Monika Heinold zur Situation von Kindern in Industrieländern
Fraktion im Landtag PRESSEDIENST Schleswig-Holstein Pressesprecherin Es gilt das gesprochene Wort! Claudia Jacob Landeshaus TOP Aktuelle Stunde – Studie von UNICEF zur Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel Situation von Kindern in Industrieländern Durchwahl: 0431/988-1503 Zentrale: 0431/988-1500 Dazu sagt die kinderpolitische Sprecherin Telefax: 0431/988-1501 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Mobil: 0172/541 83 53 Monika Heinold: E-Mail: presse@gruene.ltsh.de Internet: www.sh.gruene-fraktion.de Nr. 076.07 / 21.02.2007Wieder ein Schuss vor den Bug!Die aktuelle Unicef-Studie ist ein Schuss vor den Bug des schwerfälligen deutschen Tan- kers „Familiepolitik“. Erneut wird uns schwarz auf weiß dokumentiert, dass die Familien- förderung in Deutschland in die falsche Richtung steuert. Diese Erkenntnis ist nicht neu: Wie bei vielen Themen haben wir auch hier kein Erkenntnisdefizit sondern eine Hand- lungslücke. Vom notwendigen Kurswechsel in der Bildungs- und Familienpolitik sprechen Viele - praktische Konsequenzen mit durchschlagender Wirkung hat das aber nicht ge- habt.Bei der Veröffentlichung der Unicef-Studie hat Mitverfasser Professor Hans Bertram tref- fend zusammengefasst: „Politik für Kinder in Deutschland ist meist nur Mittel zum Zweck, um Arbeitsmarktprobleme zu entschärfen oder um die Rentenkassen zu füllen.“Das ist bitter! So entdeckt beispielsweise die CDU just in dem Moment die seit Jahrzehn- ten fehlende Kinderbetreuung, wo die demographischen Zahlen nachweisen, dass wir zukünftig gut ausgebildete Frauen für den Arbeitsmarkt brauchen! Welch Armutszeugnis!Die Bilanz der Unicef-Studie ist beschämend, denn sie macht deutlich, dass in Deutsch- land die Bereitschaft abhanden kommt, die selbstverständlichsten Bedürfnisse von Kin- dern zu erfüllen: Das Bedürfnis nach gesunden warmen Mahlzeiten in Kita und Schule, das Bedürfnis nach attraktiven Freizeitangeboten, das Bedürfnis nach Geborgenheit in sozialen Netzwerken.1/3 Deshalb stellt sich schlicht die Frage, ob es in Deutschland überhaupt die Bereitschaft gibt, umzusteuern? Gibt es den ernsthaften Willen, das Ruder noch herumzureißen? O- der bleibt es bei einem kurzen Schockzustand, bei einer aktuellen Stunde, bei warmen Worten für Kinder und ihre Familien? Aus Sicht meiner Fraktion wäre es unverantwort- lich, wenn die Politik nach der harschen Kritik der Unicef ins übliche Tagesgeschehen zu- rückfällt.Das Risikoverhalten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist erschreckend, im- mer häufiger greifen sie zur Zigarette und zum Alkohol. Deutsche Eltern reden am aller- wenigsten mit ihren Kindern. Bei der frühkindlichen Bildung sind wir – auch sieben Jahre nach der PISA-Studie noch immer Schlusslicht. Die Gesamtausgaben der deutschen Familienpolitik liegen mit 2 Prozent des Bruttoinlandproduktes im Mittel der Industrienati- onen. Aber kein Vergleichsland investiert weniger als Deutschland in die Betreuung und Bildung der ganz Kleinen.Mehr als dreißig Prozent der Jugendlichen rechnen schon gar nicht mehr damit, eine qualifizierte Arbeit zu finden. Wen wundert es da, wenn Kinder und Jugendliche Zu- kunftsangst haben?Was uns aber am allermeisten erschrecken sollte: obwohl diese Erkenntnisse nicht neu sind, gibt es dennoch keine konzertierte Aktion, keinen nationalen Kinderförderungsplan, um aus diesem Negativ-Tal heraus zu kommen. Sind uns unsere Kinder egal?Welche Konsequenz ziehen wir daraus, dass es immer neue Schlagzeilen über Kinder- vernachlässigung und Kinderarmut gibt?Welche Konsequenz ziehen wir daraus, dass immer mehr Kinder ohne Frühstück in Kita und Schule kommen, und dass für immer mehr Kinder die tägliche warme Mahlzeit fehlt?Welche Konsequenz ziehen wir daraus, dass es nicht genug Betreuungsangebote gibt?Welche Konsequenz ziehen wir daraus, dass Kinder auf Grund hoher Gebühren aus den Kindertagesstätten, vom Mittagessen, vom Musik- oder Sportverein abgemeldet werden?Welche Konsequenz ziehen wir daraus, dass immer mehr Eltern das Geld für Klassen- fahrten oder für Turnschuhe fehlt, und dass Kinder alles tun, damit ihre Armut nicht sicht- bar wird – weil sie sich schämen?Welche Konsequenz ziehen wir daraus, dass Kinder und Jugendliche aggressiv und kri- minell werden?Welche Konsequenz ziehen wir daraus, dass 10 Prozent aller HautschülerInnen die Schule ohne Abschluss verlassen und dass ihre Berufschance damit praktisch fast gleich Null ist? Dieses sind nur Beispiele. Noch einmal, die entscheidende Frage, die dahinter steckt, ist: Warum handeln wir nicht? Warum sind unserer Gesellschaft Kinder so wenig wert?Warum bedarf es erst der harten Fakten der demographischen Entwicklung, bevor wir Familienpolitik ernst nehmen? Warum bauen wir lieber eine Kurpromenade als eine Schulkantine? Warum ist es überhaupt zulässig, dass Menschen gegen Kinderlärm eine Klage einreichen?Meine Damen und Herren, eine Aktuelle Stunde des Schleswig-Holsteinischen Landta- ges wird diese Situation nicht ändern. Schön, dass wir mal drüber gesprochen haben - dabei darf es nicht bleiben! Was wir brauchen, ist der ernsthafte Wille, Politik für und mit Kindern, für und mit Familien ganz oben auf die Agenda zu setzen. Als Selbstzweck, nicht als Mittel für etwas anderes.Wir können und wir müssen Kinderrechte in der Verfassung verankern. Wir können und wir müssen die Familienförderung so reformieren, damit das Geld auch wirklich bei den Kindern ankommt! Wir können und wir müssen über eine Kindergrundsicherung verhin- dern, dass Kinder weiterhin ein Armutsrisiko für Familien bleiben. Bund, Länder und Kommunen können und müssen einen Aktionsplan auflegen, um die Infrastruktur für Kinder und ihre Familien sicher zu stellen.Nehmen wir endlich die Nöte unserer Kinder ernst! Verändern wir unsere Perspektive: schauen wir nicht immer nur auf die Defizite und Unzulänglichkeiten von Kindern und ih- ren Eltern, sondern schauen wir darauf, welche Stärken und Fähigkeiten da sind und wie wir sie nutzen und verstärken können. Helfen wir den jungen Familien bei ihrer schwieri- gen Aufgabe, ein kleines Menschenwesen auf dem Weg zu einem selbstbewussten Indi- viduum zu unterstützen!Nicht, damit der Arbeitsmarkt wieder ins Gleichgewicht kommt, nicht damit die Wirtschaft boomt, nicht damit unsere Sozialkassen wieder gefüllt sind, sondern einfach nur, weil es jedes Kind verdient, geliebt, geschützt, unterstützt und von der Gesellschaft wertge- schätzt zu werden. ***