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23.06.03
14:58 Uhr
Landtag

Kieler-Woche-Gespräch: dDie Rolle des Europarates in einer erweiterten Europäischen Union - Rede von Senator Gerard Czaja/Polen

87/2003 Kiel, 23. Juni 2003 Es gilt das gesprochene Wort!



Kieler-Woche-Gespräch: Die Rolle des Europarates in einer erweiterten Europäischen Union – Rede von Senator Gerard Czaja/Polen
Kiel (SHL) – In seiner Rede anlässlich des Kieler-Woche-Gesprächs, zu dem der Schleswig-Holsteinische Landtag ins Landeshaus eingeladen hatte, sagte Senator Gerard Czaja, Mitglied des Senats der Republik Polen und Mitglied des Ständigen Ausschusses der Ostseeparlamenta- rierkonferenz, am heutigen Montag, 23. Juni 2003, unter anderem:
„Ich teile mit Ihnen den Standpunkt über die Zukunft von zwei wichtigen Organisationen, dem Europarat und der Europäischen Union. Ich danke unseren Gastgebern, vor allem Landtagspräsident Heinz-Werner Arens, für die Einladung, die ein Zeichen der Würdigung für Polen ist, da wir im letzten Jahr beim Kieler-Woche-Gespräch auch einen Vertreter Polens, Senatspräsident Professor Longin Pastusiak, gehört haben. Dies ist auch ein Beweis für die Partnerschaft, die sich zwischen Schleswig- Holstein und meinem Land entwickelt, und für die Bedeutung, die wir unseren Beziehungen beimessen.
Ich freue mich, über die Zukunft von Europa angesichts des Ergebnisses beim Europäischen Referendum sprechen zu dürfen, das vor zwei Wo- chen in Polen stattfand. Das Ergebnis des Referendums, mehr als drei Viertel der Stimmen für die Europäische Union und nahezu 60 Prozent Wahlbeteiligung bedeutet, dass Polen am 1. Mai 2004 ein vollwertiges Mitglied der Europäischen Union werden wird, was mich dann wieder berechtigt, Stellung zur erweiterten Europäischen Union zu nehmen.
Müsste ich nach einem Vergleich zwischen dem Europarat und der Eu- ropäischen Union suchen, würde ich sagen, dass der Europarat die älte- 2


re Schwester der Europäischen Union ist. Von Anfang an ist die Europä- ische Union in Richtung wirtschaftlicher Kooperation gelenkt worden, die Wirtschaft bleibt Fundament und Bezugspunkt. Unterdessen konzentriert sich der Europarat konsequent auf Fragen, die in der Tat mit dem wirt- schaftlichen Wachstum verbunden sind, die aber ungeachtet vom Stadi- um dieses Wachstums Gegenstand der internationalen Zusammenarbeit sein können und sein müssen.
Lassen Sie mich daran erinnern, dass Hauptziele des Europarates der Schutz von Menschenrechten, Demokratie, Gesetzestreue sind, die den Bürgern kulturelle Identität und Verschiedenartigkeit, Entwicklung der demokratischen Stabilität in Europa, Unterstützung bei politischen, ge- setzlichen und verfassungsrechtlichen Reformen und bei der Suche nach Lösungen für soziale Probleme, wie Diskriminierung von Minder- heiten, Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz, Umweltverschmutzung, Klonen, AIDS, Drogen und organisiertes Verbrechen bewusst machen. Wie wir sehen können, sind dies universelle Probleme, die mehr oder weniger alle europäischen Länder betreffen. Die Macht des Europarates liegt in seiner ganzen universellen Bedeu- tung. Kein anderes Forum in Europa ist von solcher Bedeutung und sol- chem Gewicht, dass es nahezu alle Staaten des Kontinents versammelt. Verfolgen wir zur Zeit doch den Beitritt von Georgien, Armenien, Aser- baidschan und jüngstens Serbien und Montenegro am 3. April 2003 in den Europarat, dann sind die einzigen Staaten, die außerhalb des Rates bleiben, Monaco, das sich um den Eintritt in die Organisation bewirbt, und Weißrussland. Über die 50 Jahre seiner Existenz hat sich der Rat entwickelt, um die wichtigste europäische Integrationsinstitution im so- zialen und gesetzlichen Bereich mit besonderem Nachdruck auf Men- schenrechtsfragen zu werden. Mit Aufnahme der neuen Mitglieder hat der Rat das Wesen einer politischen Organisation angenommen. Jetzt ist er ein Forum des nützlichen Dialogs, um enge Beziehungen zwischen Staaten zu herzustellen, Entwicklungsrichtungen zu nennen und eine demokratische Sicherheit auf dem Kontinent zu errichten.
Somit kommen wir auf meine persönliche Analogie zurück, der Europa- rat, die ältere Schwester der Europäischen Union ist eine Organisation der Ideen, während die jüngere Schwester eine pragmatische Organisa- tion ist. Nota bene, dies ist eine ganz polnische Analogie, da es in polni- schen Familien häufig vorkommt, dass die älteren Kinder als Lehrer, Forscher, Physiker arbeiten, während die jüngeren ihr eigenes Geschäft eröffnen, für große Unternehmen arbeiten, Makler werden... Signum temporis? Kann sein. Aber jetzt, wie niemals zuvor in der Geschichte scheint es, dass zwei Haltungen oder diese zwei Organisationen begin- nen, sich gegenseitig zu ergänzen und einander näher kommen. Die 3


