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28.05.08
14:51 Uhr
B 90/Grüne

Angelika Birk zur Situation von Menschen mit Behinderungen

PRESSEDIENST Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein Pressesprecherin Es gilt das gesprochene Wort Claudia Jacob Landeshaus TOP 8 – Situation von Menschen mit Behinderung in Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel Schleswig-Holstein Telefon: 0431 / 988-1503 Fax: 0431 / 988-1501 Dazu sagt die sozialpolitische Sprecherin Mobil: 0172 / 541 83 53 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, E-Mail: presse@gruene.ltsh.de Internet: www.sh.gruene-fraktion.de Angelika Birk:
Nr. 192.08 / 28.5.2008


Ausgrenzung ist Realität!
Die große Koalition hat sich im Jahr 2006 einer Gesamtplanung für Menschen mit Behin- derung, die Grüne, FDP und SSW gefordert hatten, verweigert. Maßgebliches Argument war damals, die Landesregierung habe die Thematik als ein Schwerpunktthema ihrer Ar- beit im Blick. Außerdem wurde zugesagt, den Landtag „auf dem Laufenden“ zu halten, wenn Ergebnisse vorliegen würden.
Dieses Versprechen hat die Landesregierung nicht gehalten. Wir haben zwar wiederholt in diesem Hause über die Situation von Menschen mit Behinderung diskutiert, aber nicht auf Initiative der Landesregierung. Wir haben uns mit dem Bericht zur Frühförderung be- hinderter Kinder, der Umsetzung des SGB XII Ausführungsgesetzes sowie der Situation von älteren Menschen mit Behinderung beschäftigt. Ausnahmslos alles Initiativen der Grünen Landtagsfraktion.
Ich kann mich nicht erinnern, dass die Landesregierung in den letzten zwei Jahren von sich aus das Thema Menschen mit Behinderung auf die Tagesordnung des Landtages gesetzt hätte. Es hat keine offizielle Vorstellung des viel gerühmten Inklusionskonzeptes im Landtag gegeben. Gut, es gab Veranstaltungen vor Ort, aber das ist nicht ganz das Gleiche. Welchen Namen man dem Kind auch gibt – Empowerment – Integration – Inklu- sion – entscheidend ist letztendlich, was geschieht.
Kann uns die Große Anfrage der CDU hier Auskunft geben? Ich habe da so meine Zwei- fel. Viele Seiten, viele Wörter, einige Tabellen, wenig Neues, kein Erkenntnisgewinn – so meine Bilanz. Schade, denn die Anfrage war sicher gut gemeint.
1/3 Dennoch verwundert es ein wenig, dass ausgerechnet die CDU diese Große Anfrage gestellt hat. Klassischerweise ist es Aufgabe der Opposition, die Landesregierung voran zu treiben. Warum also tut sie das? Traut die CDU ihrem Koalitionspartner doch nicht zu, dass der das Thema im Griff hat? Oder will sie Amtshilfe leisten, damit die Landesregierung brillieren kann? Wohl kaum, denn so gut ist der Bericht denn doch nicht.
Kann es sein, dass die CDU diese Anfrage gestellt hat, damit verspätet die Daten be- schafft werden, die die Regierung für ihr Gesamtkonzept gebraucht hätte? Nicht wirklich, denn die Antwort der Landesregierung sagt im Grunde nix Neues, sie hat wenig Erkennt- nisgehalt. Dabei hat die Landesregierung selbst wenig Schuld daran, dass auf mehr als 80 Seiten wenig Substantielles zu finden ist.
Zuständig für die Eingliederungshilfe sind nun einmal die Kommunen, die aber zu fast je- der zweiten Frage keine Angaben machen. Zum Teil haben die Kommunen ja auch für die oben genannten Berichte schon Daten heraus gegeben. Das heißt, die Große Anfra- ge wiederholt zum einen, was an anderer Stelle schon vorliegt und lässt zum anderen nach wie vor vieles unbeantwortet. Schon mehrfach haben die Kommunen in der Sozial- und Jugendpolitik Antworten an Landesregierung und Landtag verweigert. Immer mit dem Hinweis sie seien zu dieser Zusatzarbeit nicht verpflichtet. Tatsache ist aber, dass die Kommunen zu ihrer eigenen fachlichen Arbeit und Haushaltstransparenz diese Daten brauchen. Wenn sie nicht vorhanden sind, lässt dies tief blicken. Eine solche Arbeitsver- weigerung von Seiten der Kommunen kann der Landtag nicht hinnehmen.
Auch die Agentur für Arbeit kann im Grunde nur wenig über Menschen mit Behinderung sagen. Auf der Suche nach Ausbildung waren im Jahr 2007 344 junge Menschen mit Behinderung. Die spezifische Ausbildungsquote der kommunalen ArbeitgeberInnen lag bei beachtlichen 17 Prozent, im Landesdienst dagegen nur bei 1,05 Prozent. Im selben Jahr gab es bei uns 5.173 arbeitslose Menschen mit Behinderung, das entspricht einem Anteil an den Arbeitslosen von 4,5 Prozent. Das erscheint wenig. Aber – aussagekräfti- ger wäre ein Vergleich der allgemeinen Arbeitslosenquote mit der spezifischen von Men- schen mit Behinderung gewesen. Diese lag in der Vergangenheit bei 20 Prozent und mehr.
