge werden sich andere Wege suchen und diese auch finden.Ob eine Verschärfung der Grenzkontrollen zielführend ist, wagen wir als SSW jedenfalls zubezweifeln. Daher begrüßen wir es an dieser Stelle, dass der dänische Außenminister KristianJensen sich dahingehend geäußert hat, die Grenzkontrollen in Dänemark nicht mehr aufrechtzu erhalten. Die dänische Bevölkerung ist an dieser Kehrtwende sicherlich nicht ganzunschuldig. Denn laut einer Umfrage würden 78 % der dänischen Bevölkerung es unterstützen,wenn ihr Land an einer gemeinsamen Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU teilnimmt.Das ist eine positive Entwicklung in Dänemark, genau wie die großen Demonstrationen in dengrößeren dänischen Städten für eine humane Asylpolitik es gezeigt haben.Auch bei uns ist die Stimmung in der Bevölkerung landauf, landab durchweg positiv. Auch andieser Stelle gilt allen hier im Hause, sowie anderenorts, unser Dank, die ihren Teil zu dieserergreifenden Stimmungslage beigetragen haben. Die Herausforderung der kommenden Zeitist einleuchtend, nämlich: Die Solidarität der jetzigen Tage müssen wir als Gesellschaftweiterentwickeln. Das heißt, weiterhin gegenseitige Unterstützung leben und denjenigen eineHand reichen, die vom rechten Weg abgekommen sind oder die das Ziel nicht mehr vor Augenhaben. Diese Herausforderung wird uns die nächsten Jahre begleiten. Ein integrativer Prozesswird nicht nur Erfolg mit sich bringen, sondern auch Misserfolg. Auch darauf müssen wir alsGesellschaft und auch als Politik vorbereitet sein. Denn eins lehren uns die Blicke in dieVergangenheit, es war noch nie einfach. Und so wird es auch diesmal nicht einfach werden.Humanität ist schließlich keine Bagatelle. Doch es ist ein Ziel, für das es sich einzusetzen lohnt. 7Asylrecht ist ein Menschenrecht. Die Menschen die zu uns kommen, haben ein Recht auf eineneue Heimat. Unsere Aufgabe ist es, ihnen diese zu gewähren.