Europäische Union hat entdeckt, dass Europa nicht nur Sozialwirtschaft und Angleichung des Lebensstandards ist, sondern auch Kultur, Traditi- on und Menschenrechte. Dies ist in der Gesinnung der Solidarität und Geschichte zu verstehen. Berücksichtigt man die gegenwärtige Erweite- rung der Europäischen Union ist die Frage, ob es jedoch wirtschaftliche Gründe, Erwerb von neuen Märkten, Rationalisierung von Waren und Verkehrsdiensten dahinter gibt? In Polen behandeln wir es auch als Akt der historischen Gerechtigkeit, als endgültige Beseitigung der politischen Ausrichtung nach dem Krieg und Rückkehr zu den kulturellen Anfängen. Also ist es keine rein wirtschaftliche Fusion, sondern auch die Vereini- gung in der Arbeitsgesinnung des Europarates.
Für Polen ist der Europarat eine besondere Organisation, da er die erste wichtige europäische Organisation ist, der wir nach dem Fall der Berliner Mauer beigetreten sind. Die Republik Polen ist seit dem 26. November 1991 Mitglied des Europarates. Dies half, die Folgen von vielen Jahren der Trennung auf dem Kontinent zu beseitigen und die europäische I- dentität unseres Landes zu stärken. Wir haben unsere Mitgliedschaftspflichten über die letzten 11 Jahre er- füllt, unser Rechtssystem europäischen Standards angepasst und zahl- reiche Abkommen mit dem Europarat unterzeichnet. Die Mitgliedschaft im Europarat ermöglicht den polnischen Bürgern, den Europäischen Ge- richtshof für Menschenrechte in Straßburg anzurufen. In politischer Hin- sicht geht die Bedeutung der Europäischen Konvention über Menschen- rechte aber über rein rechtliche Aspekte hinaus. Durch Unterwerfung unter die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschen- rechte hat Polen bewiesen, dass alle Anforderungen für Bewerberstaa- ten für die EU, die demokratisches System, Rechtsstaatlichkeit und Ein- haltung der Menschenrechte sind, voll erfüllt sind.
In den ersten Jahren unserer Mitgliedschaft im Europarat waren wir Be- günstigte von vielen Unterstützungsprogrammen des Europarates in Form von Meinungen von Fachleuten, Schulungskursen und Anhörun- gen. Jetzt ist Polen, ein demokratisches, politisch stabiles Land mit ei- nem vorbildlichen Verlauf von Umwandlungsprozessen, nicht als ‚kluger Schüler’ sondern als ein Land attraktiv, das neuen Mitgliedern des Euro- parates mit seiner Erfahrung dienen kann.
Die Hauptziele von Polens Mitgliedschaft im Europarat beinhalten 1. Polens Integration in die Europäische Union durch Anpassung unserer institutionellen und rechtlichen Strukturen an europäische Standards zu unterstützen und durch Ausführung von Bildungs- programmen ein ‚europäisches Bewusstsein’ zu entwickeln und 4