Ein weiteres Beispiel sind die Bereiche Schule und Jugendhilfe. Hier gibt es schlicht kei- ne Erhebung des Merkmals Behinderung. Das kann man als gut im Sinne von nicht dis- kriminierend werten. Aber ebenso auch als schlecht, denn ohne Daten, ohne Erkenntnis- se kann es keine gezielte Förderung und Unterstützung geben. Und auch Inklusion be- deutet nicht, Selbstintegration und Autonomie ohne den dazu notwendigen Unterstüt- zungsbedarf.
Was ist Behinderung? Die Antwort auf die Große Anfrage macht deutlich, dass es hier keine einfache Antwort gibt. Schon mit den Basisdaten lässt sich wenig anfangen: Be- hinderung ist nicht Behinderung. Es gibt Zahlen über anerkannte Schwerbehinderte; das sind rund 465.000 Menschen in Schleswig-Holstein. Aber nicht jeder Behinderte lässt sich anerkennen. Es gibt Menschen die Eingliederungshilfe nach dem SGB XII erhalten; das sind mehr als 22.000 Personen. Aber viele Menschen mit Behinderung erhalten gar keine Eingliederungshilfe, andere erhalten mehrere Einzelleistungen nach dem SGB XII und werden somit mehrfach gezählt. Behinderung kann körperlich bedingt sein, die Mobilität ist häufig eingeschränkt. Behin- derung kann die primären Sinnesorgane betreffen, an Augen und Ohren vorliegen. Eine chronische Erkrankung wie z. B. Diabetes oder eine koronare Herzerkrankung kann zu einer Behinderung führen. Behinderung kann aber auch die geistigen Fähigkeiten, die Seele und die Psyche betreffen. Behinderung ist nicht immer sichtbar und sie hat viele Ursachen. Ebenso individuell ist das Leben mit einer Behinderung. Jeder und jede geht mit seiner/ihrer Behinderung verschieden um und sie verändert sich im Laufe des Le- bens.
Entscheidend für ein Leben mit Behinderung ist das gesellschaftliche Drumherum. Es heißt nicht umsonst „ich bin nicht behindert – ich werde behindert“. Mit der Gestaltung von Straßen, Gebäuden und Wohnung wird das Leben erleichtert oder erschwert. Und das gilt ebenso für das Denken und Handeln der Menschen. Die Zugänglichkeit von Kita und Schule, von Uni und Ausbildung, von Erwerbsarbeit, politischem und kulturellen Le- ben entscheidet darüber ob Menschen behindert werden oder sich frei bewegen und ent- scheiden können.
Die Aufgabe, die Politik von und für Menschen mit Behinderung zu leisten hat, ist die Ge- sellschaft in allen Aspekten so zu gestalten, dass Ausgrenzung verhindert wird. Zu er- möglichen, dass jeder und jede teilhaben kann und diejenigen, die Unterstützung brau- chen, diese auch bekommen.
Die Landesregierung rühmt sich damit, dass mit der Einführung des SGB IX 2001 der Prozess des Perspektivenwechsels begonnen worden ist. Weitere maßgebliche Schritte seien auf Landesebene durch die Kommunalisierung der Eingliederungshilfe in 2007 und durch das Inklusionskonzept gegangen worden. Das mag in der Theorie richtig sein, aber man merkt wenig davon.
Die gemeinsamen Servicestellen des SGB IX sind ein Rohrkrepierer. Die Sozialbehörden in den Kommunen arbeiten seit Jahren immer restriktiver in der Leistungsgewährung, das kann die Bürgerbeauftragte bestätigen. Die Probleme der kommunalisierten Einglie- derungshilfe sind nicht gelöst, daran erinnern kommunale Spitzenverbände und Behin- dertenverbände gleichermaßen. Individuelle und regionale Teilhabeplanung lassen zu wünschen übrig.
Das persönliche Budget fand wenig Resonanz. Die Vorgaben zur Barrierefreiheit bleiben ohne Sanktionsinstrumente auch in der neuen Landesbauordnung ein zahnloser Tiger. Die Arbeit des Landesbeauftragten ist als Teil der Regierung naturgemäß eingeschränkt. Aber zumindest dies wird sich ja nun ändern.
Gesetze sind für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung nur der theoretische Überbau: Grundgesetz, Antidiskriminierungsgesetz, Sozialgesetzbuch IX und XII, Lan- desbehindertengleichstellungsgesetz sind notwendig aber nicht hinreichend. Entschei- dend ist und bleibt die Alltagpraxis, das alltägliche Leben. Die längste Wegstrecke liegt noch vor uns.
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