die internationale Zusammenarbeit zwischen nicht staatlichen und selbst verwalteten Organisationen zu erleichtern; 2. Aktivitäten für das demokratische Sicherheitssystem in ganz Eu- ropa durch das System der Konventionen, das heutige universelle Zivilisationsstandards und die Überwachungsvorrichtung für ihre Ausführung beschreibt; 3. Herausstellen der Errungenschaften unseres Landes bei den Umwandlungsprozessen, indem wir die Erfahrung mit anderen Staaten der Region teilen, politische Stabilität in unserem Teil von Europa.
Wie wir sehen können, sind die Ziele unserer Mitgliedschaft im Europa- rat den Zielen der Mitgliedschaft in der Europäischen Union einerseits und den Beitrittsbedingungen in die Europäische Union andererseits ähnlich, wobei die Bedingungen nicht nur wirtschaftlicher Art sind. Wir möchten an dieser Stelle die besondere Bedeutung der gegenwärtigen Erweiterung der Europäischen Union betonen. Dies ist ein riesiger Schritt hin zur realen Vereinigung von Europa mit einer dramatischen Spaltung durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs. Darum sind wir in Polen fest davon überzeugt und voller Hoffnung, dass das Ratifizie- rungsverfahren des Vertrags zur Erweiterung der Union sowohl auf Sei- ten der alten Mitglieder als auch der beitretenden Länder glatt vonstatten gehen wird, um die Europäische Union bald als ein funktionierendes Gremium mit 25 Mitgliedsstaaten zu sehen.
Durch seine spezielle und rechtliche Bedeutung wird der oben genannte Prozess die Realitäten unseres Kontinents zweifellos völlig ändern. Dies veranlasst uns, die Position und Rolle des Europarates in der neuen eu- ropäischen Architektur zu untersuchen. Zunächst möchte ich herausstel- len, wie schwierig es ist, die Position und Aufgabe des Europarates in der erweiterten Europäischen Union zu definieren. Zurzeit läuft dies auf fehlende bindende Entscheidungen bezüglich der Form und Art der Re- form der Europäischen Union hinaus. Der Abschluss der Arbeit der Kon- vention, der zwischenstaatlichen Regierungskonferenz und die Verab- schiedung eines konstitutionellen Vertragstextes der Europäischen Uni- on, wird eventuell Raum für konkrete und sachliche Diskussionen über wechselseitige Beziehungen zwischen dem Europarat und der Europäi- schen Union und der Reform des Europarates selbst zustande bringen. Diese Diskussion wird in Polen mit der allgemeinen Auffassung geführt, noch nicht vorbereitet zu sein, aber ich werde versuche, einige grundle- gende Annahmen des polnischen Standpunkts über die Position und Rolle des Europarates im Anschluss an die Erweiterung der Europäi- schen Union darzulegen. 5


Zunächst glaube ich, dass die Rolle des Europarates als Wegbereiter für die gesamteuropäische Gemeinschaft geschützt werden muss und Hauptziel bleiben sollte, den gesamten Kontinent damit abzudecken. Der Europarat sollte ein Ort des echten politischen Dialogs aller Staaten des Kontinents werden, um seine Satzungsvorschriften auszuführen, und eine Institution, die gemeinsame Normen und Verfahren erarbeitet, um die neuen Herausforderungen, denen sich die Länder Europas stel- len müssen, anzunehmen.
Zweitens muss der Europarat ein Gefühl der Isolierung seitens der Eu- ropäer beseitigen, die nach dem 1. Mai 2004 außerhalb der erweiterten Europäischen Union stehen werden. Für Polen sind hier die guten nach- barlichen Beziehungen mit Weißrussland, der Ukraine und Russland, einschließlich Kaliningrad, von großer Bedeutung. Hier sehen wir die Rolle des Europarates, zwischenmenschliche Kontakte zu fördern, Vor- urteile zu beseitigen und die grenzüberschreitende und überregionale Zusammenarbeit zu fördern. Lassen Sie mich in Erinnerung bringen, dass die Ostgrenze von Polen bald die Ostgrenze der Europäischen U- nion sein wird. Wir können den Eindruck nicht zulassen, dass dies eine Grenze ist, die Europa wieder einmal teilen wird. Hier sehe ich die Rolle des Europarates, die Mitgliedsländer der Europäischen Union und die nicht dazu gehörenden Länder zur Zusammenarbeit zu ermutigen.
Drittens möchte ich betonen, dass Polen dabei ein Vorbild für die Zu- sammenarbeit zwischen dem Europarat und der Europäischen Union ist, die einerseits ihre Einzigartigkeit, individuellen Eigenschaften und Inter- essensgebiete präsentieren und andererseits gemeinsame gesamteuro- päische Ziele implementieren. Ich bin überzeugt, dass die gleichzeitige Annäherung und das Herausstellen der individuellen Identität der beiden Organisationen eine anregende Plattform zur optimalen Festlegung von Zielen und ihrer tatsächlichen Ausführung bieten wird. Nachdem Polen eine statusrechtliche Stellung gegeben worden ist, be- deutet Polen für die Europäische Union auch, der Europäischen Kon- vention für Menschenrechte und Grundrechte beizutreten. Wir glauben, dass dieser Schritt das System zum Schutz der Bürgerrechte von Euro- pa stärken wird, derzeit arbeitende alternative Systeme zum Schutz der Menschenrechte vereinheitlichen werden, die sich nach der Europäi- schen Konvention richten und in der Europäischen Union bindend sind, eine Möglichkeit einführen wird, Institutionen der Union vor Anrufen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anzurufen, die Glaub- würdigkeit der Union gegenüber Drittstaaten auf dem Gebiet des Schut- zes von Menschenrechten zu stärken sowie die Kohärenz zwischen der Europäischen Konvention über Menschenrechte und dem Gesetz der Union zu verbessern. 6


Lassen Sie mich ein weiteres, aber wichtiges Detail erwähnen: die polni- sche Seite glaubt, dass das Europäische Gericht für Menschenrechte kein Organ über dem Europäischen Gerichtshof sein sollte, sondern vielmehr ein spezialisierter Gerichtshof, der externe Kontrolle im Bereich der EU Verpflichtungen ausübt, die von der Europäischen Konvention stammen.
Eine Frage von großem Gewicht ist, ob die Europäische Union ein Mit- glied des Europarates werden oder eine politische Rolle im Europarat spielen sollte. Meine Antwort ist: nein. Dafür ist es zu früh, es gibt zu viele unerledigte Fragen innerhalb der beiden Organisationen, zu viele getrennte Tätigkeitsbereiche. Diese Frage, auch wenn sie verlockend ist, ist reine Zukunftsforschung. Ein möglicher Zusammenschluss von Orga- nen des Europarates und der Europäischen Union kann nur in Betracht gezogen werden, wenn man die Auffassung hat, dass der Zielbereich der Erweiterung der Europäischen Union den Bereich des Europarates abdeckt. Unter den jetzigen politischen Umständen scheint eine solche Vision unrealistisch und erscheint außerdem in keinem offiziellen Doku- ment des Rates oder der Union.
Somit sollten und werden die ältere Schwester, der Europarat, und die jüngere, die Europäische Union, die ein kluger Schüler ist, für eine Weile unabhängig arbeiten. Ich hoffe, dass diese Arbeit helfen wird, die Ge- meinschaft von Europa zu verbessern, Europas Identität zu definieren, Grenzen verwischen und Schranken auf allen Ebenen abschaffen wird, dass die Sphäre von wahrer Freiheit, Demokratie und ziviler Initiative weitreichender sein wird. Lassen Sie uns nicht vergessen, dass auch wenn der Gegenstand unserer heutigen Untersuchung die beiden Orga- nisationen waren, die viel gemeinsam haben, sich aber immer noch un- terscheiden, ihr Arbeitsgebiet und unser wahres Interesse unverändert eines bleibt, und das ist unser gemeinsames Europa.“